Sachbuch REZENSIONEN

Man kann nicht dreimal auf derselben Insel weilen...

Über Sachalin und die Niwchen
Die Reise nach Sachalin
Auf den Spuren von Anton Tschechow
Deutsche Bearbeitung von Elsbeth Zylla
Fotos, Text- und Materialrecherchen von Andrea Dunai
Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2001, 286 S.

Zur Zarenzeit 1890 besuchte der berühmte russische Schriftsteller Anton Tschechow* die Insel Sachalin ("Die Insel Sachalin", Verlag Rütten  & Loening, Berlin 1982), 1987 zu Sowjetzeiten war ich dort ("Von der Wolga bis zum Pazifik. Bei Tuwinern, Kalmyken, Niwchen und Oroken", Verlag der Nation, Berlin 1990), im Jahre 2000 nach dem Zusammenbruch des Sowjetreichs bereiste der ungarische Publizist György Dalos mit österreichischer Staatsbürgerschaft "den letzten Winkel Russlands".

Wie man sagt, dass man nicht zweimal in demselben Fluss baden kann, so kann man auch nicht zwei- bzw. dreimal auf derselben Insel weilen...

Anton Tschechow hatte die zaristische Strafkolonie am Ende der Welt besucht, um mit eigenen Augen die entsetzlichen Bedingungen zu sehen, unter denen Menschen dort leben mussten: Kriminelle, politische Gefangene, manche mit ihren Familien. Ich war hundert Jahre später dort, um im Rahmen der Völkerschaftsserie in der DDR-Illustrierten FREIE WELT über Niwchen und Oroken zu berichten und auch darüber, wie viel sich für die Urbevölkerung der Insel Sachalin nach der Oktoberrevolution verändert hatte. György Dalos begab sich 110 Jahre nach Tschechow und 10 Jahre nach mir sowohl auf Tschechows Spuren als auch auf eigene Erkundungen. Dass Tschechows Sachalin nicht "mein" Sachalin sein konnte, war klar, aber dass ich bei Dalos "mein" Sachalin nicht mehr wieder erkennen würde, dass erschütterte mich doch zutiefst.

Dalos Reise nach Sachalin besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil "Hundertzehn Jahre" referiert er 110 Jahre Geschichte Sachalins nach Tschechows Aufenthalt dort. Die Recherchen für dieses Kapitel wurden erarbeitet von der ungarischen Journalistin Andrea Dunai (die Dalos auch schon bei seinen früheren "russischen Büchern" "Gast aus der Zukunft", 1996, und "Olga. Pasternaks letzte Liebe",1999, mit ihren Recherchen behilflich war). Wir erfahren, dass die Japaner 1905 Sachalin erobern, dass die Insel dann nach dem Frieden von Portsmouth entlang des 50. Breitengrades geteilt wird, dass 1906 auf Sachalin die Katorga (ursprüngliche Bedeutung Galeere, später Sammelbegriff für das System der Verbannung und Zwangsarbeit in den Strafkolonien des zaristischen Regimes)  abgeschafft wird, dass 1920 Japan die Insel ein zweites Mal besetzt, dass 1925 die ehemalige Demarkationslinie wieder hergestellt, wird - der klimatisch extreme Norden gehört nun zur Sowjetunion, der wärmere Süden zu Japan. Am 9. August 1945, dem Tag des Abwurfs der Atombombe auf Nagasaki, erklärt die Sowjetunion Japan den Krieg, am 2. September 1945 kapitulieren die Japaner auf Südsachalin. Die Japaner werden daraufhin von der Insel vertrieben, und es beginnt eine große Ansiedlungskampagne. Da diese Ansiedlung mit finanziellen Anreizen verbunden ist, ist Sachalin bis Anfang der neunziger Jahre ein Gebiet, in dem es sich trotz des extremen Klimas gut leben lässt... Ich habe es 1987 selbst erlebt; in meinem Buch "Diesseits und jenseits des Polarkreises" schreibe ich darüber.

