Belletristik REZENSIONEN

Fast zweitausend Jahre russische Geschichte

Engländer; über Russland
Russka
Aus dem Englischen von Susanne Felkau
Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München 1995, 830 S.

Kürzlich las ich "Churramobod" von Andrej Wolos. Er nennt sein Buch, das aus 33 selbständigen Geschichten besteht, im Untertitel einen "Roman in punktierter Linie", weil alle Kapitel unabhängig voneinander zu verstehen, und alle irgendwie mit der tadshikischen Stadt Churramobod verbunden sind. Ist in Wolos´ Roman die Stadt Churramobod die Klammer, die alles verbindet, so ist es in Rutherfurds Roman über  fast achtzehn Jahrhunderte hinweg der Ort Russka.

Edward Rutherfurd, 1949 in Salisbury geboren, studierte in Cambridge englische Literatur und Geschichte. Die Idee zu seinem ersten historischen Roman, der England-Saga "Sarum", hatte er während seiner Tätigkeit im Buchhandel - da entdeckte er dieses Thema als Marktlücke. "Sarum" wurde weltweit zu einem Bestseller. Wie der Engländer darauf verfiel, in etwa gleicher Machart eine Russland-Saga zu schreiben - wer weiß? Jedenfalls hat er fast zweitausend Jahre russischer Geschichte gar wohl studiert und erzählerisch gekonnt umgesetzt.

Die gewaltige Saga des russischen Riesenreichs und seiner vielen Völker beginnt Rutherfurd 180  n. Ch. und beendet sie 1992, dem Ende des Sowjetimperiums. Detailfreudig und spannend erzählt er vom Land der Rus und der Bedrohung durch die Mongolen, dem Aufstieg des Großherzogtums Moskau bis zur Revolution und dem Ende der Sowjetunion. Wir lesen von Alexander Nevskij und Iwan dem Schrecklichen, von Peter dem Großen und Katharina die Große, von Lenin, Stalin und Boris Jelzin. Ein unglaublich arbeitsintensiver Roman über ein Sechstel der Erde und seine Geschichte. Wie - so wird sich manch erstaunter Leser fragen - hat er das nur geschafft. Was Lenin anbetrifft, so ist der Meisterrechercheur (wie auch Thomas Roth in "Russisches Tagebuch") einer Falschinformation aufgesessen: Wladimir Iljitsch stammt väterlicherseits nicht von einem Tschuwaschen ab, sondern von einem Kalmyken. Und das, bitteschön, sind zwei ganz verschiedene Völker! Gewöhnungsbedürftig ist auch die adjektivische Übersetzung "bolschewikisch" statt "bolschewistisch", aber das liegt schon nicht mehr in der Verantwortung des Autors.

Beeindruckend ist die Erzählperspektive Rutherfurds. In allen Kapiteln nämlich spielen nicht etwa Großfürsten, Zaren und Adlige die Hauptrollen, sondern "normale Leute" wie der kleine Kiy, der so gern einen Bären als Spielkameraden haben möchte, wie Lebed, die als Mordwinin verachtet wird, wie Ivanuschka, dessen Vater ihn ins Kloster stecken will, wie Vater Lukas, der ein kluger Mönch ist, wie der Tatare Mengin, der Yankas Mutter tötet und später von Yanka und ihrem Geliebten Purgas ermordet wird, wie Savva, der seine Tochter zum Beischlaf mit sich zwingt, wie der Dichter Karpenko, der den Großindustriellen Suvorin liebt, wie die Frau des Großindustriellen, die mit dem rothaarigen Revolutionär Jevgenij Popov schläft.

Man sieht, der Autor, der mit seiner amerikanischen Frau und seinem Sohn gegenwärtig in New York lebt, kennt nicht nur Russlands Geschichte - auch nichts Menschliches ist ihm fremd.

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

 

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Am 22.11.2003 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 03.01.2017.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Einer allein ist  kein Kämpfer auf einem Schlachtfeld.
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