Belletristik REZENSIONEN

...nichts anderes als ein genialer russischer Komponist?

Russe
SKRJABIN
Poem der Ekstase
Aus dem Russischen von Hartmut Herboth
Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar 1994, 189 S.

Innerhalb weniger Tage begegnete mir beim Lesen von inhaltlich ganz unterschiedlichen Büchern viermal hintereinander der Name Skrjabin: In dem historischen Roman "Russka" von dem Engländer Rutherford, in der Familienkorrespondenz von Boris Pasternak "Eine Brücke von Papier", bei Vladimir Sorokin in "Der himmelblaue Speck" und bei dem Engländer Richard Lourie in seiner Biographie über "SACHAROW"*. Da griff ich, neugierig geworden, zum Buch SKRJABIN, das ich sieben Jahre zuvor erworben hatte.

Alexander Skrjabin (1872-1915) war der Sohn eines russischen Diplomaten und einer in Russland bekannten Pianistin. Eine seiner Tanten ersetzte dem Jungen die Mutter, die bald nach seiner Geburt gestorben war, und erzog ihn mit betonter Behutsamkeit. Überdurchschnittliche geistige und spezielle künstlerische Begabung sowie eine fast schon krankhaft gesteigerte Sensibilität kennzeichnen Skrjabins Entwicklung. Neben der von der Familientradition diktierten Kadettenausbildung bereitete er sich gründlich auf das Studium am Moskauer Konservatorium vor; zum Abschluss des Klavierstudiums erhielt er (1892) die Goldmedaille, da war er zwanzig Jahre alt. Der junge Pianist wurde von dem Verleger und Mäzen Mitrofan Beljajew auf eine ausgedehnte Europatournee geschickt, die  überaus erfolgreich verlief. Aber dann verlor Skrjabin im pianistischen Wettstreit mit Lewin durch unkontrolliertes Üben die Spielfähigkeit der rechten Hand. Die Ärzte sahen keine Hoffnung auf Besserung. Doch Skrjabin kapitulierte nicht. Er wendete sich zwar stärker der Komposition zu, sah in ihr die Möglichkeit, seine ästhetischen und weltanschaulichen Vorstellungen zu gestalten, arbeitete aber zugleich hart, jedoch dosiert an der Wiederherstellung seiner pianistischen Leistungsfähigkeit. Ab 1895 konnte er wieder auftreten, musste sich freilich jetzt mehr auf das virtuose Können seiner linken Hand verlassen. Diesen Sieg seines Willens wollte Skrjabin allen Menschen verkünden. Dabei genügten ihm herkömmliche Möglichkeiten nicht. Neben Orchester, Chor und Soloinstrumenten bezog er Farben und Bewegung in seine Vorstellungen ein. Er war einer der revolutionierendsten Komponisten und Pianisten in der Musikgeschichte um die Jahrhundertwende. Um 1900 entwickelte Skrjabin einen eigenen kühnen Klangstil, der die gesellschaftlichen Konflikte und Widersprüche im Russland vor und während der Revolution von 1905 in subjektiver Sicht widerspiegelt. Sein "Poem der Ekstase" für Orchester zeugt von der unruhevollen Atmosphäre vor der Oktoberrevolution. Bei einer Begegnung mit dem russischen Politiker Plechanow sagte Skrjabin: "Erst jetzt erkenne ich, was mich zu der Musik zu meinem Poem der Ekstase inspiriert hat: Das Blut der Revolution und das Übel des Zarismus!"

Den hochsensiblen und genialen, aber auch exaltierten und provozierend selbstbewussten Musiker ("Mein Ziel sind Glanz und Ruhm [...], dafür bin ich geboren.") bringt uns der exzellente Erzähler Friedrich Gorenstein (1932-2001) sehr eindringlich nahe. Gorensteins Roman ist keine Musikerbiographie in herkömmlichem Sinne, sondern es reihen sich biographische Fixpunkte, Begebenheiten, Begegnungen aneinander und lassen so das Bild eines Künstlers entstehen, der von urgewaltigem Schöpferdrang erfüllt war und von seiner Mission eines Erneuerers der Musik: "Was habe ich nicht alles für Träume... Nicht Träume, sondern Visionen, Schemen, die Gestalt annehmen... Das ist ein wundervolles Gefühl, das sind Klänge in Bildern." Skrjabin sah die Zukunft der Musik in einer phantastischen Verschmelzung von Musik, Religion und Philosophie. Um nach seinem "Poem der Ekstase" ein göttliches Mysterium, das die Welt verändert, zu schaffen, "muß [ich] vielleicht sehr, sehr lange leben...". Die Wirkung Skrjabins auf viele Zeitgenossen muss ungeheuer gewesen sein. "In den Schicksalsstunden der Läuterung und des Sturms haben wir Skrjabin über uns emporgehoben, dessen Sonnenherz über uns brennt...", schrieb Ossip Mandelstam 1915 in seinem Aufsatz " Puschkin und Skrjabin".

