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    | BelletristikREZENSIONEN |  | Damit die Welt nicht kentert wie ein Boot...
 
 
 |  | Michail Schischkin | Russe |  | Venushaar |  | Aus dem Russischen von Andreas Tretner Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011,  556 S.
 
 Am Mittwoch, dem 29. Juni 2011, wurde der Internationale Literaturpreis* 
      zum dritten Mal** durch das Berliner Haus der Kulturen der Welt und die 
      Hamburger Stiftung Elementarteilchen verliehen. Diesmal erhielten den 
      Preis - dotiert mit 35 000 Euro Preisgeld - der russische Schriftsteller 
      Michail Schischkin (25 000 Euro) und sein Übersetzer Andreas Tretner (10 
      000 Euro)  für die deutsche Erstübersetzung von Venushaar.
 
 Während der feierlichen Veranstaltung zur Preisverleihung erzählte Schischkin, dass Venushaar in 
	  Russland bereits in 100 000 
      Exemplaren erschienen sei und seit 2007 in
       Moskau ununterbrochen als Theaterstück 
      gespielt wird. Fast fünf Jahre habe er versucht, sein 2005 russisch 
	  erschienenes Buch an einen deutschen Verlag zu bringen. Es habe Absage 
	  auf Absage gehagelt mit der Begründung, der Roman sei zu anspruchsvoll. 
      "Aber", fügt er hinzu, "ich mache keine Kompromisse. Schließlich habe eine 
      Literaturagentur den Titel in der Deutschen Verlags-Anstalt 
      "untergebracht", er dankte dem Verlag für seinen Mut und äußerte sein Unverständnis darüber, dass Verlage ihre 
		deutschen Leser für dümmer hielten, als die russischen Verlage ihre 
		russischen Leser. Die geladenen Gäste im voll  besetzten 
		Auditorium des Hauses der Kulturen der Welt klatschten Zustimmung. Ich auch.
 
 Da war ich auf Seite 97.
 
 Nachdem ich Venushaar ausgelesen habe, weiß ich: Venushaar ist 
		für den Leser - egal, wo er auf der Welt lebt - zu anspruchsvoll, 
		der keine wie auch immer geartete Beziehung zu 
		Russland hat und sich überhaupt 
		nicht mit geschichtlichen Ereignissen in 
		Russland auskennt. Aber: Auch 
		ein solcher Leser kann, wenn er sich auf Schischkin einlässt, 
		durchaus Genuss und Gewinn aus dem Roman beziehen, auch wenn, er die ganze "stupende
		[erstaunliche] Komplexität und 
        betörende Vielfalt" 
		[aus der Jurybegründung] des  Buches nicht ganz erfassen 
        wird. Ihn könnten schon allein die vielen aphoristischen Wendungen 
        bereichern und zum Überdenken anregen:
 
 "Liebe ist wie der Mond - wenn sie nicht zunimmt, nimmt sie ab -, 
        aber die neue ist wie die alte, immer derselbe Mond." / - "Freiheit 
        ist da, wo keine Angst ist. Freiheit ist nicht da, wo kein Stacheldraht 
        ist." / "Liebe zu 
        schenken ist leicht - sie wieder wegzunehmen schwer." / "Meine einzige 
        Befürchtung ist, ich könnte nicht alles, was in mir schlummert 
        verschenkt haben, bevor es zu spät ist. Der Körper verfällt so schnell." 
        / "Die Angst hört im Leben nicht auf. Erst haben wir Angst, 
        schwanger zu werden, dann vorm Gebären, und hinterher ängstigen wir uns 
        um unser Kind bis ins Grab." /  
        "Ein Kriminalroman ist der gleiche Horror wie das, was in den Zeitungen 
        steht, nur mit dem Unterschied, dass er gut ausgeht." / " Liebe ist 
        das größte Glück, das es gibt. Selbst unglückliche Liebe." / "Wenn ein 
        Mann schöne Hände hat, so besonders schöne Hände (...), dann kann seine 
        Seele nicht hässlich sein. Hände lügen nicht." / "Wen man richtig liebt, 
        den liebt man auch später noch in den vielen anderen mit." / "Eine 
        Strecke zwischen den Punkten A und B lege man in Kilometern zurück ..., 
        das Leben hingegen in Menschen, man nehme sie unweigerlich in sich 
        auf." / "Das Leben lässt sich sowieso erst richtig genießen, 
        nachdem  man Leid erfahren hat." / "Krankheiten entstehen aus Kränkung 
        und Verbitterung, (...) heilen kann man sie durch Liebe." ...
 
 Venushaar erfordert absolute Konzentration; denn des 
        Autors Machart ist mehr als verwegen: Der Text des mehrfach 
		ausgezeichneten Romans besteht aus vielen 
        Geschichten, auch innerhalb von Geschichten, die von grausamer Folter 
        und großer Liebe, vom Russisch-Türkischen Krieg und von der Mafia, von Freundschaft 
        und von Gewalt, vom Afghanistankrieg  und innigen Romanzen, vom 
        Tschetschenienkrieg und von 
        Juden-Pogromen, von Auftragsmorden, von Streik und 
        Revolution, vom ersten und 
        zweiten Weltkrieg, vom Mlywo der 
        Niwchen 
        und von der Beagle Charles Darwins... erzählen. Schischkins Text lässt sich mit 
        einigen großen Matrjoschka-Puppen vergleichen, in der viele, viele kleine Matrjoschka-Püppchen 
        stecken. Die großen Matrjoschkas des Romans sind:
 
