Sachbuch REZENSIONEN

Bildfälschungen unter Stalin

Engländer; über Stalins Fotoretuschen
Stalins Retuschen
Foto- und Kunstmanipulationen in der Sowjetunion
Mit etwa 150 großformatigen Fotografien und Dokumenten
Hamburger Edition, Hamburg 1997, 192 Seiten

1970, siebzehn Jahre nach Stalins Tod, bat David King in Moskauer Archiven um Fotos von Trotzki. Warum er nach Trotzki verlange, wurde er gefragt, Trotzki sei nicht wichtig für die Revolution. Stalin sei es! "In den dunkelgrünen Metallkästen, die Porträtaufnahmen von Personen mit dem Anfangsbuchstaben T enthielten, befanden sich Hunderte Fotos berühmter Russen - Tolstoi, Turgenjew usw. - aber kein Trotzki." Bei wem in den dreißiger Jahren privat ein Foto von Trotzki gefunden wurde, lief Gefahr verhaftet und erschossen zu werden. Damals beschloss der ehemalige Kunstredakteur der "London Sunday Times" und heutige Journalist und Schriftsteller David King - in London lebend -, seine Sammlung russischer historischer Fotos zu beginnen. Über drei Jahrzehnte später - damals hatte King für eine Trotzki-Biographie recherchiert - ist sie so umfangreich, dass sie jeden wichtigen Aspekt der sowjetischen Geschichte im Bild dokumentiert, "mit besonderer Berücksichtigung der Alternativen zum Stalinismus". Woher hat King dieses zum Teil hochbrisante Material? "Ursprünglich aus der Sowjetunion selbst. Die weltweite Verbreitung von Fotografien und Druckschriften war in den zwanziger und dreißiger Jahren ein wesentliches Anliegen der sowjetischen Propaganda. Große Mengen Dokumente gelangten damals in den Westen, wo sie noch heute zu finden sind. Nach Gorbatschows Lockerung der Ausreisebeschränkungen für Russen in den achtziger Jahren wurde eine Vielzahl Bücher, Fotos und anderer Dokumente, die jahrelang versteckt gewesen waren, aus dem Land gebracht."

Das Buch Stalins Retuschen stellt die Geschichte der Sowjetära anhand retuschierter Fotografien dar. Die Aufnahmen sind chronologisch nach ihrem Entstehungsdatum angeordnet, nicht nach dem Zeitpunkt, zu dem sie "korrigiert" wurden. Die manipulierten Versionen finden sich im allgemeinen neben den Originalen oder auf den folgenden Seiten. Außerdem wurde eine Anzahl unverfälschter Schlüsselfotos (z. B. auch das Foto, welches sich auf dem Schutzumschlag der Stalin-Biographie von Simon Sebag Montefiore befindet) und Schlüsseldokumente eingefügt, um entscheidende Momente der Entwicklung zu beleuchten, etwa Gemälde, Graphiken und andere Beispiele stalinistischer Heldenverehrung. "Nur die interessantesten und verschiedenartigsten Bilder nach politischen, kulturellen und selbstverständlich optischen Gesichtspunkten sind hier reproduziert", schreibt David King in seiner Einleitung.

Fotoretuschen für Veröffentlichungen in Büchern, Zeitschriften und Zeitungen praktizierte man in Russland schon 1917, sie begannen aber in großem Ausmaß erst 1936, im Gefolge der Terrorwelle, die mit der Ermordung des Leningrader Parteichefs Sergej Kirow einsetzte. Die geflüsterte Weisung an einen Verleger oder der diskrete Anruf einer "höheren Stelle" genügten, um jeden Hinweis - in Wort oder Bild - auf eine nicht mehr genehme Person zu unterbinden, "wie berühmt sie oder er auch immer gewesen sein mochte".

Wenn man das großformatige Buch (gedruckt auf Kunstdruckpapier) aufmerksam durcharbeitet, kommt man aus dem Kopfschütteln nicht heraus. Eben war er oder sie noch da, zum Beispiel Leo Trotzki oder der Sohn Maxim Gorkis oder Nikolai Bucharin... und schon ist er oder sie auf dem folgenden Foto verschwunden. "Vor der Ära der Computertechnologie hingen geschickte Fotoretuschen vom Können des Ausführenden ab. Manchmal blieb bei genauem Hinsehen noch ein rätselhafter Ellenbogen (S. 49 ) oder ein berocktes Knie des "Ausgelöschten" (S. 21) übrig. "Sie bringen einen Namen zum Verschwinden / Ganz unauffällig und wie aus Versehn. / Bald kannst du nirgendwo dich wiederfinden, / Und ratlos fragst du dich: Was ist geschehn?" So beschrieb der Dichter Johannes R. Becher* (1891-1958) in seinem Gedicht "Motiv aus vergangenen Zeiten" die traumatische Erfahrung der Großen Säuberungen, die er als Exilant in der Sowjetunion miterlebte. Doch nicht immer wurde nur "ausgelöscht", oftmals wurde auch näher zusammengerückt, wenn man die innige Nähe z. B. zwischen Lenin und Stalin dokumentieren wollte.