Was Dalos und Dunai hier auf 154 Seiten zusammengetragen haben, ist interessant, liest sich gut, wenn man auch auf einige Zahlen durchaus hätte verzichten können. Aber wehe, man kennt - wie ich - einen Zeitabschnitt aus der Geschichte der Insel Sachalin aus eigener Anschauung. Dann nämlich ist man platt, denn Dalos lässt auch an der Zeit, in der es Zugereisten und Einheimischen relativ gut ging, kaum einen guten Faden. Vielleicht, weil er sich nicht vorstellen kann, dass ein Gebiet innerhalb von einem Jahrzehnt so heruntergewirtschaftet werden kann. Es kann: durch unüberlegte Privatisierungen, durch Stilllegung ganzer Produktionszweige, durch Ausfall von Elektroenergie, durch Arbeitslosigkeit, durch den Rückgang der Bevölkerungszahl... Ich wundere mich, dass weder Dalos noch Dunai bei ihren Recherchen auf das deutsche Handelshaus Kunst & Albers gestoßen ist. Es wäre doch interessant gewesen zu erfahren, dass sich die deutsche Firma in Gestalt von Adolph Dattan in diese weit entfernte Welt aufgemacht hat, um darüber zu verhandeln, auf der Sträflingsinsel Sachalin eine Großhandelsvertretung einzurichten.  Seit  1894 dann belieferte  Kunst & Albers die Insel mit Mehl und anderen Lebensmitteln; denn obwohl Sachalin damals nur 20 000 Bewohner hatte - die meisten Sträflinge -,  war die Insel nicht annährend in der Lage sich selbst zu versorgen. In einer unnummerierten Anmerkung im ersten Teil, auch ohne Bezug zum fortlaufenden Text, schreibt Dalos, dass Brynner (gemeint ist der bekannte Schauspieler Yul Brynner**als  Sohn eines  schweizerisch-mongolischen Ingenieurs am 11. Juli 1920 in Wladiwostok geboren wurde. Viel mehr kann man wiederum aus dem Buch "Kunst und Albers. Wladiwostok" erfahren...