 - Die Geschichte vom "Dolmetsch" (der gleichzeitig 
        der Autor selber ist), der als Dolmetscher in einer schweizerischen 
        Einwanderungsbehörde arbeitet (Schischkin lebt seit 1995 in der Schweiz.). Diese Behörde ist für den Autor eine "Flüchtlingskanzlei des 
        Ministeriums für Paradiesverteidigung". 
        Und da der Dolmetsch nicht nur ein Dolmetscher ist, sondern auch ein 
        Mensch, braucht er zu Hause und in seinen Übersetzer-Pausen im 
        "Dolmetscheraufenthaltsraum" ab und an ein Tässchen Kaffee und ein gutes 
        Buch. Und so erfährt der Leser nicht nur von üblen Kriegsgeschichten der 
        Gegenwart, vorgetragen   von den Gesuchstellern, sondern auch 
        üble Kriegsgeschichten der Vergangenheit aus einer Reportage um 370 v. 
        Chr. und davon, dass dem Dareios und 
        der Parysatis zwei Söhne geboren wurden, ein älterer, Artaxerxes, und 
        ein jüngerer Kyros. "Denn zu Hause gleich alles vergessen, was tagsüber 
        gewesen ist, das funktioniert nicht. Man trägt es bei sich." Zum 
        Beispiel wie der Bruder eines Gesuchstellers (GS) von 
        Tschetschenen umgebracht wird: 
        "Als ich an dem Tag nach Hause kam, hörte ich aus dem offenen Fenster 
        Schreie. Ich versteckte mich beim Schuppen im Gebüsch und sah, wie im Zimmer drinnen ein 
        Tschetschene mit dem Gewehrkolben auf meinen Bruder 
        einschlug. Es waren mehrere, alle mit 
        Kalaschnikows. Den Bruder konnte 
        ich nicht sehen, er lag schon am Boden. Und dann hat sich meine Mutter 
        mit dem Messer auf sie gestürzt. Dem kleinen Küchenmesser zum 
        Kartoffelschälen. Einer von denen hat sie gegen die Wand gestoßen, das 
        Gewehr gegen ihren Kopf gehalten und abgedrückt. Dann sind sie rausgekommen, haben das Haus mit Benzin aus einem Kanister begossen und 
        angezündet. Dann standen sie da und haben zugeguckt, wie es brannte. 
        Mein Bruder hat noch gelebt, ich habe ihn schreien hören. Ich hatte 
        Angst, dass sie mich sehen und auch umbringen." -  Die Biographie des Autors 
        ist mal hier, mal da versteckt auf den 
        556 Roman-Seiten. Wir lesen von seiner ehemaligen Lehrerin 
        Galina Petrowna - die Galpetra -, die zum Beispiel mit ihrer Klasse - 
        wie üblich in Museumslatschen - ins Museum für die Kunst der 
        Leibeigenen*** geht und die er - natürlich in Museumslatschen - in Rom 
        wieder trifft; in Museumslatschen erscheint sie ihm auch im Traum. Und 
        wieder verspürt er seine alte Schulangst "als wären nicht Jahrzehnte 
        Leben dazwischen gewesen". Wir hören, dass er als Junglehrer gearbeitet 
        hat bei "kleinen Orotschen und Tungusen"  und das für einen 
        Hungerlohn, weshalb er nach Schulschluss noch private Nachhilfe 
        erteilte. Damals hatte der Junglehrer gerade seine erste Erzählung in 
        einer Zeitschrift veröffentlicht und geglaubt, das die Welt davon aus 
        den Angeln gehoben würde, was aber, gegen alle Erwartungen, nicht 
        geschah. "So leicht lässt sich die Welt zum Glück nicht aus den Angeln 
        heben."
 
 - Die schrecklichen Geschichten der 
        GS, der Gesuchsteller, die um Asyl im schweizerischen Paradies 
        nachsuchen. Die GS kommen aus allen Gegenden der ehemaligen 
        Sowjetunion, 
        sind ihrer Nationalität nach 
        Ukrainer, 
        Moldawier, 
        Tschetschenen, 
        Weißrussen 
        [Belarussen], 
        Russen, Orotschen, 
        Ewenken, 
        Kasachen, 
        Litauer, Mari, 
        Niwchen, 
        Letten, 
        Kalmücken, 
        
		Aserbaidshaner, Gagausen, Osseten... - Fischer, 
        Peter, der Vernehmer, vom Dolmetsch "Petrus" genannt, 
        ist stets darauf aus, das Himmelstor geschlossen zu halten. "Für einen 
        abschlägigen Bescheid genügt es, Unstimmigkeiten in den Aussagen 
        [...] zu finden." Da der Herr "Schicksalslenker" solche Befragungen schon eine 
        ganze Weile durchführt, kann er sich viele seiner Fragen bereits selbst 
        beantworten, ja, ganze hochinteressante Emigrationsgründe-Geschichten 
        selbst weiterspinnen. Und der Dolmetsch, der viele der Geschichten noch 
        aus seinem Russland-Leben kennt, weiß auch nachzuhelfen, wenn einer 
        stockt - weshalb statt Frage / Antwort im Roman besser 
        (wenn auch stilistisch schlechter) Fragender / Antwortender stünde... 
         
        Natürlich hat so manche Geschichte der Gesuchsteller nicht selbst erlebt, 
        sondern von einem anderen Unglücklichen aufgeschnappt. Aber, was macht´s, 
        alles sind Geschichten, die sich genau so abgespielt haben, nur 
        eben mit jemand anderem...
 
