| Aus dem Russischen übersetzt von Kristiane Lichtenfeld Mit dem kasachischen Original verglichen und geringfügig ergänzt von Adilbek Alshanow
 Önel Verlag, Köln 2006
 
        
          Abisch Kekilbajews Das Minarett erscheint nach Abdishamil Nurpeissows 
          "Der sterbende See"           
          als zweites Werk innerhalb der "Kasachischen 
          Bibliothek" - ein Kooperationsprojekt zwischen der Botschaft der 
          Republik Kasachstan 
          in der Bundesrepublik Deutschland mit deutschen Verlagsunternehmen, von 
          Leonhard Kossuth (zu DDR-Zeiten  
          im Verlag Volk und Welt verantwortlich für die Herausgabe von 
          Literatur aus der multinationalen Sowjetunion) initiiert. Die "Kasachische Bibliothek" 
          soll Neuauflagen der Bücher kasachischer Schriftsteller beinhalten, 
          geplant sind Werke von Muchtar Auesow, Olshas Sülejmenow, Oralhan 
          Bökejew, Moris Simaschko, Herold Berger u. a.
          
 Das Minarett ist ein historischer Roman, sein Held ein nicht 
          namentlich genannter  Herrscher aus nicht angegebener Zeit. Der 
          Verlagstext nennt den Herrscher Timurlenk, der den Schöpfer der Bibihanum-Moschee in Samarkand  aus Ruhmessucht 
          töten ließ. Nach dieser 
          Legende, so der Text des Verlages, habe Abisch Kekilbajew "ein 
          erregendes geistiges Duell zwischen Künstler und Despot" geschaffen.
 
 Der Künstler ist der schwarzäugige Shappar aus Or-töbe, der 
          von seinem Vater das Töpferhandwerk erlernte. Wie stolz ist er, der 
          erstgeborene, vom Vater über alles geliebte Sohn, wenn er einem 
          Mädchen begegnet, das Wasser holt in einem seiner Krüge... Doch eines 
          Tages nimmt ihn der Vater mit in die große, fremde (nicht benannte) 
          Stadt, wo die beiden Töpfermeister bald schon zu den Bauleuten der 
          neuen Moschee gehören. Der Vater stirbt bald, der Sohn wird 
          im Laufe der Jahre ein anerkannter Baumeister, der zum Schöpfer eines 
          Minaretts bestimmt wird, das die Jung-Khanin in Auftrag gibt. Dieses 
          neue Minarett soll ihren geliebten Gemahl (der elf Gemahlinnen hat...) schon von 
          weitem begrüßen, wenn er von seinem wiederum erfolgreichen Feldzug 
          zurückkehrt. Von Unruhe erfüllt, ob das Minarett hoch und schön genug 
          sein würde, besteigt die siebzehnjährige Khanin eines Tages 
          den noch im Bau befindlichen Turm. Von da an ist es um den jungen 
          Baumeister geschehen, dessen Herz "mit nie gekannter Wonne" 
          erfüllt wird. Von tiefer Liebe ergriffen, strebt Shappar (dessen Name im 
          Kasachischen "Schöpfer" bedeutet) nicht mehr nur in die Höhe, sondern 
          auch danach, das Minarett so zu verkleiden und herzurichten, dass es 
          eines jeden Auge entzückt. "Es kam darauf an, daß seine 
          Schönheit nicht schlechthin Begeisterung und Bewunderung auslöste, 
          nicht nur das Auge erfreute, sondern daß etwas Geheimnisvolles daran 
          den Beschauer betroffen machte, ihn mit seiner Bedeutungsschwere und 
          seiner Rätselhaftigkeit erregte."
 