Im zweiten Titel "Dreizehn Tage" berichtet Dalos über seinen dreizehntägigen Aufenthalt auf Sachalin (wieder in Begleitung seiner ungarischen Mitarbeiterin, von der auch die Schwarz-Weiß-Fotos im Buch stammen). Wie einst Tschechow fährt auch Dalos von Ort zu Ort, um sich über den Zustand der Industrieanlagen und der Verkehrswege, über die Stromversorgung und die Architektur, über die Folgen des Klimas auf die Gesundheit, die Kindergärten und Schulen, die Kirchen und die Religionsausübung, über Museen, die Presse und die Literatur auf Sachalin zu informieren. Er trifft den Gouverneur, einige Bürgermeister, spricht mit dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde, besucht das Sozialamt und recherchiert im Zentralarchiv. Natürlich kennen alle, mit denen er spricht, Anton Tschechow: Es gibt ein Tschechow-Museum, ein Tschechow-Denkmal, jährliche Tschechow-Lesungen. Aber von wem eigentlich stammt Györgys Dalos Information, dass die Niwchen während der Sowjetära ihre niwchische Muttersprache nicht benutzen durften? Wladimir Sangi, der bekannte Schriftsteller der Niwchen, hat in den siebziger Jahren eigens für seine etwa viertausend Landsleute eine Schriftsprache entwickelt. Aber viele niwchische Eltern wollten ihre Kinder nicht auf ein Internat schicken, wollten sie bei sich haben und gaben sie auf russische Schulen. Außerdem sprachen viele Eltern selbst nicht mehr niwchisch und waren zufrieden, wenn ihre Kinder gut russisch sprachen. Aber sie hätten durchaus niwchisch sprechen dürfen! Als ich dort war, war man gerade dabei, für die etwa 320 Oroken eine Schriftsprache zu entwickeln. Für 320 Oroken? Wladimir Sangi antwortete mir bei unserem Treffen in Moskau 1988 auf meine verwunderte Frage: "Als ich mein literarisches Debüt gab, schrieb mir der russische Schriftsteller Konstantin Fedin, dass mir die Ehre zuteil geworden sei, anderen Völkern Herz und Seele meines Volkes nahe zu bringen. Die Sprache aber, in der die Seele eines Volkes spricht, ist seine Muttersprache, die Sprache der Vorfahren. Auch 320 Oroken haben ein Herz und eine Seele!" Dalos bedauert in seinem Buch, dass ihn "der greise Nationaldichter Sanggi" (warum mit zwei g?) in der Stadt Nogliki wegen eines Trauerfalls in der Familie nicht empfangen konnte. Ich habe mich mit Wladimir Sangi zweimal getroffen, auf einer meiner Reisen im Hotel, auf einer anderen in seiner Wohnung in Moskau. Da empfing uns der in Russland sehr bekannte Schriftsteller im blauen Taiman, einer Art Hauskittel aus Fischhaut, am Gürtel ein mit niwchischen Ornamenten besticktes Beutelchen, ein Cerdolik, angefertigt noch von der Großmutter. In solchen Beutelchen bewahren die Niwchen Steinchen auf, die von Generation zu Generation an den jeweiligen Stammhalter weitergereicht werden. Wladimir Sangi hatte zwei solcher gelb-durchsichtiger Steinchen, beide etwa vierhundert Jahre alt. Ich wollte meinen Augen und Ohren nicht trauen, als er mir eines davon als Geschenk überreichte. Ich entschloss mich erst, diese noch heute für mich unfassbare Gabe anzunehmen, nachdem mir Wladimir Sangi diese Geschichte erzählt hatte: "Bei den Niwchen ist es Tradition, einem verehrten Gast einen Schlittenhund zu schenken. Als eines Tages Tschingis Aitmatow bei mir zu Besuch weilte, wußte ich nicht, was ich ihm schenken sollte, denn ich habe in Moskau doch keine Schlittenhunde. Da fiel mir ein, dem kyrgysischen Schriftsteller eine wahre niwchische Geschichte zu schenken. Tschingis Aitmatow schrieb daraufhin die Novelle "Scheckiger Hund, der am Meer entlangläuft" (erschienen beim Ostberliner Verlag Volk und Welt). Tschingis Aitmatow übrigens hat dieser Geschichte eine Widmung für Wladimir Sangi vorangestellt; inwischen ist diese Novelle auch im Unions Verlag, Zürich, erschienen. Ist Wladimir Sangi mit seiner Familie für immer nach Sachalin zurückgekehrt oder war er wegen der Beerdigung auf Sachalin? (Keine zwei Jahre mehr, dann ist Dalos übrigens so alt wie der im Jahr 2000 von ihm als greiser Nationaldichter bezeichnete Wladimir Sangi: sechsundsechzig Jahre.) Schade jedenfalls, dass keine Begegnung zwischen Sangi und Dalos stattgefunden hat. Obwohl Sangi selbst sehr kritisch gegenüber den Errungenschaften der modernen Zivilisation ist, hätte Dalos´ zweiter Teil sicherlich eine wahrheitsgemäßere Gewichtung bekommen. Und Dalos, der sich beklagt, dass es keinen Niwchen mehr gibt, mit dem er Legenden hätte austauschen können, hätte jemanden gehabt, der ihm "einen ganzen Rucksack voll niwchischer Legenden hätte erzählen können".

Im dritten Teil "Sechs Monate" stammen fast alle Informationen aus dem Internet, "da andere Arten des Kontaktes mit Sachalin wegen schlechter Kommunikationsnetze schwierig und mit einbrechendem Winter meist unmöglich waren". Da nun finden sich bewegende Geschichten von Menschen, die heutzutage - 1047 Kilometer von Moskau entfernt, vom sowjetischen Regen in die demokratische Traufe gekommen - in ihren Wohnungen wegen unzureichender Öfen erfrieren, verbrennen oder ersticken, von Menschen, deren einziges Heizmittel der Wodka ist, Geschichten von Schneestürmen, von Stromausfällen, die Produktion und Verkehrswege lahm legen und die Versorgung der Bevölkerung unmöglich machen. Trotzdem: ein aus dem Internet zusammengeschriebenes Kapitel ohne Eigenerlebnisse des Autors - das kommt beim Leser nicht gut an.