 - Die Geschichte, in der 
        der Autor als Ich-Person mit dem "hochverehrten Nabuccosaurus" in Briefwechsel 
        steht hat mir Rätsel aufgegeben. Ich brauchte ein ganzes Lese-Weilchen, bis mir schwante, dass der hochverehrte Nabuccosaurus des Autors  
		(kleiner) Sohn sein könnte, denn 
        dessen Schreiben "wimmelt von grammatischen Fehlern". Diese Erkenntnis 
        setzt allerdings voraus, dass einem bekannt ist, dass Michail Schischkin 
        nicht in die Schweiz ausgereist ist, sondern dass ihn die Liebe zu einer 
        Schweizer Slawistin und deren andere Umstände ins eidgenössische Land verschlagen haben. - Als der Autor dann eines Tages 
        - nanu? - in einer Einzimmerwohnung gegenüber dem Friedhof aufwacht 
        (vorher hat er in einem Haus gewohnt, und das nicht allein, sondern mit 
        Frau und Sohn. Doch als sich ergab, "dass seine Frau jetzt die Frau eines 
        anderen ist", muss der Leser blitzgescheit schlussfolgern, dass die 
        Ehe ("Die Liebe ist wie der Mond...") zwischen der Schweizer Slawistin und 
        dem russischen Autor in die Brüche gegangen ist. Im Buch ist das die 
        Geschichte von ihm, Tristan und Isolde. "Erst nach einer Weile kam ihm 
        [dem Dolmetsch] zum Bewusstsein, dass es 
        im Haus ausschließlich Einzimmerwohnungen gibt, in denen alte Leute 
        wohnen. "Verwaschene Socken und Strümpfe in wandelnder Form sozusagen." - 
        eine Geschichte in der Geschichte  über Alter und Einsamkeit und --- über Demenz;  denn eine 
        Frau Eggli  ("schätzungsweise achthundert Jahre alt"), schmeißt 
        alles, was nicht niet- und nagelfest ist aus dem Fenster.
 
 - Da ein russischer Junglehrer - 
        wir wissen das schon - immer knapp bei Kasse ist, nahm er von einem 
        russischen Verlag den Auftrag an, eine Biographie über eine berühmte 
        russische Romanzensängerin zu schreiben, über Isabella (Bella) 
        Dmitrijewna, geboren 1899, gestorben 2000. Zu Beginn erzählt die 
        einhundert Jahre alt gewordene Frau ihr Leben als kleines Mädchen 
        ("Ein Ferkel mit lustigem Schwänzchen rennt in der Küche umher. Ich 
        spiele mit ihm, wir sind Freunde geworden. Es grunzt so ansteckend! Bald 
        grunzen wir im Duett, quietschen vor ferkeliger Lust. Dann sehe ich es 
        auf dem großen Teller im Esszimmer wieder, mit immer noch lustig 
        geringeltem Schwanz. Ich heule und möchte am liebsten aus dem Zimmer 
        rennen.  Am schrecklichsten war, das weiß ich noch, als man mir das 
		abgeschnittene Schwänzchen auf den Teller legen wollte - zur Beruhigung! 
		- Wie alt war ich da? Drei? Vier?") Die Geschichte ist in der Ich-Form 
		geschrieben, wie das Schreiben des "Dolmetschs" an den 
        "hochverehrten Nabuccosaurus"; einige Seiten lang dachte ich, es gehe 
        um den Autor, bis mir auffiel, das in diesem Text von einem Mädchen die 
        Rede ist. (...) "Das Leben geht weiter. Einmal 
        stelle ich die Frage, warum ich eigentlich Isabella heiße." Erst da 
        machte es bei mir Klick. Später führt Bella ein (fiktives) Tagebuch, am 
		29. September 1914 
        beginnend. Aus ihrer Feder und ihrem Mund erfahren wir ihr Leben und 
		gleichzeitig ein Jahrhundert russischer Geschichte.
 
 Jeder Handlungsstrang, jede Geschichte 
        ist ein Sprachporträt für sich. Michail Schischkin gelingt es zum 
        Beispiel sowohl 
        den kindlichen Ton der Sängerin zu treffen, als auch ihr Älter- und 
        Altwerden glaubwürdig zu gestalten; die verschiedenen Typen der 
        Gesuchsteller sind als Wortporträts gestaltet: da ist der Gewiefte, der 
        Traumatisierte, der Raffinierte, der Bescheidene, der Obszöne... Wie 
        heißt es in der Jurybegründung? 
        Venushaar zeichnet sich durch "eine grosse Vielfalt von 
        Redeweisen, Sprachgesten und Stilvarianten aus". Fürwahr. Mir scheint,  
        mit Venushaar müsste das Genre des Romans neu definiert 
		werden.
 
 Jetzt könnte der eine oder andere Leser 
        auf die Idee kommen, die eine oder andere Geschichte zu überschlagen. 
        Das sollte er aber tunlichst bleiben lassen, denn ganz bestimmt taucht 
        die behandelte Person irgendwann wieder auf und wehe, man weiß dann 
        nicht, wohin mit ihr. Der Galpetra ("Die Vorstellung, unsere alterslose 
        schnurrbärtige Klassenlehrerin könnte schwanger sein, erschien mir 
        damals vollkommen abwegig. Unvorstellbar. Denn dazu hätte, so viel 
        wusste man, passiert sein müssen, was zwischen Frau und Mann passiert. 
        Frau, wohlgemerkt - nicht unserer Galpetra!") begegnen wir Jahrzehnte später 
        als Touristin in Rom wieder.  Oder nehmen wir die alte 
        Frau Eggli, diese ausgemergelte Frau "mit dem beißenden Geruch", die 
        alles aus dem Fenster schmeißt, denn 378 Seiten später ist von ihr 
        wiederum die Rede.
 
