Belletristik REZENSIONEN

    Das Wort stirbt, wenn man es nicht mit anderen teilt

    Kyrgyse / Japaner, auch über Russland
    Begegnung am Fudschijama
    Ein Dialog
    Aus dem Russischen von Friedrich Hitzer
    Unionsverlag, Zürich 1994, 3. Auflage,  393 S.

    Der Titel suggeriert, dass sich der Kyrgyse Aitmatow und der Japaner Ikeda am Fudschijama mal eben so begegneten und dann losplauderten - über Gott und die Welt. Aber in einer editorischen Notiz am Schluss des Buches wird uns kund, dass sich die beiden großen Geister in keiner für beide verständlichen Sprache unterhalten können. Was Aitmatow schrieb, wurde ins Japanische, und was Ikeda schrieb, ins Russische übersetzt.

    "In meiner Jugend", erzählt Aitmatow*, "habe ich mich oft über die alten Kirgisen im Ail  gewundert, die sich beklagten, daß sie niemand hätten, dem sie ihr Herz ausschütten könnten. Jetzt kann ich sie verstehen: die Sehnsucht nach dem richtigen Gesprächspartner. Früher oder später mußte ich den Menschen finden, nach dem ich mich insgeheim sehnte, in dem ich mich selbst klarer und genauer erkennen könnte." Vor einigen Jahren war der weltberühmte kyrgysische Schriftsteller Tschingis Aitmatow nach Japan gereist. An der Universität von Soka Gakkai in Tokio begegnete er Daisaku Ikeda zum ersten Mal und entdeckte in ihm, meilenweit entfernt von seiner Heimat, den Menschen, der ihm der ersehnte Gesprächspartner wurde. Daisaku Ikeda, Philosoph, Theologe und Schriftsteller, gehört zu den einflussreichsten Persönlichkeiten Japans. Er ist seit 1960 Stiftungsvorstand der internationalen Vereinigung "Soka Gakkai", die 1937 zur Erneuerung des Buddhismus gegründet wurde und heute in einhundertfünfzehn Ländern wirkt. Ihm, das fühlte Tschingis Aitmatow, konnte er Bilanz über sein Leben und Werk ablegen. Der sonst eher wortkarge und verschlossene Dichter erzählt in diesem Buch offen und leidenschaftlich, denn "das Wort stirbt, wenn wir es nicht mit anderen teilen".

    Über Persönliches hinaus sprechen der Kyrgyse und der Japaner - beide Jahrgang 1928 - nahezu über alle Lebensbereiche: über Geburt, Alter, Krankheit und Tod, über Liebe und Freundschaft, über Religion, die Jugend, die Liebe zur Heimat, über die Kraft der Selbsterkenntnis, die Zerstörung der Umwelt, über Krieg und Frieden, über die Wechselbeziehungen von Literatur und Politik und auch darüber, ob ein Stein Schmerz empfinden kann... Was hier an Gedanken, Erfahrungen, Hoffnungen und Ängsten geäußert wird, verbindet sich bei Aitmatow immer auch mit persönlichen Erinnerungen. Beide Gesprächspartner mahnen und denken über Auswege nach und wenden sich an "alle Menschen, die der Feindschaft, der Leiden und des Blutvergießens müde sind".

    Aber: Kein Dialog, wie im Untertitel versprochen, kein Zwiegespräch mit Wider- und Wechselrede, sondern ein Briefwechsel mit teils längeren wörtlich wiedergegebenen Absätzen zitierter Personen (wie sie in einem mündlichen Gespräch nicht möglich wären, es sei denn man hätte alle Zitate, die angeblich spontan geäußert werden, vorbereitet griffbereit). An einigen Stellen wird versucht (vom Übersetzer?) den Anschein eines Dialogs zu erwecken, wenn zum Beispiel Aitmatow Ikeda ins Wort fällt, als dieser über Natascha Rostowa spricht, die Heldin in Tolstojs "Krieg und Frieden". Überhaupt hat wohl der Übersetzer Friedrich Hitzer**seine ordnenden Hände im Spiel, wenn es in der editorischen Notiz heißt, dass die deutsche Fassung den Dialog (der keiner ist) in systematisierter, konzentrierter Form wiedergibt.

