Belletristik REZENSIONEN

Loslösung von althergebrachter Tradition

Kyrgyse
Liebesgeschichten
Dshamilja / Du meine Pappel im roten Kopftuch / Aug in Auge
Aus dem Russischen von Hartmut Herboth und Juri Elperin
Unionsverlag, Zürich 2000, 255 S.

Der kyrgysische Schriftsteller Tschingis Aitmatow (1928 bis 2008) ist u. a. bekannt für seine berührenden Liebesgeschichten. Als "Die schönste Liebesgeschichte der Welt" (Louis Aragon) gilt Dshamilja, von Aitmatow 1958 geschrieben als Abschlussarbeit am Moskauer Gorki-Literaturinstitut. "Dshamilja" handelt von der tiefen Zuneigung zwischen der jung verheirateten Dshamilja und dem kriegsversehrten Danijar, mit dem sie allen Konventionen zum Trotz ihr Dorf verlässt.

Du meine Pappel im roten Kopftuch, geschrieben 1961, erzählt ebenfalls von der Bereitschaft, sich von Althergebrachtem loszusagen. Obwohl der Termin für Asseljs Hochzeit bereits feststeht, flieht sie mit dem Fernfahrer Iljas, um ein selbst bestimmtes Leben zu führen. Obwohl sie sich beide und beide den kleinen Sohn Samat von Herzen lieben, geht ihre Beziehung durch unglückliche Umstände in die Brüche.

Aug in Auge ist Aitmatows Erstling, geschrieben 1957: Ismal ist heimlich als Deserteur von der Front zurückgekehrt und wird von seiner aufopferungsvollen Frau versteckt. Doch der Krieg, Das-sich-verstecken-Müssen in einer Höhle, die ständige Angst entdeckt zu werden, Hunger und Kälte haben Ismail völlig verändert. Als sich herausstellt, dass er der Nachbarin, die drei kleine Kinder hat und deren Mann in Stalingrad gefallen ist, ihre einzige Kuh gestohlen hat - da verrät ihn seine ob dieser Entdeckung grauhaarig gewordene junge Frau. In seinem Buch "Kindheit in Kirgisien" schreibt Aitmatow, dass seiner Familie während des Krieges eine Kuh gestohlen wurde. Er sei damals so wütend gewesen, dass er die Diebe - hätte er sie gefunden - am liebsten umgebracht hätte.

Mit dem Thema "Vaterlandsverräter" hat Tschingis Aitmatow noch zu Sowjetzeiten mit einem Tabu gebrochen. Ich weiß nicht, ob Aitmatow auf Seiten des Deserteurs ist? Nachdem ich eine Vielzahl von Büchern über den zweiten Weltkrieg gelesen habe und insbesondere über die Schlacht von Stalingrad, kann ich die Deserteure dieses Krieges nicht verurteilen, kann verstehen, dass das Grauen sie fliehen ließ...

Ich empfinde es als ein großes Verdienst des Zürcher Unionsverlages, diese drei wunderbaren Liebesgeschichten Tschingis Aitmatows in einem Band (Taschenbuch 174) vereint zu haben. Aber ich bin nachdenklich gestimmt: Siebzig Jahre lang gehörte Kirgisien als eine von fünfzehn Sowjetrepubliken zur Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR), bis das Jahr 1991 dem Land - zumindest auf dem Papier - Selbstbestimmung und Demokratie brachte. Heute heißt das einst russifizierte Kirgisien Kyrgysstan und ist ein eigener Staat. Was wäre Dshamilja heute? Kellnerin in einer Bar mit Coca Cola-Sonnenschirmen? Würde Iljas, da der staatseigene Fuhrpark nicht mehr existiert, an der Grenze zu China Schmuggelhandel treiben? Wären Sejde, Myrsakul, Kurman heute arbeitslos? Die Kyrgysen verübeln es Aitmatow, dass er über die neue Freiheit, die prekäre geographische Lage Kyrgysstans, sowie über die Nähe zu Afghanistan, bis jetzt nichts geschrieben hat. Nach einer Lesung im Haus der Russischen Kultur in der Berliner Friedrichstraße sagte er 2003: "Der Tag, an dem ich mich nicht mehr aufrege und quäle, mich beruhige, nicht mehr suche, wird der schwerste Tag meines Lebens sein." Vielleicht schreibt der Siebenundsiebzigjährige ja schon an Geschichten über Menschen im heutigen Kyrgysstan.

Das Hörbuch zum Buch!


Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de
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Am 03.02.2005 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 16.01.2017.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist der unterschiedlichen Schreibweise der Verlage geschuldet.

Der Greis kennt den Brauch, wie der Falke die Ente.
Sprichwort der Kyrgysen

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