 Die unterschiedlichen großartigen Geschichten sind 
        jeweils mit einem kleinen Absatz von der folgenden Geschichte abgegrenzt. 
        Besondern tückisch ist, wenn eine Geschichte mit einer vollen Seite 
        ausklingt und die neue mit einer neuen Seite beginnt. Dann nämlich liest 
        man mindestens einige Sätze (oder gar Seiten), ohne zu verstehen, was los ist. Und wenn 
        einem dann klar wird, das das schon eine neue Geschichte ist, muss man 
        wieder an den Anfang, um sich nichts entgehen zu lassen...
 
 Um jeweils zu begreifen, wann welche 
        Geschichte spielt, darf man keinen Augenblick abgelenkt sein. Spielt 
        Seite 106 zum Beispiel in tiefsten Sowjetzeiten ("Das Codeschloss am 
        Eingang funktionierte nicht, der Fahrstuhl war außer Betrieb, er musste 
        die mit Bauschutt, Altpapier und Heringsköpfen vollgemüllten Treppen 
        hinauf. Der typische Moskauer Treppenhausgeruch aus Urin von Mensch und 
        Katze sowie feuchtem Putz. Auch die Wohnungsklingel ging nicht."), so 
        ist man auf Seite 107 unversehens in den neunziger Jahren (mit 
        blitzenden Limousinen und geschorenen Muskelmännern in teuren Anzügen).
 
 Michail Schischkin wurde als bisher 
		einziger russischer Schriftsteller mit den drei wichtigsten 
		Literaturpreisen Russlands ausgezeichnet; 
        das "Times Literary Supplement" stellt Schischkin in eine Reihe mit 
        Puschkin, 
        Dostojewski, 
        Tolstoi; ich sehe ihn eher in einer Reihe mit 
        Michail Bulgakow und 
        Vladimir Nabokov. 2003 hatte ich von Schischkin 
        schon "Die russische Schweiz" gelesen, einen 
		literarisch-historischen Reiseführer. "Ein fremdes Land bleibt so lange fremd, bis du dir Verwandte und dir 
		nahe Menschen gefunden hast. Also machte ich mich im Alpenland auf die Suche nach 
		Gogol und 
		Bunin, 
		Rachmaninow und Strawinskij, Herzen und Nabokov." In dem Buch "Die 
		russische Schweiz" wird die Lebens- und Leidensgeschichte von 
		fünfhundert Russen vorgestellt, die sich in der Schweiz aufgehalten 
		haben: Sie kamen nach der unterdrückten Militärverschwörung der Dekabristen 
		(1825), während der letzten Jahrzehnte der Zarenzeit (im 19. 
		Jahrhundert), nach der Oktoberrevolution (1917) und während des 
		Sowjetregimes (bis 1991), es waren so prominente Männer und Frauen wie 
		Dostojewski, 
		Gogol, 
		Nabokov, 
		Solschenizyn, 
		Tolstoj... 
		Lenin, 
		
		Trotzki. 
		Mit der Distanz von zehn Jahren, sagt Schischkin, sei er heute der 
		Meinung, dass sein literarisch-historischer Reiseführer eigentlich eher ein Roman über 
		 
		
		 
		Russland ist, über die krankhafte russische Geschichte. 
		"Alle meine fünfhundert  russischen Helden haben über die Schweiz 
		geschrieben, aber wie in einem Spiegel sahen sie in ihren Notizen, 
		Tagebüchern und Briefen nur eine Reflexion ihrer selbst und der 
		hassgeliebten Heimat."
 
 Für eine Schlüsselsentenz in 
        Venushaar halte ich diese Aussage: "Ich meine, wenn irgendwo auf 
        dieser Welt Verwundete mit Gewehrkolben gemeuchelt werden, dann muss es 
        anderswo einen Ort geben, wo Menschen singen und sich des Lebens freuen! 
        Je mehr ringsum gestorben wird, desto wichtiger ist es, Leben, Liebe und 
        Schönheit entgegenzusetzen." Dieser Gedanke taucht immer wieder auf, zum 
        Beispiel so formuliert: "Wenn für Schönheit und Liebe nicht die rechte 
        Zeit ist, so muss man schön sein und lieben wider die Zeit." Oder so: 
        "Wenn irgendwo Krieg ist, dann sollte man umso mehr leben und sich 
        freuen, dass man selbst nicht dort ist. Und wenn jemand geliebt wird, 
        dann wird es auch immer einen anderen geben, den niemand liebt. Und wenn 
        die Welt ungerecht ist, so soll man trotzdem leben und sich freuen..." 
        Oder: "Je ärger das Unglück der einen, desto entschiedener müssen die 
        anderen auf ihrem Glück bestehen. Desto stärker müssen sie lieben. Damit 
        die Welt im Gleichgewicht bleibt, damit sie nicht kentert wie ein 
        Boot." ...  - Und der Buchtitel Venushaar, im Russischen 
        Original Вeнeрин Вољос, ist in Russland "eine Zimmerpflanze, die ohne 
        menschliche Wärme nicht überlebt".
 Ich freue mich sehr, dass das Haus der 
        Kulturen der Welt und die Stiftung Elementarteilchen auch stets des 
        Übersetzers gedenken. Der Übersetzer Andreas Tretner  
        hat Venushaar von Michail Schischkin als ein "komplexes, 
        monumental angelegtes, philosophisch wie ästhetisch nach den Sternen 
        greifendes Buch" charakterisiert. Gut nur, dass ein solches Buch in die 
        Hände eines erfahrenen Übersetzers gelangt ist, der aus dem "Meisterwerk eine meisterliche 
        Übersetzung" gemacht hat (aus der Jurybegründung). Wie  frohlocke 
		ich über besonders gelungene Wort-Neuschöpfungen: So ist eine vom Blitz  gefällte Espe "schiefrig" (S. 45).  
		Als unsere damals kleine Tochter 
        Katharina in der Schule gelernt hatte, dass viele Adjektive auf -lich 
        enden, sagte sie eines Tages: "Guck mal Mutti, das Bild hängt schieflich." 
        So sehr mir diese Wendung gefiel, musste ich ihr doch sagen, das sie 
        falsch ist. Wie gut, dass Literaten und deren Übersetzer mehr 
        sprachliche Narrenfreiheit haben. Und so darf ich mich erfreuen an "der 
        Wind verrümpelt (S.54) von Möwengeschrei". "Wir sind dann sehr schnell 
        aufgebrochen. Ein verbumfiedelter (S. 342) Abend." - "Ein feiner, grauer, lautloser, 
        huschiger (S.469) Regen fiel..."Der Tiber ist so trübe und tiberig 
        (S. 515) wie im wahren Leben", "Vor zwanzig Minuten waren ihre Brüste 
        unter der Dusche vom eiskalten Wasser ganz gänsehäutig (S. 516) und 
        straff."... Andreas Tretner sei es gelungen, für jeden russischen 
		Topf einen deutschen Deckel zu finden, sagte Lothar Müller in seiner 
		Laudatio. Tretner übersetzt seit 25 Jahren Literatur aus dem 
        Russischen, aber das erste Mal hatte er es bei Venushaar mit 
        einem Autor zu tun, der außer seiner Heimatsprache Russisch auch das 
        Deutsche beherrscht. "War das hilfreich", wurde er gefragt?" Seine 
        Antwort: Zum Teil, zum anderen Teil gestaltete sich die Arbeit natürlich 
        komplizierter; denn Michail las jedes ins Deutsche übersetzte Wort." Und 
        Schischkin ergänzt: "Manche Stelle, die besonders schwierig zu 
        übersetzen war, schlug ich vor zu streichen. Aber Andreas sagte immer: 
        `Nein, wir versuchen´s.´ Ich habe nicht bereut, ihm mein Baby anvertraut 
        zu haben."
		
