Belletristik REZENSIONEN

"Ich bin doch kein Masochist."

Russe
Champagner mit Galle
Erzählungen
Aus dem Russischen von Renate und Thomas Reschke
Aufbau-Verlag, Berlin 1997, 240 S.

Friedrich Gorenstein, 1932 in Kiew geboren, verlor früh seine Eltern, und wuchs zunächst in einem Waisenhaus, dann bei Verwandten im Kaukasus und in der Ukraine auf. Der Vater starb, nachdem er versucht hatte, aus einem stalinistischen Lager auszubrechen, die Mutter überlebte zwar den Holocaust, starb aber 1943 in einem Orenburger Krankenhaus. Gorenstein wuchs in Waisenhäusern auf, arbeitete als Hilfsarbeiter und absolvierte später ein Studium am Institut für Bergbau in Dnepropetrowsk. Mit dreißig Jahren gelangte er an das Moskauer Filminstitut und schrieb Drehbücher. Da seine Werke nicht gedruckt wurden, entschloss er sich 1977 zur Publikation im Ausland, in Emigrantenverlagen, was weitere Pressionen gegen ihn nach sich zog. 1979 beteiligte er sich an dem Anti-Zensur-Almanach "Metropol". 1980 emigrierte er nach West-Berlin, wo er seither lebt. Als russischer Jude? "Nein", sagt Gorenstein, "ich bin ein russischer Schriftsteller. Meine Kultur ist russisch. Entscheidend ist immer die Sprache. Heinrich Heines Gedichte sind zu deutschen Volksliedern geworden, nicht zu jüdischen."

Von Gorenstein, einem der großen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts,  erschienen in deutscher Übersetzung der Roman "Die Sühne" (1979), der Erzählband "Die Straße zum schönen Morgenrot" (1991), die Romane "Psalm" (1992), "Abschied von der Wolga" (zusammen mit Wassilij Rosanow, 1992), der philosophisch-erotische Roman "Tschok-Tschok (1993), "SKRJABIN" (1994), "Reisegefährten" (1995), "Der Platz" (1995), "Malen, wie die Vögel singen" (1996). So Schlag auf Schlag konnten Gorensteins Bücher nur deshalb erscheinen, weil er die Manuskripte zum Teil seit Jahrzehnten in der Schublade liegen hatte...

Mit Champagner und Galle liegt ein neuer Band mit älteren Erzählungen aus den sechziger und achtziger Jahren vor - ein Nachholeband sozusagen, aber einer, der sich zu lesen lohnt.

Die erste Erzählung "Das Haus mit dem Türmchen" schrieb Gorenstein 1963, wurde 1964 in der Moskauer Zeitschrift "Junost" als seine erste (und bis 1990 einzige) literarische Arbeit in der Sowjetunion veröffentlicht. Die Handlung spielt im dritten Kriegsjahr. Der Junge - er ist für den Leser namenlos, heißt nur "der Junge" - und seine Mutter fahren auf der Suche nach dem Großvater mit einem Güterzug. Unterwegs stirbt die Mutter an Typhus. Außerordentlich bewegend hat Gorenstein beschrieben, wie sich die fremden Fahrgäste dem Jungen gegenüber verhalten: unmenschlich-rücksichtslos die einen, menschlich-mitleidig die anderen. "In dieser tragischen Zeit ist es aber auch schwer, ein Mensch zu sein..." Lass dich nicht unterkriegen, rät ein Fahrgast dem Jungen. Und da die Erzählung mit einem allerersten Lächeln des Jungen schließt, kann der Leser hoffen, dass sich der Junge im Leben tatsächlich behaupten wird.

Der Erzählband enthält noch eine frühe Geschichte Gorensteins, eine, die - obwohl bereits 1966 geschrieben - erst mit diesem Band das Licht der Lesewelt erblickt. "Das Gespräch" findet nach einer Prügelei um ein Mädchen statt. Danach sprechen der kraftstrotzende Seemann und der schwächliche Intellektuelle "wie Brüder" darüber, wie man leben soll, wenn es nicht nur für den heutigen Tag ist. Es wäre so schade nicht gewesen, wäre diese kleine Erzählung ungedruckt geblieben.

