Sachbuch REZENSIONEN

Ein Titanenkampf voller Wahnsinn,
Mitleidslosigkeit und Tragik

Engländer; über Stalingrad
Stalingrad
Aus dem Englischen von Klaus Kochmann
Mit zahlreichen Abbildungen
C. Bertelsmann Verlag, 2. Auflage, München 1999, 544 S.

(Rezensiert, entsprechend dem Gästebuch-Eintrag von Peter Gaum.)

Berichtet Plievier über Stalingrad ausschließlich aus deutscher Sicht, Nekrassow aus russischer, so ist Stalingrad von Beevor das Werk  eines Ausländers (Engländers), der an der Schlacht nicht teilgenommen hat. Antony Beevor ist Militärhistoriker. Nach einer fünfjährigen Offizierslaufbahn in der britischen Armee, trat er aus der Armee aus und ging für zwei Jahre nach Paris, wo er seinen ersten von vier Romanen schrieb. Danach machte er sich vor allem mit Sachbüchern über Militärgeschichte einen Namen. Sein Stalingrad - eines von sechs Sachbüchern - war 1999 in neunzehn Ländern auf dem Markt.

In seinem umfänglichen Buch interessieren Beevor nicht in erster Linie die militärischen Strategien, sondern Gefühle, Schicksale, letzte Spuren jener Verdammten auf beiden Seiten, "die in Dreck, Eis, Kugelhagel und Hunger elendig umkamen". Während einer Buchlesung in den Berliner Ministergärten erzählte Antony Beevor, dass sich sein Werk auf zahlreiche bisher unzugängliche Quellen stütze: auf Briefe von Soldaten beider Seiten, die nie ankamen, auf Berichte von Desertionen und Exekutionen, auf abgefangene deutsche Dokumente, Berichte von Kriegspfarrern, Verhörprotokolle von Gefangenen, private Tagebücher, medizinische Akten sowie Interviews mit Beteiligten und Zeitgenossen. Die Vielfalt der Quellen, meinte Beevor, sei wichtig, um die Beispiellosigkeit dieses Titanenkampfes und seine Auswirkungen auf jene Soldaten zu begreifen, die mit wenig Hoffnung auf Entrinnen in ihn verwickelt waren.

Ein Leser aus dem Publikum fragte Beevor, wie er sich die russischen Unterlagen erschlossen habe? Beevor: "Man zeigte mir in Russland alles, was ich sehen wollte." Gar nicht genug schwärmen kann Beevor von seiner Dolmetscherin Ljuba. "Jetzt", so behauptete der Autor, würden sich (unter Putin) die Archive wieder schließen; denn noch immer gäbe es Tabuthemen. Ein solches Tabuthema zum Beispiel sei die Tatsache, dass 50 000 Sowjetbürger in deutscher Uniform auf deutscher Seite kämpften. Bei der Lektüre von Luks "Geschichte Russlands und der Sowjetunion" konnte ich noch nicht glauben, was ich da zum Thema "Überläufer" las...

Als eine der reichhaltigsten Quellen bezeichnete Beevor das Zentralarchiv des russischen Verteidigungsministeriums in Podolsk. Hier fand er Berichte, die täglich von der Stalingradfront an Alexander Schtscherbakow, den Leiter der Politischen Abteilung der Roten Armee in Moskau, geschickt wurden - über heldenhafte Taten und "außerordentliche Ereignisse" wie Desertion, Überlaufen zum Feind, Feigheit, Inkompetenz, Selbstverstümmelung, antisowjetische Agitation, Trunkenheit... "Die sowjetischen Behörden ließen etwa 13 500 ihrer eigenen an den Kämpfen um Stalingrad beteiligten Soldaten aus solchen Gründen hinrichten - dies entspricht mehr als einer ganzen Division."

Stalingrad ist in fünf Teile gegliedert, mit dem Unternehmen "Barbarossa" beginnend und endend mit der Unterwerfung der sechsten deutschen Armee. Es gibt soviel Erschütterndes, Unmenschliches in diesem Buch, dass man gar nicht erst in Versuchung gerät, Beispiele zu zitieren.  Stattdessen will ich eine Episode zitieren, die klarmacht, dass die Menschen in der deutschen Heimat nicht die geringste Vorstellung von dem hatten, was die deutschen Soldaten an der Front durchmachten: Krank, mit erfrorenen Gliedern, seit Tagen ohne Nahrung, verlaust und verzweifelt, kommt endlich ein Flugzeug aus Deutschland mit Lebensmitteln an Bord. Doch nach der Entladung stellt sich heraus, dass die "Lebensmittellieferung" ausschließlich Majoran und Pfeffer enthält...

Stalingrad ist sehr gewissenhaft recherchiert und zugleich packend erzählt; nicht umsonst ist Antony Beevor gleichermaßen Romancier wie Historiker. Besonders erstaunlich Beevors objektive Sicht sowohl auf die eine als auch auf die andere Seite. Alle seine Fakten und Überlegungen sind frei von Ressentiments. Der Autor berichtet ausgewogen, ohne je Zweifel zu lassen, von wem der Krieg ausging. Ausführlich erzählte Beevor seinen Zuhörern während seiner Buchvorstellung davon, wie groß die Versuchung war, sich als Autor urteilend und bewertend einzumischen... Er tut es an keiner Stelle dieses großartigen Buches, das die alltäglichen furchtbaren Erlebnisse der Kriegswirklichkeit mit dem großen Erzählvermögen des Romanciers verbindet. Die Geschichte der Schlacht von Stalingrad wie sie besser noch nicht geschrieben wurde!

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de
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  • Heinrich Hoffmeier, Ich habe keine Hoffnung mehr. Soldatenbriefe aus Russland 1942-1943.
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  • Viktor Nekrassow, Stalingrad.
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  • Theodor Plievier, Stalingrad, Hörbuch.
  • Willy Peter Reese, Mir selber seltsam fremd. Russland 1941-44.
  • Carl Schüddekopf, Im Kessel, Erzählen von Stalingrad.
  • Alexander Solschenizyn, Heldenleben. Zwei Erzählungen.

Am 16.12.2004 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 12.01.2017.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Kommt der Wodka in die Hütte, geht der Verstand hinaus.
Sprichwort der Russen

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