 Genau so beeindruckt von dem 
        Anmerkungsapparat Tretners wie ich, fragte Luzia Braun, die Moderatorin 
        der Preisverleihungsveranstaltung, den Übersetzer, woher er denn all sein Wissen habe. Seine 
        Antwort: "Vor zwanzig / dreißig Jahren hätte ich einen solchen 
        Anmerkungsapparat noch nicht anbieten können... Da gab es das Internet 
        noch nicht." Womit er die Frage "Gewusst wo?" beantwortet hatte, aber 
        nicht "Gewusst was?" Nämlich was im Text einer Anmerkung bedarf. Für den von 
        Russland unbedarften 
        Leser wären hier und da in der Anmerkung auch 
        noch weitere Jahreszahlen hilfreich gewesen. So wird z. B. im Text gesagt: "Ich bin 
        öfters nach Sergijew Possad gefahren, das jetzt aus irgendeinem Grund 
        Sagorsk heißt." Wenn man weiß, das Sagorsk seit 1991 Sergijew Possasd heißt,  kann man 
        sogleich schalten, dass die folgende Geschichte nach dem Zerfall der 
        Sowjetunion spielt. Oder:  Einige Male ist im Text von den 
        Altgläubigen die Rede. Da hätte ich mir in den Anmerkungen eine 
        Jahreszahl und eine kurze Erklärung gewünscht, wie: "Im 17. 
		Jahrhundert kam es zur Abspaltung der später sogenannten 
		altgläubigen Gemeinschaften von der Moskauer Patriarchatskirche. Heute 
		gibt es weitweit noch 2 bis 3 Millionen russische Altgläubige, deren 
		Großteil in Russland, auf dem Balkan und in Rumänien lebt. Trotz 
		ständiger Verfolgung und Bedrängnis blieben sie in ihrem Lebensstil und 
		ihrer Traditionsverbundenheit von vielen Entwicklungen im Staat und 
		seiner Großkirche unberührt." 
        Im Tagebuch-Text von Bella Dmitrijewna steht: "Mama hatte neuerdings 
        immer den alten Awwakum auf dem Nachttisch liegen." Und in der 
        dazugehörigen Anmerkung: "Der altgläubige Protopope Awwakum 
        (1620/21-1682) schrieb die erste Autobiografie (1672/73). Aber schon auf 
        Seite 71 erzählt ein GS, dass seine russische Freundin, die er in 
        Afghanistan kennen lernte,  "von ihren altgläubigen Eltern 
        abgehauen" ist. Im 17. Jahrhundert?
 
 Unter den 272 Anmerkungen (19 Seiten) 
        des Übersetzers gibt es Anmerkungen, die lediglich Quellenangaben sind, 
        Anmerkungen, die zusätzliches Wissen vermitteln, Anmerkungen, die 
        beispielsweise eine im Text nur angedeutete Gedichtzeile ausführen und  
        Anmerkungen, ohne die man den entsprechenden Text des Romans nur 
        unzureichend versteht. Da jedoch alle diese Textstellen im Roman nicht 
        gekennzeichnet sind, ist man unentwegt versucht, nach hinten zu 
        blättern. Ein unaufdringliches kleines Sternchen  an der 
        entsprechenden Textstelle wäre für den interessierten Leser sehr 
        hilfreich gewesen - auch wenn das für ein belletristisches Buch 
        ungewöhnlich ist. Aber eine ungewöhnliche Romanmachart heiligt auch eine 
        für ein belletristisches Buch ungewöhnliche Anmerkungsart!
 
