Sachbuch REZENSIONEN

Handelsriese mit Lebensart

Über Russland, insbesondere über den Fernen Osten
Kunst & Albers
Wladiwostok
Die Geschichte eines deutschen Handelshauses im russischen Fernen Osten (1864-1924)
Klartext-Verlag, Essen 1996, 320 S.

Als wir - Journalisten der Ostberliner Illustrierten FREIE WELT - in Wladiwostok an einem imposanten Gebäude mit vielen Türmchen vorbeifuhren, sagt unser russischer Begleiter, dass dies das  Wostoker Kaufhaus GUM sei. Hätte ich 1987 gewusst, was ich heute weiß, hätte ich dieses Kaufhaus natürlich mit großer Neugierde besichtigt. Dieses GUM nämlich verdankt seine Existenz zwei jungen Männern aus Hamburg...

1864 eröffneten Gustav Kunst und Gustav Albers in Wladiwostok eine Gemischtwarenhandlung. Da besteht das trostlose fernöstliche Nest an der russischen Pazifikküste nur aus Militärbaracken und vierzig Holzhäusern. Doch Wladiwostok ("Beherrsche den Osten") liegt an einem der besten Naturhäfen der Welt. Albers, Sohn eines Juweliers, geboren 1838, schipperte schon mit vierzehn Jahren auf den Weltmeeren herum, mit einundzwanzig Jahren - nach sechs Jahren Seefahrt, die ihn nach Chile, Südafrika und zweimal nach Indien führten - wurde er examinierter Steuermann. Auf der zweiten Fahrt in den Fernen Osten strandete sein Schiff am 8. August 1864 an der mandschurischen Küste, Gustav Albers schlägt sich nach Shanghai durch. Gustav Kunst, 1836 geboren, war der Sohn eines Kaufmanns. Nach seiner Kaufmannslehre ging er mit einundzwanzig Jahren nach Ostasien und gründete in Shanghai eine kleine Handelsfiliale, die schon bald vor dem Konkurs stand. Der eine gestrandet, der andere kurz vor der Pleite, da will es das Schicksal, dass sich diese beiden jungen Männer im August 1864 in der quirligen Hafen- und Handelsstadt Shanghai kennen lernen, Freundschaft schließen und Geschäftspartner werden, die jahrzehntelang vertrauensvoll miteinander auskommen. Aus der Gemischtwarenhandlung in dem Welt abgeschiedenen Militärstützpunkt wird das stattliche Handelshaus "Kunst & Albers" (das heutige GUM). Die Geschichte dieses Handelshauses - im Laufe von Jahrzehnten in Russisch-Fernost auf über dreißig Kaufhäuser und Filialen sowie Vertretungen in Europa, China, Japan und den USA erweitert - ist zugleich die Geschichte der Erschließung des "Wilden Ostens" Russlands. Mit kaufmännischem Geschick, Risikobereitschaft und harter Arbeit verstanden es die beiden Inhaber, ihre Firma durch Krisen, Aufstände und Kriege zu steuern.

Das Buch von Lothar Deeg ist in acht Kapitel gegliedert. Die Kapitel zwei bis sieben schildern in etwa Zehn-Jahres-Abständen die Geschichte der Firma von 1864 bis 1924 und: auch den Krieg der Mansen, den chinesischen Boxeraufstand, den Krieg zwischen Japan und Russland, die Revolution von 1905, den ersten Weltkrieg, die Oktoberrevolution und den zweiten Weltkrieg, der die Tätigkeit von "Kunst & Albers" im 75. Jahr des Bestehens der Firma endgültig beendete. Immer im Zusammenhang mit der Firma ist auch von der Bevölkerung des Fernen Ostens - von Russen, Chinesen, Japanern, Koreanern, fernöstlichen Eingeborenen - die Rede, von der wirtschaftlichen Erschließung des gesamten Amurgebietes, vom Bau der Transsibirischen Eisenbahn, von der Kriminalität und da auch noch von den  zahlreichen sibirischen Tigern, die sich bis an den Rand der Siedlungen wagen... Beeindruckend "das Händchen" der Firmenbetreiber für ihre Angestellten: überdurchschnittliche Bezahlung, vier- bis sechswöchiger Jahresurlaub, freie Kost und freies Logis, Badehaus, Klubhaus, Bibliothek; seit 1903 gab es für die Belegschaft in Wladiwostok einen vornehm eingerichteten Speisesaal, in dem sieben Köche und zehn Kellner dreimal täglich kostenlose Mahlzeiten für 230 Angestellte und Lehrlinge auftischten.

Diese sechs chronologischen Kapitel, die die äußerst interessante und abenteuerliche Geschichte der Firma schildern, sind eingerahmt von zwei subjektiven Kapiteln: Kapitel 1 präsentiert einen Abschnitt des Tagebuchs von Adolph Dattan, der neunzehnjährig als mittelloser Hilfsbuchhalter in die Firma nach Wladiwostok engagiert wurde und dort später als Seniorchef von Kunst & Albers agierte. Dieses Kapitel schildert aus seiner Feder seine Rückkehr aus der fünfjährigen Verbannung - er war einer Verleumdungskampagne zum Opfer gefallen - quer durch die Landschaft des sibirischen Bürgerkriegs im Jahre 1919. Und Kapitel 8 bietet drei bisher unveröffentlichte Erzählungen des Angestellten Karl Bähr über den exotisch-abenteuerlichen Firmenalltag im Gebiet Blagoweschtschensk.

Lothar Deeg, Jahrgang 1965, arbeitet seit 1994 in St. Petersburg als freier Journalist und Korrespondent für deutschsprachige Zeitungen und Zeitschriften sowie für die Nachrichtenagentur epd. 1991 war er - sechs Jahre nach uns Journalisten der Illustrierten FREIE WELT -  "als einer der ersten Ausländer in das wieder zugängliche Wladiwostok" gereist. "Sinn dieses Buches ist es", schreibt Deeg, "den in Deutschland wie Europa verloren gegangenen Faden zu Russisch-Fernost wieder aufzunehmen. Es soll auf verständliche und spannende Art die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung, die Eigenarten und Chancen dieses Gebietes skizzieren. Auf Grund dieser Zielsetzung entstand ganz bewusst keine wissenschaftliche Arbeit, sondern eine gründlich recherchierte historische Reportage über die vorsowjetische Zeit."

Mit diesem Buch ist bestens gelungen, was sich der ambitionierte Journalist Lothar Deeg vorgenommen hat!

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de
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Am 22.11.2003 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 12.01.2017.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Repariere im Winter den Wagen und im Sommer den Schlitten.
Sprichwort der Russen

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