Der Autor, 1943 in Budapest geboren, studierte in Moskau deutsche Geschichte. (Warum hat er, der russischen Sprache also kundig, die Recherchen nicht selbst erarbeitet? ), war Mitglied der ungarischen kommunistischen Partei bis 1968, wurde im selben Jahr wegen staatsfeindlicher Aktivitäten verurteilt, erhielt Berufs- und teilweise Publikationsverbot, lebt heute in Berlin und Wien.


Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

   *

 ** In ihrem sehr zu Herzen gehenden Buch "Meine Mutter Marlene" von deren Tochter Maria Riva lese ich im August 2008 über Yul Brunner (S. 693): "Da Yul zum damaligen Zeitpunkt immer noch behauptete, er sei als russischer Zigeuner auf die Welt gekommen, und da Zigeunerwagen durch mondhelle Nächte nach nirgendwo rollen, blieb sein Geburtsort ebenso vage und geheimnisvoll wie die faszinierende Herkunft, die er sich zugelegt hatte. Sein Aussehen und Auftreten paßten so trefflich zu dieser romantischen Geschichte, daß sie niemand durch die Wahrheit verderben wollte."

 György Dalos schreibt am 03.01.2006 an www.reller-rezensionen.de

Sehr geehrte Frau Reller,

erst jetzt fand ich Ihre Rezension und bedanke mich für Ihr Interesse.

Zu den kritischen Bemerkungen: Ich bin nach wie vor überzeugt, daß die Nivchen [Niwchen] ihre Nationalsprache zunehmend verlustig wurden und die Literatur von Sangi (Sanghi, Sanggi) war leider zu einem Potemkindorf verkommen, ebenso wie die des Tschuktschen Juri Ritheus [Rytchëus], oder des Abchasen [Awaren] Gamsatow, was nicht gegen sie als Autoren spricht. Selbst Ajtmatow [Aitmatow], den ich 1965 in Frunse kennenlernte, mußte zugunsten der Weltberühmtheit seine Muttersprache aufgeben.

Die russischen Juden in Birobidschan habe ich 1994 zusammen mit Andrea Dunai besucht. Sie arbeitet übrigens an allen meinem "russischen" Büchern mit mir zusammen, da ihre Sprachkenntnisse gut sind.

Ihr Hinweis über die deutsche Firma [Kunst & Albers] ist mir neu. Danke dafür.

Mit freundlichen Grüßen

György Dalos


Weitere Rezensionen zur Person "Tschechow (Čechov)":

  • Lydia Awilowa, Tschechow, meine Liebe. Erinnerungen.
  • Jean Benedetti (Hrsg.), Mein ferner lieber Mensch. (Liebesbriefe von Anton Tschechow und Olga Knipper.)
  • Ivan Bunin, Čechov (Tschechow). Erinnerungen eines Zeitgenossen.
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  • Anton Čechov (Tschechow), Ein unnötiger Sieg.
  • Anton Čechov (Tschechow), Zwei Erzählungen, (Die Dame mit dem Hündchen/Rothschilds Geige) Hörbuch.
  • Anton Čechov (Tschechow), Kaschtanka und andere Kindergeschichten.
  • Natalia Ginzburg, Anton Čechov (Tschechow). Ein Leben.
  • Anton Tschechow (Čechov), Kaschtanka.
  • Anton Tschechow (Čechov), Der Kirschgarten, Hörbuch.
  • Anton Tschechow (Čechov), Drei Schwestern, Hörbuch.
  • Anton Tschechow (Čechov), Von der Liebe, Hörbuch.
  • Maria Tschechowa, Mein Bruder Anton Tschechow(Čechov).

Am 31.03.2004 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 12.01.2017.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Mit einem guten Menschen hat man´s warm auch ohne Feuer.
Sprichwort der Niwchen

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