 Wahrlich, es hat sich gelohnt, dass die 
        Arbeit des Übersetzers vom deutschen Übersetzerfonds e. V. mit Mitteln 
        der Kulturstiftungen des Bundes und der Länder sowie des Auswärtigen 
        Amtes gefördert wurde. "Dadurch", so Andreas Tretner, "konnte ich drei 
        Monate länger an der Übersetzung arbeiten."
 * Irgendwo las ich, dass der Autor diesmal 
        in einem größeren deutschsprachigen Verlag erscheinen wollte, der sich bei 
        Bedarf eine Nachauflage leisten könne. Nicht so wie bei Schischkins ins 
        Deutsche übersetztem Sachbuch "Die russische Schweiz", das 
        2003 im Zürcher Limmat-Verlag erschienen ist,  davor 2000 in 
        Russisch, ausgezeichnet mit dem russischen Booker-Preis.  In Russland sind bis jetzt drei weitere Bücher 
        von Schischkin erschienen: "Die Eroberung von Ismail" erinnert an den 
        Sturm der gleichnamigen türkischen Festung bei Odessa in der heutigen 
        Ukraine im Jahre 1790 durch 
        General Suworow. - 2001 wanderte Michail 
        Schischkin auf den Spuren von 
        Lew Tolstoi und Lord Byron vom Genfersee 
        ins Berner Oberland. Er liest dabei ihre Tagebücher und schreibt selbst 
        ein Tagebuch - woraus das eigene Buch "Montreux-Missolunghi-Astapowo" 
        entsteht. Dieses Buch wurde 2002 von der Stadt Zürich mit einem Werkjahr 
        ausgezeichnet und erhielt 2005 in Frankreich den Preis für das beste 
        ausländische Buch des Jahres. Schischkins Roman Venushaar 
        wurde 2005 mit dem russischen Preis "Nationaler Bestseller" 
        ausgezeichnet und 2006 mit dem wichtigsten Literaturpreis  Russlands "Das grosse Buch".
         Schischkins Bücher wurden inzwischen in 14 Sprachen 
        übersetzt u. a. ins Bulgarische, Chinesische, Englische, Finnische, 
        Französische, Italienische, Norwegische, Polnische, Schwedische, 
        Serbische... Im nächsten Jahr, so ist zu hören, soll ein weiterer Roman 
        Schischkins auf Deutsch erscheinen. * Sollte es eine zweite Auflage von 
        Venushaar geben, wovon ich überzeugt bin, dann sei auf diese Fehler 
        bzw. Ungenauigkeiten hingewiesen: "Zwar wimmelt es in Eurem Schreiben 
        von grammatischen Fehlern"... (S.14). Sind da nicht eher orthographische 
        Fehler gemeint? / Biologen und Naturkenner sind der Meinung, dass Zecken 
        nicht in Eichenkronen (S. 45) hausen, sondern in Gräsern, Farnen, 
        Sträuchern... / "auf Arbeit" [на работe] (   ) ist "russistisch", 
        im Deutschen geht man zur Arbeit. / Der Wal ist kein Fisch, sondern ein 
        Säugetier, deshalb (S.299) Wal (nicht Walfisch) und Walbauch (nicht 
		Walfischbauch). / Die Stadt in Abchasien 
        heißt Suchumi, nicht Sochumi (S.542)  --- obwohl ich 
		im Internet auch die Schreibweise Sochumi finde. Ich allerdings bin in 
		Suchumi gewesen. / Als der 
        "Dolmetsch" Junglehrer war hießen die Tungusen bereits Ewenken. Ich verstehe nicht (Anmerkung 129) inwiefern Tungusen 
        und Orotschen - kleine indigene Nomadenvölker in Ostsibirien - "in einem 
        übertragenen poetischen Sinn gebraucht werden". |  |  |  |  |  | Gisela Reller / 
        www.reller-rezensionen.de
 