    Im Altertum war der Dialog eine selbständige literarische Form, die als Mittel der philosophischen Belehrung entwickelt und von den Sophisten (Sokrates, Platon, Cicero, Seneca...) verwandt wurde, um theoretische Erörterungen zu führen. Seit dem 19. Jahrhundert erhielt der Dialog mehr und mehr essayistische Züge und wurde schließlich fast ganz vom Essay abgelöst. Erfreulich, dass die über Jahrhunderte bewährte Form des Dialogs von Aitmatow und Ikeda (wenigstens schriftlich) wieder aufgenommen wurde.

    Am Schluss des Buches steht jeweils ein Brief Aitmatows und Ikedas. Aitmatow schildert dem "lieben Freund" in seinem Schreiben die erschütternde Tatsache, dass 1991 in Kyrgysstan ein Massengrab mit Stalinopfern entdeckt worden ist. Einer der Erschossenen ist Aitmatows Vater Torekul Aitmatow, sein papierenes Todesurteil hatte in diesem Grab ein halbes Jahrhundert fast unbeschadet überdauert. Ich wundere mich, dass Aitmatow in seinem später erschienenen Buch "Kindheit in Kirgisien" davon nichts schreibt... Und: Sowohl Aitmatow als auch Ikeda sind sich in ihren Briefen einig in der Anerkennung der Person Michail Gorbatschows, der, ihrer Meinung nach, durch seine Perestroika einen blutigen Bürgerkrieg verhindert hatte. In einem abschließenden "Gleichnis für Michail Gorbatschow" schildert Aitmatow eine Begegnung mit dem Präsidenten der Sowjetunion, da die Perestroika "als ein Prozeß unerhörter demokratischer Reformen noch in voller Fahrt war". Aitmatow erzählt Gorbatschow in diesem Gleichnis eine orientalische Sage, in der der Herrscher sich zwischen zwei Schicksalen entscheiden muss: "(...) Dein zweites Schicksal, sprach der Prophet zu dem Mann, der sich auf dem Gipfel seiner Macht befand, ist der qualvolle Weg des Märtyrers. Du mußt wissen, Herrscher, daß sich die Freiheit, die du gewährst, als krasser Undank derer, die die Freiheit erhalten, gegen dich wenden wird. Das liegt in der Natur der Sache. Aber warum ist das so? Wie reimt sich das zusammen? Es sollte sich doch gerade umgekehrt verhalten!  Wo bleibt da die Gerechtigkeit? Wo die Vernunft? Niemand weiß darauf die Antwort, das bleibt ein unfaßliches Geheimnis des Himmels und der Hölle. So war das zu allen Zeiten und wird ewig währen. Und dich wird dasselbe Los ereilen. Das Volk, das die Freiheit erlangt, kündigt den Gehorsam auf und wird sich an dir für seine eigene Vergangenheit rächen, es wird sich zusammenrotten und dich schmähen, auf Basaren verlachen, dich und deine Nächsten verhöhnen und verspotten, viele deiner treuen Mitstreiter werden unverhüllt dreist sein und deine Anweisungen in völlig verkehrtem Sinn ausführen. Und du wirst, großer Herr, bis ans Ende deiner Tage Kummer und Erniedrigungen erfahren und dich nicht mehr von den Begierden der Nächsten befreien, die dich verstoßen und deinen Namen zertreten... Und deshalb bist du, mächtiger Herrscher, frei in der Wahl deines Schicksals, du kannst dieses oder jenes wählen." Und Gorbatschow antwortete (1988): "Ich habe meine Wahl bereits getroffen. Und weiche davon nicht ab, was mich das auch kosten und wie mein Schicksal auch enden mag. Nur Demokratie, nur Freiheit, nur die Befreiung von der schrecklichen Vergangenheit, und keine Diktatur über wen auch immer, das Volk soll mich beurteilen, wie es ihm paßt ... Ich bin bereit für diesen Weg, selbst wenn mich viele Menschen von heute nicht begreifen..."

    Nachdenkenswert - wie das ganze Buch. Es hat seinen Platz bei meinen Nachschlagewerken gefunden...

    Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de 

        * Der Übersetzer Friedrich Hitzer starb am 15. März 2007. 

    ** Tschingis Aitmatow verstarb am 10. Juni 2008.

    Weitere Rezensionen zur Person "Aitmatow":

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    Am 22.11.2003 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 17.11.2019.

    Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

    Am Ei suche keine Kanten und Ecken.
    Sprichwort der Kyrgysen

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