reiseliteratur-bildbände REZENSIONEN

"Satte Menschen reisen nicht."

Deutscher; über Aserbaidshan
Kuckucksuhren in Baku
Reise in ein Land, das es wirklich gibt.
Droemer Verlag, München 2006, 253 S.

In seiner Homepage wendet sich Ingo Petz an die "Lieben Bildungsbürgerinnen und Bildungsbürger". An die im Westen? Denn die ehemaligen DDR-Bürger kann er - "aufgewachsen im tiefsten Westen Deutschlands" - in seinem Buch nicht meinen, wenn er schreibt: "Im Kapitel Tourismus hatte ich erfahren, dass es vor 120 Jahren noch sehr wenige `Vergnügungsreisende´ im Kaukasus gab, Aserbaidschan aber in der Sowjetunion das Image eines Bade- und Urlaubslandes hatte." Das habe ihn, schreibt Petz weiter, ungemein beruhigt: "Auch vor mir hatten Menschen den Weg nach Aserbaidschan gefunden." Vor 120 Jahren? Ingo Petz ignoriert dabei ganz lässig (oder weiß er es nicht besser?) die DDR-Bürger; denn zu DDR-Zeiten haben auch schon deutsche (DDR-)Menschen im schönen Aserbaidshan ihren wohlverdienten Urlaub verbracht - obwohl sie keine "Turkologen, Kaviarhändler und Ölexperten" waren. Und erst die DDR-Journalisten! Ich zum Beispiel hatte mich 1968 im Auftrag der FREIEN WELT auf den Weg gemacht - mit Bildreporter Heinz Krüger und Moskau-Begleiter Johann Warkentin - um 1968 auf den Spuren zu wandeln, die Delegierte der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) mit Gesinnungsgenossen in dieser fernen Sowjetrepublik in den dreißiger Jahren gelegt hatten. 

(Während einer Buchlesung in der Sprachenschule der Berliner Frankfurter Allee sprach ich Ingo Petz auf diesen vauxpax an. Seine Antwort: "Ich habe mir nichts dabei gedacht." Inzwischen wohnt Petz im Bezirk Friedrichshain und wird - so ist zu hoffen - in seinen Formulierungen ein bisschen ost-sensibler werden...)

Ingo Petz, zweiunddreißig Jahre alt, hat Osteuropäische Geschichte studiert, außerdem Slawistik und Politik in Köln und Wolgograd (dem ehemaligen Stalingrad) und schreibt heute für die "Süddeutsche Zeitung" und für "brand eins". Wir erfahren aus seinem Buch mit dem für ostdeutsche Menschen geradezu unverständlichen Untertitel Reise in ein Land, das es wirklich gibt eine ganze Menge: dass es nicht zu Russland gehört, dass es im Osten liegt ("Im Osten! Erschrecken Sie nicht."), wie man zu einem Visum kommt. Im Land angekommen, erzählt Petz über Aserbaidschans Hauptstadt Baku, deren Altstadt ich noch mit wenig Autoverkehr im orientalischen Glanz erlebt habe, Gorki sehr wohl verstehend, der Bakus Schönheit mit der Neapels verglich. Heute, so Petz, ständen hier die maroden, einst prächtigen Stadthäuser der ehemaligen Ölbarone, und es gäbe grelle Eindrücke und schrille Szenarien, Reklame zum Beispiel für Coca Cola auf Schritt und Tritt. Petz erzählt auch viel über Russlanddeutsches, so über den Schwabendeutschen Ingo Stein, der (auf  S. 86) zu (Ingo) Klein mutiert und über den deutschstämmigen Meisterspion Richard Sorge*, der getarnt als Mitarbeiter der "Frankfurter Zeitung" Stalin vor Hitlers Angriff auf die Sowjetunion gewarnt hatte; leider war seine Warnung vom selbstsüchtigen Stalin ignoriert worden. Auch über Kaviar, "die hundsteuren Fisch-Kügelchen" lässt sich Petz trefflich aus, auch über das berühmte kaspische Öl ("das Bakus  Schicksal ist") und nicht zuletzt über die nicht übersehbaren güldenen Zähne der ehemaligen Sowjetbürger.

Gefreut hat mich, dass Ingo Petz den Dichter Nizami (1141-1209) als einen der berühmtesten Schriftsteller Aserbaidschans erwähnt, wird er doch meist  (falsch) als persischer Dichter bezeichnet. Im Museum von Gändschä gibt es sogar eine Nizami gewidmete Ehrenhalle, in der (angeblich) über achthundert Jahre alte Lampen aus dessen Besitz zu bestaunen sind. Im vorletzten Raum des vielseitigen Museums wird es - so Petz - "unappetitlich: Berg-Karabach. Die aserbaidschanischen Ausstellungsmacher hatten sich alle Mühe gegeben, aus den Armeniern sehr böse Menschen zu machen: Unzählige Fotos von Massakern in Berg-Karabach, die natürlich Armenier an Aserbaidschanern begangen hatten. Die Fotos waren mit tropfender, blutroter Farbe umrahmt. Man war wohl der Meinung gewesen, dass die Fotos nicht für sich sprachen, und wollte dem ganzen noch einen künstlerischen Touch geben."