                 * Mit dem Internationalen 
          Literaturpreis wird seit 2009 das beste internationale Erzählwerk in 
          deutscher Erstübersetzung prämiert. Man wolle mehr "Welthaltigkeit in 
          die deutsche Diskussion bringen", so Bernd Scherer, Intendant des 
          Hauses der Kulturen der Welt. Damit verbunden sei die Hoffnung, neue 
          Stimmen hierzulande bekannt zu machen, ergänzte Susanne Stemmler, verantwortlich für Literatur in der 
        Berliner Kulturinstitution. Konzipiert ist die Auszeichnung nach dem 
        Vorbild des Deutschen Buchpreises.              ** Die ersten Preisträger 2009 waren 
        der peruanische Schriftsteller Daniel Alarcón und Friederike Meltendorf. 
        Alarcón, der in den USA lebt, gewann den Preis für seinen Roman "Lost 
        City Radio" (Wagenbach Verlag, Berlin 2008), Friederike Meltendorf für 
        ihre Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch. - Aus der Jurybegründung 
        für die Preisträgerschaft des Autors: "Der Debütroman des 1977 in Peru 
        geborenen und in den USA aufgewachsenen Daniel Alarcón konfrontiert uns 
        auf eindringliche und einfühlsame Weise mit einer Welt, in der das 
        Zusammenleben immer wieder von Bürgerkrieg und Gewalt bedroht wird. Ein 
        Roman, der sich wie eine Parabel liest - ein präziser literarischer 
        Entwurf, der eine nicht näher verortete Gewaltsituation sowohl auf Süd- 
        und Mittelamerika wie auch auf koloniale Regime
        andernorts übertragbar erscheinen lässt: 
        Die Verschwundenen und der Kampf gegen das Vergessen sind zentrales 
        Thema dieses geschickt komponierten Romans. Alarcón 
        schreibt in der Sprache seiner neuen Heimat USA und erlebt mit kühlem 
        und präzisem Blick Geschichten seines Herkunftslandes nach. Die 
        raffinierte Verknüpfung verschiedener, fein ausgearbeiteter, nicht 
        chronologisch angeordneter Erzählstränge zeigt - jenseits eines 
        vordergründig lateinamerikanischen Szenarios - die weltweitern Webmuster 
        von Macht und Gewalt auf." - Aus der Jurybegründung für die 
        Preisträgerschaft der Übersetzerin: "Friederike Meltendorfs Übersetzung 
        von Daniel Alacóns Roman "Lost City Radio" aus dem amerikanischen 
        Englisch kann als kongenial bezeichnet werden. Mit großem 
        Einfühlungsvermögen und mit großer Stilsicherheit im Deutschen ist sie 
        in der Lage, die klare, zuweilen karge, präzise und lakonische Sprache 
        des Originals wiederzugeben, ohne dabei den wunderbaren Rhythmus, die 
        zarte situative Poesie zu verlieren." --- Die Preisträger 2010 
        waren die französische Schriftstellerin Marie NDiaye für ihren Roman 
        "Drei starke Frauen" ("Trois femmes puissantes", 
		Suhrkamp Verlag 2009) und die Übersetzerin 
        Claudia Kalscheuer. - Aus der Jurybegründung für die Preisträgerschaft 
        der Autorin: "Marie NDiayes `Drei starke Frauen´ ist ein subtiles, dicht 
        geschriebenes, in seiner sprachlichen Ausgestaltung einen starken Sog 
        entfaltendes Buch über gestörte Beziehungen, emotionale Abhängigkeiten 
        und unerhörte Abgründe innerhalb der Familie: eine fein austarierte 
        Choreographie von verstörenden Annäherungs- und Abstoßungsprozessen, 
        deren Motiv nicht umsonst die Hitchcockschen Vögel sind. Und damit führt 
        der Roman vor, was Schreiben jenseits der althergebrachten Kategorien 
        von Heimat und Herkunft sein kann: `Weltkulturliteratur´ jenseits von 
        Migration und Exil, die eine neue grenzüberschreitende Formensprache 
        vorantreibt." - Aus der Jurybegründung für die Preisträgerschaft der 
        Übersetzerin: "Claudia Kalscheuer ist es gelungen, den fein 
        austarierten, halb alptraumhaften, halb surrealen Rhythmus des Textes im 
        Deutschen abzubilden. Sie folgt sehr genau den Satzbewegungen des 
        französischen Originals, wählt aber an den entscheidenden Stellen 
        Möbiusschleifen, setzt Inversion, reduziert die Zahl der Alliterationen, 
        ohne ihr poetisches Moment auch nur im Entferntesten aufzugeben, und 
        schreibt auf diese Weise ihrer Übertragung die deutsche Sprachmelodie 
        ein, lädt sie mit exakt dem gleichen dichten, verstörenden Rhythmus auf, 
        den das Original der `Drei starken Frauen´ auszeichnet. Und dies ist 
        eine Meisterleistung." --- Die Preisträger 2011 
        sind der russische Schriftsteller Michail Schischkin und der 
        Übersetzer Andreas Tretner. - Die Jurybegründung für 
        den Preisträger /  Autor: "Mit Venushaar
        ist Michail Schischkin ein Roman von stupender Komplexität und 
        betörender Vielfalt gelungen. Als Lotse und zentrale Gestalt figuriert 
        der `Dolmetsch´, ein Alter ego des Autors, der für die schweizerische 
        Einwanderungsbehörde arbeitet. Die Geschichten von Gewalt und 
        Vertreibung, die er aus dem Mund tschetschenischer und anderer 
        Gesuchsteller zu hören bekommt, vermischen sich mit eigenen Erinnerungen 
        an die Moskauer Kindheit und mit der Lektüre von Xenophons Kriegsbericht 
        `Anabasis´ . In kühner Schnitttechnik werden diesem Erzählstrang zwei 
        weitere hinzugefügt: die autobiographische Reminiszenz des `Dolmetsch´ an 
        seine Liebe zu `Isolde´ und die schmerzliche Trennung von ihr sowie das 
        fiktive Tagebuch der russischen Sängerin Isabella Jurjewa, das aus persönlicher Sicht ein Jahrhundert russischer Historie 
        mit Revolution, Bürgerkrieg, Stalinzeit wiedergibt. Die Aufzeichnungen - 
        sie hätten dem `Dolmetsch´ als Material für eine Biographie dienen 
        sollen - zeichnen sich durch Spontaneität und den Gebrauch der Ich-Form 