Umso einrucksvoller sind die vier folgenden Geschichten, alle zwischen 1984 und 1987 schon in West-Berlin geschrieben. Alle spielen noch in der alten Heimat, alle beschreiben antisemitischen Druck und jüdisches Anpassungsverhalten. Amüsant (aber nicht nur amüsant) die Erzählung "Iskra", in der sich Lejkin, der Weißjude (was immer das ist), mit einem Drehbuch über Lenin abquält. Tragisch "Auf dem Bahnhof", wo es in einer Kommunalwohnung im wahrsten Sinne des Wortes zu Mord und Totschlag kommt, und Sazepa, der singend mit jüdischem Jargonakzent spricht, erschlagen wird. Tragikomisch "Der kleine Obstgarten", wo sich die jüdischen Kollegen Wenja Apfelbaum, Sascha Birnbaum und Rafa Kirschenbaum durch Russenhass auszeichnen und Ausreisewünsche hegen. Trostlos die Titelerzählung, der ein Zitat aus der Apostelgeschichte vorangestellt ist: "Denn ich sehe, dass du bist voll bitterer Galle und verknüpft mit Ungerechtigkeit." Der Hauptheld ist hier der Theaterregisseur J., aus einem für Juden bestimmten Ansiedlungsbezirk stammend. Als er zur Erholung auf der Krim ist, befreundet er sich mit einem Schuhmacher aus Litauen, einem Juden wie er selbst. Doch bald durchschaut J. ihn und empfindet einen charakterlosen Juden ekelhafter als einen russischen Pogromstifter. Er muss sich erbrechen - Champagner mit Galle... Da Gorenstein nach 1964 in der Sowjetunion nicht mehr gedruckt worden war, schrieb er Drehbücher, um seinen Lebensunterhalt zu sichern. Andererseits wählte der Regisseur Juri Vexler Gorensteins 1986 in Berlin geschriebene Erzählung "Champagner mit Galle" als Grundlage für eine Theaterinszenierung.

Gorenstein, da sind sich die Literaturkritiker einig, befindet sich in literarischer Gesellschaft von Gogol, Dostojewskij und Gontscharow. Leicht und glaubwürdig bringt er Absurdes, Groteskes und Tragisches unter einen Hut. Fast immer verknüpft er Autobiographisches mit philosophisch-religiösen Betrachtungen.

In einem Interview, das eine große Berliner Tageszeitung veröffentlichte, wird Gorenstein gefragt, ob er gedenkt, nach achtzehn Jahren deutscher Emigration (1979 ermöglichte ihm ein Stipendium des DAAD die Ausreise in die Bundesrepublik) nach Russland zurückzukehren. Seine Antwort: "Ich bin doch kein Masochist. In Deutschland erfuhr ich zum ersten mal, was es bedeutet, eine eigene Wohnung zu haben. In Russland habe ich noch meine alten Feinde, zu einem nicht kleinen Teil übrigens selbst Juden. Die stehen jetzt auf der liberalen Seite, erweisen sich aber bei genauerem Hinsehen weiterhin als totalitär." Nach fast zwei Jahrzehnten Deutschland-Aufenthalt verarbeitet Gorenstein noch immer Stoff aus seiner russischen Heimat. So wird es aber nicht bleiben; denn seit Jahren schon arbeitet er an einem Buch über den Krieg und das heutige Deutschland. "Dafür muss ich noch viel lesen. Auch in gotischer Schrift. Jedenfalls auf Deutsch." Leider ist es zu dem Buch über Deutschland nicht mehr gekommen, Friedrich Gorenstein starb im März 2001).

In besagtem Interview nennt Gorenstein es eine Anmaßung, dass sich Solschenizyn als Stimme Russlands empfindet und schätzt nur einige wenige seiner ersten Erzählungen als gut ein; Lew Kopelew war nach Meinung Gorensteins einer, der sich größer machte, als er war; die weltberühmten Liedermacher Wyssozki und Okudshawa waren es seiner Meinung nach nicht wert, dass ihnen eine ganze Generation hinterhergelaufen ist... Wie gut muss der Schriftsteller Friedrich Gorenstein sein, dass eine (nämlich ich), die Solschenizyn mag, Lew Kopelew hoch schätzt und Wyssozki und Okudshawa durchaus hinterhergelaufen ist, seine (verbitterten?) Äußerungen wegsteckt?

Sehr gut muss er sein.

Er ist es.

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

 

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Am 18.01.2002 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 20.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Vom Glück zum Unglück ist nur ein kleiner Schritt,
vom Unglück zum Glück braucht´s viele Tagesreisen.
Sprichwort der Russischen Juden

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