Friedrich Gorenstein erschließt uns den oft sehr komplizierten Menschen und unbequemen Künstler (den manche für verrückt hielten) vorrangig im Gespräch mit seinen Freunden (den "Skrjabianern" oder "Aposteln"). In erster Ehe mit Vera Iwanowna verheiratet, hat er vier Kinder. Als seine Lieblingstocher Rimmotschka an Darmverschlingung stirbt, leidet er fürchterlich. Um so unverständlicher, dass er nach der Trennung von seiner Frau keinen Kontakt zu seinen drei anderen Kindern unterhält, nur weil deren Mutter bei einer Begegnung mit den Kindern dabei sein will. Inzwischen hat Skrjabin mit seiner Geliebten Tatjana Schloezer zwei weitere Kinder. Es erfreut uns Leser, dass Tatjana Fjodorowna Schloezer, obwohl Vater und Freund ihn vor dieser Frau warnen, ihm bis zu seinem viel zu frühen Tod eine treue Kameradin war.

Skrjabins göttliches "Mysterium", eine Sinfonie in Flammen, hat Skrjabin nicht mehr vollenden können. Er, der sein Leben lang so sehr auf Reinlichkeit bedacht war, panische Angst vor Bazillen und Mikroben hatte ("Die Wiese ist wunderschön, aber sich einfach hinzusetzen, wäre doch unhygienisch." - "Das Kind darf nichts essen, was zuvor auf dem Tischtuch gelegen hat! Jede Tischdecke ist voller Mikroben!") starb mit dreiundvierzig Jahren an den Folgen einer Blutvergiftung. In Skrjabins "Mysterium" sollte alles vereint sein: "(...) eine Farbsinfonie, eine fließende Architektur - keine grobe materielle, sondern eine ätherisch transparente - und eine Sinfonie der Düfte, denn es werden nicht nur Lichtsäulen vorhanden sein, sondern auch Duftsäulen. Und dazu kommen die Farben der Sonnenaufgänge und -untergänge, denn das Mysterium wird sieben Tage dauern." In einem Gespräch mit einem seiner Freunde bekannte Skrjabin: "Ich würde die Stunde nicht überleben, in der ich die Überzeugung gewänne, daß ich das `Mysterium´ nicht komponieren werde."

Als Skrjabin tot ist, ohne das (irreale) "Mysterium" vollendet zu haben, sagt Leonti Michailowitsch, ein Amateurmusiker und Musikkritiker zu Skrjabins behandelndem Arzt: "Er wollte ein Gott sein, wollte die ganze Welt entzünden und ist selbst an einem unscheinbaren Furunkel, an ein paar Streptokokken zugrunde gegangen. Was für eine böse, erschreckende Ironie des Schicksals... Wir, seine Freunde, hätten ihm zu Lebzeiten sagen sollen: Alexander Nikolajewitsch, Sie sind kein Gott, kein weltweiter Messias, kein neuer Christus, Sie sind nichts anderes als ein genialer russischer Komponist - begnügen Sie sich damit, schätzen Sie diese Gabe."

Nach der Chagall-Biographie "Malen, wie die Vögel singen" ist auch SKRJABIN der gelungene literarische Versuch Gorensteins, sich einem gigantischen Künstler subjektiv zu nähern.

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

 *  Vier Jahre später lese ich in "Der Tänzer" von dem Iren Colum McCann, dass auch der begnadete tatarische Tänzer Rudolf Nurejew ein glühender Verehrer Skrjabins war.

Und acht Jahre später begegnet mir Skrjabin in "Venushaar" von Michail Schischkin.

 

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Am 18.12.2003 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 20.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Dem Glück geht Neid zur Linken, Kummer zur Rechten.
Sprichwort der Russen

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