 Der Despot, "der Allmächtige, vor dem alles Lebendige 
          zitterte", hatte, aus ärmlichen Verhältnissen stammend, nicht wenige 
          Erniedrigungen erfahren. Heute, da er viele Länder und riesige 
          Landstriche erobert hat und in gold verzierter Kutsche fährt, sind die 
          vergangenen Erniedrigungen ausgelöscht. Doch fürchtet der gealterte 
          Herrscher auf vielen Seiten des Romans, daß das Heutige einst 
          vergessen werden könnte, weshalb er auf immer neue Legendenbildung 
          um seine Person sinnt. "Den Untergang des Schwachen hat das Heute schon besiegelt; die 
          Abrechnung mit dem Mittelmäßigen hat das Morgen bereit; und nur ein 
          Starker, ein nichts und niemand Anerkennender ist unsterblich wie die 
          Ewigkeit." Vieles beim despotischen Herrscher Kekilbajews lässt 
          an Timurlenk denken, der um 1336 geboren wurde und 1405 starb. Wie der 
          Herrscher im Minarett hat Timurlenk sich in vielen grausamen 
          Eroberungszügen viele Länder untertan gemacht, rüstet er seinen 
          letzten Feldzug zur Eroberung Chinas aus, stirbt bald nach Beginn des 
          Eroberungszugs. Da der Herrscher im Buch  niemals namentlich 
          genannt wird, müssen wir ihn uns als fiktiven Herrscher vorstellen, 
          vom Buchautor geschaffen, um sich mit den Mechanismen der Macht und 
          der Rolle des Volkes auseinanderzusetzen. Sigrid Kleinmichel schreibt im Nachwort zur Volk 
          und Welt-Ausgabe: "Der Herrscher begreift die Gefahr, die die 
          Volksmenge für ihn bildet. Sie ist ihm nur im Krieg untertan. 
          Gemeinsamkeit im Krieg ist möglich, im Frieden kaum. (...) Seine Größe 
          existiert nur, solange sie der Menge als unantastbar suggeriert 
          wird." Und somit ist der Herrscher stets intensiv mit der Sicherung seiner 
          Herrschaft und seines Nachruhms beschäftigt. Im Minarett geht es oft 
          (wie auch in Galsan Tschinags
          "Die 
          neun Träume des Dschingis Khan") um die 
          Schattenseiten der Macht zum Beispiel um die Einsamkeit des 
          Mächtigen, weil Misstrauen all und jedem gegenüber - sogar gegenüber 
          den leiblichen Söhnen - das Herrscherleben bestimmt. "Und was anderes 
          war ihm denn geblieben als die fruchtlosen Grübeleien, mit denen er 
          sich abgab, nur um nicht wahnsinnig zu werden vor unerträglicher 
          Einsamkeit... (...) Das von den andern abgesonderte Leben war ihm 
          längst eine Last. Immer und überall allein, das quälte wie ein Dorn im Auge." Nach 
          seiner Rückkehr aus dem Felde läßt die eifersüchtige Alt-Khanin ihm 
          einen wurmstichigen Apfel servieren, womit sie ihm den 
          Eifersuchtsstachel ins Herz bohrt. Nach langen Grübeleien entflammt in seinem Herzen Misstrauen 
          gegenüber dem Minarett, macht ihm das Geheimnisvolle, seine 
          Bedeutungsschwere und  seine Rätselhaftigkeit zu 
          schaffen, argwöhnt er eine Liebesbeziehung zwischen dem kunstfertigen 
          Baumeister und der schönen Jung-Khanin. Als Shappar in den Khanspalast 
          bestellt wird, "und als der finstere, fahlgesichtige Alte, der dort 
          wie ein geplusterter Aasgeier einsam und allein neben dem Marmorbassin 
          inmitten des düsteren und kühlen Palastes thronte, seine stechenden 
          Augen auf ihn richtete, vermochte der junge Baumeister nichts zu 
          verbergen..." - "Wo hatte man das schon gehört oder gesehen, daß ein 
          niedriger Knecht und namenloser Bettler, gemeiner Pöbel also, sich 
          auch nur in Gedanken erlaubt hätte, den weißen Körper der unschuldigen 
          Gemahlin des Gebieters über die Erde zu begehren?" Shappar erwartet 
          ein unvorstellbar-furchtbares Schicksal...
 
 Kekilbajews Das Minarett heißt im kasachischen Original und 
          in der russischen Übersetzung "Das Ende einer Legende". Welche Legende 
          wird in diesem historischen Roman als beendet betrachtet? "Der Roman", 
          so Sigrid Kleinmichel, "meint das Ende des ungeheuren 
          Tyrannenanspruchs, auch noch die Gedanken der Menschen in der Zukunft 
          beherrschen zu können."
 
 Im Laufe der Lektüre begreift man, warum Kekilbajews Tyrann 
          namenlos ist. So kann sich jeder Leser einen anderen Despoten 
          vorstellen! Man vergegenwärtige sich, dass Das Minarett bereits 
          Ende der siebziger Jahre geschrieben worden war - während der 
          Sowjetära.
 