        aus, was den Stimmenchor des Romans erweitert und auffrischt. Zu dieser 
        Vielstimmigkeit gehören auch zahlreiche Anspielungen und (verdeckte) 
        Zitate, was sich in verschiedenen Redeweisen, Sprachgesten und Stilvarianten niederschlägt. - 
		Venushaar ist ein Roman über private, 
        gesellschaftliche und politische Verwerfungen, er thematisiert Krieg, 
        Flucht, Exil, er feiert aber auch den Zauber der Liebe und der 
        Erinnerung und steht für die Kraft des Wortes, wie schon das Motto 
        suggeriert: "Denn durch das Wort ward die Welt erschaffen, und durch das 
        Wort werden wir einst auferstehen." Schischkin zeigt sich als 
        Sprachkünstler ersten Ranges: nicht nur hat er eine einzigartige 
        Romanform entwickelt, er spielt mit wechselnden Perspektiven und 
        Einstellungen, mit unterschiedlichsten verbalen Registern und Stillagen, 
        er beherrscht poetische, satirische, elegische und sarkastische Tonarten 
        und brilliert mit überraschenden Details. Man liest eine Chronik der 
        Gewalt und eine Liebesgeschichte, ein Künstlertagebuch und ein 
        Verhörprotokoll und beweg sich zugleich in einem intertextuellen Gewebe, 
        das diesen Roman - über seine herausragende Qualität - hinaus 
        weltliterarisch verortet." - Die Jurybegründung für den 
        Preisträger / Übersetzer: "Michail Schischkins Roman Venushaar zeichnet 
        sich durch thematische Komplexität und eine grosse Vielfalt von 
        Redeweisen, Sprachgesten und Stilvarianten aus. Zur Sprache kommen 
        tschetschenische Flüchtlinge (als Gesuchsteller bei der schweizerischen 
        Einwanderungsbehörde) und deren `Vernehmer´, der in assoziativen 
        Erinnerungen sich ergehende `Dolmetsch´ und die 1899 geborene russische 
        Sängerin Isabella Jurjewa, in deren (fiktiven) Tagebuchaufzeichnungen 
		sich Epochenschilderungen kontrastreich mit palindromischen 
        Wortspielereien abwechseln. [Palindrom: Wort oder Wortreihe, die vor- 
        und rückwärts gelesen, einen Sinn ergibt. Ein solches Wort oder eine 
        solche Wortreihe habe ich im Text nicht bemerkt!] Zu diesem Stimmenchor 
        gesellen sich zahlreiche Anspielungen und (verdeckte) Zitate, die ein 
        komplexes intertextuelles Gewebe bilden. Andreas Tretner ist es auf  
        virtuose Weise gelungen, die Bezüglichkeiten aufzudecken und die 
        unterschiedlichen Sprachregister und -masken abzubilden. Bibel und 
        Verhörton, elegische Liebesreminiszenz und Jargon der Gewalt, poetische 
        Introspektion [Selbstbeobachtung] und Xenophonsche Archaik finden eine 
        plastische Wiedergabe. Als besonders anspruchsvoll erwiesen sich die 
        brüsken Stil- und Rhythmuswechsel, die oft einen einzigen Satz polyphon 
        erklingen lassen. Mit wachem Ohr hat Andreas Tretner jede Sprachbewegung 
        subtil nachvollzogen und damit die enorme Detailarbeit, die in diesem 
        allseits überraschenden Roman steckt, optimal zur Geltung gebracht. Eine 
        meisterliche Übersetzung eines Meisterwerks." - Der Jury (Ramón 
        Garcia-Ziemsen - Leiter der Kulturredaktion, Deutsche Welle -, Marie 
        Luise Knott  - Kritikerin / Übersetzerin -, Claudia Kramatschek 
        -Literaturkritikerin / Kulturjournalistin -, Lothar Müller - Redakteur, 
        Feuilleton Süddeutsche Zeitung -, 
        Ilma Rakusa - Schriftstellerin / 
        Übersetzerin / Publizistin -, Susanne Stemmler - Leiterin Bereich 
        Literatur, Haus der Kulturen der Welt) -, Stefan Weidner - Autor / 
        Übersetzer / Literaturkritiker) lagen 111 Titel vor, eingereicht von 
        deutschsprachigen Verlagen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, 
        übersetzt aus 24 Sprachen, deren Originalausgaben aus über 50 Ländern 
        stammen. Daraus wurden  sechs Titel für die Shortlist nominiert, 
        darunter Michail Schischkins Venushaar.   *** 
		Das Museum für die Kunst der Leibeigenen 
		ist ein Landgut und Herrenhaus mit der Kunstsammlung des Grafen 
		Scheremetjew aus dem 18. Jahrhundert in Ostankino bei Moskau. Als 
		ideologischen Vorwand, um den Erhalt zu sichern und die Restaurierung zu 
		ermöglichen, entwarf ein findiger Museumsdirektor nach der Revolution 
		1917 die zugespitzte Legende, Leibeigene hätten das Palais und seine 
		Einrichtung geschaffen. Die Bezeichnung des Museums blieb bis in die 
		neunziger Jahre erhalten, schreibt Andreas Tretner in seiner Anmerkung. 
		Und so erfahre ich 2011, dass auch ich 1983 "angeschmiert" 
		worden bin, als 
		ich die Kunst der Leibeigenen gebührend bestaunte... 
          |  | Weitere Rezensionen zum Thema "Russland": 
 
 |  |       
          Roland Bathon / Sandra Ravioli, Russland auf eigene Faust. Ratgeber für Urlaub und Business.
          Lewis Carroll, Tagebuch einer Reise nach Russland im Jahre 1867.
          Kurt Drawert / Blaise Cendrars, Reisen im Rückwärtsgang.
          Claudia Erdheim, Eindrücke.
          Andrea Hapke / Evelyn Scheer, Altrussische Städte. Moskau und der Goldene Ring.
          Natalia Liublina / Christian Skreiner, Russland A-Z /
              Россия A-Я. EUROPA ERLESEN.
          Barbara Löwe, KulturSchock Russland.
          Edeltraud Maier-Lutz, Flußkreuzfahrten in Rußland.                  
          Sonia Mikich, Planet Moskau.
          Thomas Roth, Russisches Tagebuch.
          Gregor M. Schmidt / Christa Damkowski, Moskau und der Goldene Ring.
          Dietmar Schumann, An der Lena flußabwärts.
          Elfie Siegl, Russischer Bilderbogen. Reportagen aus einem unbegreiflichen Land.        
           |  | Am                ins Netz gestellt.  
          Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet. |  | Wer rbis. |  | Sprichwort der Russen |  
 |