Es ist ungeheuer spannend, Stalins Retuschen zu betrachten und die dazugehörigen faktenreichen Texte zu lesen. Nehmen wir das Foto "Stalin und die Massen" von 1930 (S. 14). Stalins Gestalt ist eine offensichtliche (beabsichtigte) Fotomontage auf ein Massenbild. Bei genauer Betrachtung bemerkt man aber dreimal dieselbe Gruppe in der Menge. Oder: Das Foto einer Schachpartie auf Capri, 1908 (S. 18/19). Um die Spieler Lenin und Alexandr Bogdanow stehen  Zuschauer, u. a. Maxim Gorki. Auf Foto zwei sind zwei Personen verschwunden: Wladimir Basarow, der 1937 erschossen wurde und Sinowi Peschkow, der nach Frankreich emigrierte. Ein Glück für den Retuscheur, wenn, wie in diesem Falle, eine Person am Bildrand steht und die andere zwischen zwei anderen Personen hervorlugt. So manches Mal jedoch mussten Bäume nachgemalt werden oder Häuser oder Säulen... Auf Bild (S. 66/67) ist es ein Treppenpodest. Und da gähnen dann leere Treppenstufen, wo eben noch Trotzki und Kamenew** (beide enge Mitarbeiter Lenins) zu sehen waren - als Lenin vor Soldaten sprach, die am 5. Mai 1920 bereit waren zum Abmarsch an die polnische Front (siehe auch Babel, "Tagebuch 1920").

Bekannt ist, dass Stalin Massenansammlungen, aus Angst vor Anschlägen - tunlichst aus dem Weg ging. Und so wurde er auf Fotos mit vielen Menschen oft einfach dazugetan - z. B. bei dem großartigen Empfang, den die Bolschewiki Lenin bei seiner Rückkehr nach Russland in der Nacht des 16. April 1917 bereitete (Gemälde auf S. 28/29). Stalin, der bei diesem Anlass überhaupt nicht zugegen war, klettert hinter der geöffneten Zugtür mit Lenin aus dem Zug... Wurden zu Beginn der Fälschungsära nur Stalins Pockennarben wegretuschiert, so ließ man z. B. auf dem Foto "Tschapajew mit Kommandeuren und Kommissaren" vom Juni 1919 (S. 52/53) von 41 Männern nur 30 übrig; vier eleminierte Offiziere wurden auf diesem Bild einfach durch andere Personen ersetzt. Gespenstisch wirken die Bilder aus dem Bildband "Zehn Jahre Usbekistan" aus dem Besitz des Photographen Alexandr Rodtschenko***. Seite für Seite hatte dieser mit schwarzer Tusche die von ihm porträtierten Köpfe führender Parteifunktionäre übermalt, die mittlerweile in Ungnade gefallen waren.

David King zeigt in seinem geschickt zusammengestellten, einzigartigen Buch, dass viele Fotografien unter Stalins Regime, das die Sowjetunion von 1929 bis 1953 beherrschte, Lügen waren. King stellt nicht nur die Behauptung auf, sondern er beweist jede einzelne Lüge jeweils durch eine Gegenüberstellung des Originalfotos  mit dem manipulierten Bild. Hier ging es, schreibt Stephen F. Cohen (New York) im Vorwort, um die bewusste Verfälschung von Geschichte. "Ab Mitte der dreißiger Jahre konnte man in der Sowjetunion fast nichts von Bedeutung veröffentlichen, zeigen oder öffentlich äußern, ohne Stalins Staatsführung in jeder Hinsicht zu rühmen, einschließlich ihrer drei markantesten Perioden, deren jede Millionen unschuldiger Menschen das Leben kostete: sein gnadenloser `Kollektivierungskrieg´ gegen die Bauernschaft 1929 bis 1933, sein mörderischer Polizeiterror gegen kommunistische Funktionäre und gewöhnliche Bürger, der in den späten dreißiger Jahren seinen Höhepunkt erreichte, aber bis zu seinem Tod 1953 andauerte, und seine katastrophale Politik und Kriegführung vor und nach der deutschen Invasion 1941."

Angesichts der fünf Jahrzehnte offizieller Verfälschung und sorgfältigen Verbergens stellt David Kings Buch eine bewundernswerte Leistung dar - "das Ergebnis einer dreißigjährigen Einmannjagd rund um die Welt auf nichtretuschierte sowjetische Fotografien". Einen Tropfen Öl muss ich allerdings ins Feuer gießen: Stalin starb nicht am 6. März (S. 178) , sondern am 5. März 1953. Wo so ein dummer Fehler vorkommt, sind vielleicht auch andere Fehler nicht weit?

Ein Teil der David King-Collection war übrigens im Herbst 2003 im Schloss Hardenberg (bei Berlin) in der Ausstellung "Genosse Gott - Stalin" zu sehen.

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

      * Johannes R. Becher lebte seit 1945 in der DDR und war dort seit 1954 Minister für Kultur.

   ** Lew Borissowitsch Kamenjew (eigentlich L. B. Rosenfeld -1883 bis1936), 1917-1926 Mitglied des Zentralkomitees, bildete mit Sinowjew und Trotzki die "Vereinigte Opposition" gegen Stalin.

  *** Rodtschenko war einer der hervorragenden Vertreter der russischen Kunst, Graphik und Fotografie, von der Avantgardeperiode zur Zeit der Revolution bis in die späten dreißiger Jahre. Er heiratete die Malerin und Graphikerin Warwara Stepanowa. In den zwanziger Jahren diente ihr Atelier als Redaktionsbüro für das Magazin "Lef", eine Kunstzeitschrift, die der revolutionäre Dichter Wladimir Majakowski herausgab.

 

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Am 06.12.2005 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 12.01.2017.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

  
Bösartige Karikatur -
Boris Efimows von Rykow, Sokolnikow,
Bucharin, Radek und Trotzki, die sich in einem Trog wälzen; sie erschien zur Zeit des dritten  Schauprozesses 1938.

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