 Die hohe Poesie des Ostens bestimme die Sprache des Romans, 
          schreibt der Verlag, sie mache die Lektüre zum Genuss. Abisch 
          Kekilbajew, der  Philosophie studiert hat, formuliert so 
          wunderbare aphoristische Sätze wie: "Denn ebenso wie der 
          Frühlingssturm nach tagelangem Getöse mit einemmal, seine Kraft 
          einbüßend, von selbst zur Ruhe findet, ist alles, was der Mensch 
          gemeinhin Leben nennt, alle Leidenschaft und alle Hast, morgen schon 
          gnadenlos weggewischt und liegt unter dem Flugsand vergraben, der da 
          Zeit heißt." Oder: "Das Alter ist schlimmer als jeder Feind. Kein 
          Kriegsheer kann es bezwingen. Der Säbel trifft es nicht, mit keinem 
          Gold kannst du dich von ihm loskaufen, mit keiner List ihm 
          zuvorkommen. Es umzingelt dich unmerklich wie dein Erzfeind, doch es 
          stürmt nicht plötzlich gegen dich los, sondern es zehrt und höhlt dich 
          langsam aus, zermürbt die Kräfte und die Zuversicht, flößt heimlich 
          Angst ein." Der Übersetzerin Kristiane Lichtenfeld ist es gelungen, 
          diese "hohe Poesie des Ostens" auf die deutsche Sprache zu übertragen, 
          was sicherlich nicht einfach war. Da auch schon beim "Sterbenden See" 
          die aphorismen-reiche Sprache ins Auge sticht, könnte ich 
          mir - vielleicht nach jeweils fünf Werken - ein bibliophiles 
          Aphorismen-Bändchen als  jeweils krönenden Höhepunkt innerhalb 
          der "Kasachischen Bibliothek" vorstellen. Es sei aber auch gesagt, 
          dass es für uns action-gewohnte Leser nicht ganz einfach ist, sich auf 
          die oft seitenlangen philosophischen Überlegungen, Grübeleien, 
          Sentenzen des Herrschers einzulassen. Das Minarett sollte man nicht 
          verschlingen wollen, sondern man sollte sich genüsslich auf die 
          Lektüre einstellen, sich Zeit lassen, mitdenken, nachdenken... Wie 
          wahr, wenn Kekilbajew schreibt: "Wenn du einem die Nase blutig haust, 
          gibt es Gezeter, und man urteilt dich ab; wenn du dagegen das halbe 
          Weltall im Blut ersäufst, begeisterst du die Leute, die dann voller 
          Schauder und Ehrfurcht von dir sprechen. Keiner verflucht dich: `Was 
          hast du da angestellt´, sondern sie werden begeistert fragen: `Wie 
          hast du das geschafft´"?
 
 Man fragt sich, warum  im historischen Roman Kikelbajews die alte 
          Rechtschreibung (von 1981) verwendet wird? Hätte man die Schreibweise nicht 
          den  aktuellen Dudenregeln anpassen sollen? - Ganz wird man dem 
          Druckfehlerteufel nicht den Garaus machen. Aber vierzig Druckfehler 
          (mindestens) sind denn doch zuviel. - "Der sterbende See", Werk eins der "Kasachischen 
          Bibliothek", wird abgerundet durch ein kenntnisreiches Nachwort (von 
          Mario Pschera) und ist mit fundierten Anmerkungen versehen. Leider hat 
          man beides in der Neuauflage vom Minarett eingespart. Bei den nachfolgenden 
          Bänden der "Kasachischen Bibliothek" sollten Nachwort und 
          Anmerkungen ein fester Bestandteil sein und sollte unbedingt auch 
          die Gelegenheit genutzt werden, den Leser "an die Hand zu nehmen" und 
          ihm Kasachstan nahe zu bringen - das 
          neuntgrößte Land der Erde im Herzen des eurasischen Kontinents, ein 
          Zentrum uralter Zivilisation. - Geradezu merkwürdig mutet an, dass der Önel-Verlag den 
          Klappentext der Ausgabe von 1981 vom 
          DDR-Verlag Volk 
          und Welt wortwörtlich übernommen hat. Dieser Text ist mehr als ein 
          viertel Jahrhundert alt. Hätten sich nach den ungeheuren 
          gesellschaftlichen Veränderungen in der ehemaligen Sowjetunion nicht 
          zusätzliche, gar andere Interpretationen angeboten? Und gänzlich 
          deplaciert ist in der kurzen Bibliographie zum Autor die Angabe, dass 
          Abisch Kekilbajew (vor mehr als zwanzig Jahren) Instrukteur des 
          Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Kasachstans war, ebenfalls 
          wörtlich übernommen aus der DDR-Ausgabe von 1981.
 
 Zur Präsentation seiner Neuauflage kam der kasachische Prosaist Abisch Kekilbajew mit seiner 
          Gattin nach Deutschland. In Berlin las er - in Anwesenheit der 
          Kasachischen Botschaft, des Initiators der "Kasachischen Bibliothek", 
          der Übersetzerin, des Önel-Verlages und einem Saal voller Gäste - in 
          den Räumen der "Hellen Panke". Als ich Kekilbajew bitte, mir die 
          Neuauflage und seine in der DDR erschienenen Bücher zu signieren, 
          schaut er mich freudig-überrascht an. Ja, ich besaß (und las) seine 
          Bücher schon vor mehr als zwei Jahrzehnten: "Das Minarett" (1981), 
          "Der Steppenbrunnen" (1982), "Märzschnee" (1987) und die in  
          Anthologien erschienenen Novellen bzw. Erzählungen "Ballade 
          vergessener Zeiten", "Ballade vom Chatyn-Gol" und "Der Brunnen"...
 
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