Belletristik REZENSIONEN

An alle Menschen zwischen Himmel und Erde

Kasache
Irrweg der Zivilisation
Ein Gesang aus Kasachstan
Mit einem Vorwort von Tschingis Aitmatow
Aus dem Russischen von Friedrich Hitzer
Pendo Verlag, Zürich 1999, 255 S.

In Mittelasien ist nur der ein angesehener Mann, der mindestens zehntausend Verse auswendig hersagen kann. Im ersten Kapitel des Gesangs aus Kasachstan erzählt Schachanow, wie ein Dshigit - "behände und gewandt in vielem, kühn und trotzig wie ein Tiger" - bei dem Vater einer wunderbaren Tochter um deren Hand anhält. Der Vater prüft den Bewerber, in dem er ihn nach dem kirgisischen Heldenepos "Manas" befragt: Kennt er "Manas", ist er vertraut mit ihm? / Kann er uns daraus etwas rezitieren?- / In der Jurte herrscht nun Totenstille. / Der Dshigit - o welche Schande! / Schlägt die Tigeraugen nieder. / Nie und nimmer! / ruft der Vater aus / Wirst du meine Tochter kriegen /.

Das vorliegende Epos hat dreitausend Verse, auch die kennen einige junge Kasachen bereits auswendig, weiß Schachanow. In seiner "Sage über die Sitten der Epoche" (wie der Untertitel in wörtlicher Übersetzung heißt) hat Schachanow eine Geschichte in Versen (nach orientalischer Manier) geschrieben, in der sich Stoff und Handlung über einige Jahrhunderte erstrecken. Hier wird Poetisches und Philosophisches, Historisches und Sozialpolitisches geschildert, samt solcher Geschehnisse, die der Autor selbst durchlitten hat. Neben ganz Intimem wie Liebe, Eifersucht, Ehe, Freundschaft, Einsamkeit steht Globales wie Umweltschutz, ganz Gegenwärtiges wie Marktwirtschaft, Reklame, Drogen, Massenkult, Musik(un)kultur... Ein ganzes Verse-Kapitel ist der blutigen Niederschlagung einer demokratischen Bewegung der Jugend 1986 gegen den sowjetischen Totalitarismus durch den KGB  im kasachischen Alma-Ata gewidmet. Nach einem geheimen KGB-Plan mit dem Code-Wort "Metjel" ("Schneesturm"), sollten Demonstranten durch Sondereinheiten diskreditiert werden. Die Provokateure des KGB wurden als Schläger, Steinewerfer und Drogensüchtige in die Reihen der friedlichen Demonstranten eingeschleust - Verletzte und Tote unter den Demonstranten waren von vornherein eingeplant: Ohne Richter und Ermittler, / Ohne jede Untersuchung / Durch den Staatsanwalt, / wurden alle Demonstranten / In Gefängnisse geworfen. / Wer dort keinen Platz fand, / Wurde runde fünfzig Kilometer / Von der Stadt entfernt und / Unter freiem Himmel, / bei zwanzig Graden minus, / Ohne Kleidung, ohne Schuhwerk, / Verprügelt und verhöhnt / In Schnee und Eis zurückgelassen /.

Ich arbeitete ein Jahr später, 1987, vier Wochen lang in Kasachstans Hauptstadt Alma-Ata bei der deutschsprachigen Zeitung "Freundschaft". Erst da erfuhr ich von meinen kasachischen und russlanddeutschen  Berufskollegen was hier geschehen war - allerdings hinter vorgehaltener Hand. 1987! Und ich hatte in der DDR geglaubt, die Perestroika sei im weiten Sowjetland schon voll im Gange...

Muchtar Schachanow, geboren 1942, ist der berühmteste Lyriker Kasachstans und einer der bedeutendsten Schriftsteller Mittelasiens: Er ist Autor von mehr als dreißig Büchern, die in fünfundzwanzig Sprachen übersetzt sind. Schachanow ist auch eine politische und moralische Autorität, er wurde für sein humanitäres Engagement mehrfach ausgezeichnet. Gemeinsam mit anderen Intellektuellen hat er die Vereinigung AKNAZAS - Versammlung der Kulturen der Völker Mittelasiens - gegründet; für seine Initiative zur Rettung des Aralsees wurde er mit dem UNO-Preis für Umweltschutz geehrt; eine Auszeichnung der UNESCO nennt ihn "Mann der Barmherzigkeit". Schachanow erhielt auch viele literarische Preise und ist Mitglied verschiedener Akademien. Seit 1993 lebt er als Außerordentlicher Botschafter der Republik Kasachstan in Kyrgysstan. Der weltberühmte kyrgysische Autor Tschingis Aitmatow meint über das große Poem Irrweg der Zivilisation: "Ich sage es ganz offen, daß ich Derartiges in der modernen Dichtkunst noch nicht zu lesen bekam..." Die Verserzählung Muchtar Schachanows ist ein Werk der orientalischen Poesie, das über die Zeiten hinwegführt und uns zum Schluss in die Gegenwart zurückholt. Ihr Hauptmotiv ist eine Warnung vor den Folgen der Zivilisation, die mit dem Verlust von Werten und Moral einhergeht.

Bei diesem "epochalen Poem" (Jewgeni Jewtuschenko) muss man genau hinhören, muss den Warnungen, den An- und Einsichten des Dichters intensiv lauschen - denn Verse überlesen sich schnell: Habt Ihr darüber nachgedacht, / Warum das mächtige Khanat / Der alten Türken / Vom Aralsee bis zum Gelben Meer / Zerbrach und dann zerfiel? / Der erste Grund, wer will ihn leugnen, / Ergab sich daraus: / Das große Reich / Vermochte seinem Feind / ein Riesenheer entgegenstellen, / Doch nicht die große, eigene Kultur. / Dieser schicksalhafte Makel / Haftet auch der Ordnung / Eures Staates an. / Den ersten Platz im Land / Habt ihr den Händlern überlassen, / Ihnen ist des Volkes Schicksal anvertraut. / Doch Handelsleute haben häufig kein Gesicht, / Sie kennen keine eigene Nation, / Keine Heiligtümer, die beständig sind, / Überlassen alles jedem Krämer, / Der das meiste bietet. / Ein Land das sich versagt / Die eigene Macht des Geistes / Wird mit der Zeit ganz unwillkürlich / In die Sklaverei von Stärkeren geraten. / Ohne eigenen Geist / Gleicht die Nation dem Huhn, / Das nie zu einem Höhenflug imstand ist. / Doch die Zeit ist gnadenlos / Zornig hält sie / ihren fürchterlichen Schlägel / Über eurem Haupt, / Habt acht und hütet euch! /

Irrweg der Zivilisation, mit seiner bilderreichen Sprache und den phantasievollen Gedanken, wurde übersetzt von Friedrich Hitzer: "Ich bemühte mich um einen sinnfälligen Klang, um rhythmische Wechselschläge, um Kadenzen, Takte und Betonungen, um Alliterationen und Assoziationen auf dem sprachlichen Ufer der Deutschsprechenden." Schön, dass Hitzer, dem wir in Deutsch schon die Entdeckung des Uiguren Lekim Ibragim verdanken, nun auch die ungeheure Gedankenvielfalt Muchtar Schachanows dem deutschen Leser erschlossen hat.

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de 

    * Der Übersetzer Friedrich Hitzer starb am 15. März 2007. 

 

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Am 15.02.2003 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 26.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Besser, du fragst einen jungen Burschen, der die
Welt gesehen, als einen Alten, der nur auf der faulen Haut lag.
Sprichwort der Kasachen

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