Nach des Autors Bildungsreise nach Gändschä (und Chanlar) hat Petz einen Albtraum: Die Museumsbilder von Goethe und Schiller unterhalten sich seitenlang miteinander, u. a. über den russisch-jüdisch-deutschen Schriftsteller Wladimir Kaminer. Es gefällt mir, dass auch Petz - aus dem Munde Schillers  - bei dem umjubelten Pop-Literaten "eine gewisse Tiefe" vermisst. "Doch der Humor!", schwärmt Schiller dann weiter. "Nehmen Sie mir das nicht übel [verehrter Goethe], aber da hätten Sie sich mal eine Scheibe abschneiden können."

Ich entdecke im Petz-Buch sogar Aserbaidschanisches, das in Deutschland nachahmenswert wäre: Zum Beispiel die sechzehn (!) offiziellen Feiertage, da wir doch nur einen einzigen richtigen staatlichen Feiertag haben - den Tag der Einheit, schreibt Petz. Stimmt das? Was ist denn mit dem 1. Mai? Und: Hätte man sich vorstellen können, dass die Aserbaidschaner neuerdings privat sogar Halloween feiern? Die lassen sich - nach Petzens landläufiger Meinung - eben nichts entgehen, um Wodka zu konsumieren, Wodka, weil die muslimischen Aserbaidschaner keinen Wein trinken dürfen.

Im Gegensatz zu Merle Hilbk, die in ihrem Buch "Sibirski Punk" nach Sibirien "in das Herz des wilden Ostens" reist, um der russischen Seele auf die Spur zu kommen, hat Ingo Petz ganz und gar nicht vor, "in die Rolle von Klaus Bednarz zu schlüpfen, um in Sibirien nach der russischen Seele zu graben". Man müsse, lässt er uns wissen, kein Aussteiger sein, um ein Abenteurer zu sein. Und als abenteuerlustigen Journalisten - der in einer "Arbeiterfamilie aufgewachsen und damit voll und ganz links" ist - reist er denn also nach Aserbaidschan, "dorthin, wo sie bei dem Namen Che Guevara nur mit den Achseln zucken, wo sie Billard am Meer spielen, wo das Taxifahren eine Philosophie noire ist, wo noch heute echte Schwarzwälder Uhren am Fuße des Kaukasus hängen."

Gefielen mir anfangs die Vergleiche des Autors (z. B. ist seine Wohngegend [in Aserbaidshan] so signifikant wie eine Scheibe Toastbrot, zieht ihn das [Restaurant] Paul`s so magisch an wie ein knusprig gebratenes Kotelett, sieht sein neuer Kaviar-Bekannter Holger aus wie jemand, der ganze Schweine zum Frühstück isst und zum Frühstück Kleinwagen stemmt, sehen zwei übergewichtige Frauen im gleißenden Licht der Sonne aus wie zwei Buddha-Statuen, die eine Grabanlage bewachen und dröhnt des Autors Kopf von den vielen Eindrücken, als wäre die Rote Armee zusammen mit dem Schwarzmeer-Don-Kosaken-Chor über ihn hinwegmarschiert...), so gehen einem die - manchmal recht bemühten - Vergleiche mit der Zeit unweigerlich auf den Keks. Außerdem scheint es bei den Journalisten der alten Bundesländer modern zu werden, nach Osteuropa zu reisen, um mit sich und dem Wohlstandsdenken ins Reine zu kommen, "in sich zu gehen, seine Mitte zu finden". Bei Ingo Petz ist die Reise in diesem Sinne erfolgreich verlaufen, denn er ist in Aserbaidshan als Journalist eingereist und würde - so glaubt er wenigstens - als Mensch abreisen. Was für eine erstaunliche Metamorphose (und Floskel). 

Petz hat viele, ganz allgemeine Lebensweisheiten auf Lager, über die es sich, so behauptet er - nachzudenken lohnt: Die Ironie ist der beste Weg zur Demut gegenüber dem Leben. Oder: Die Kurzweiligkeit des Reisens führt oft näher an das Tal des Irrtums als auf den Berg der Wahrheit. Oder: Reisen ins Unbekannte laden den Zufall und das Schicksal ein. Oder: Satte Menschen reisen nicht. Oder: Die Revolution ist das, was nach den Feiern kommt. Oder: Optimist kann man nur sein, wenn man kein Deutscher ist. Oder nicht zuletzt: Das Leben ist kein Quelle-Katalog.

Dennoch: Zum Literatur-Nobelpreis reicht es nicht. Auch nicht zum Starfotografen; denn die in Petzens Homepage mit vier Ausrufungszeichen angepriesenen (15) Fotos sind denn doch eher bescheiden. In seiner Homepage beschreibt Ingo Petz sein "Machwerk zwischen zwei sehr pinken Buchdeckeln" sehr spaßig so: "In Kuckucksuhren in Baku beschäftige ich mich auf 264 Seiten (mit FOTOS!!!!) mit den grundlegendsten Fragen der Gesellschaft und des Menschen: Warum bin ich hier? Was kann ich dafür? Wohin fahre ich? Warum gerade ICH? Nebenbei geht es um Aserbaidshan [Warum im Buch immer Aserbaidschan?], um goldene Zähne und Kaviar. (Nur Gott kommt nicht vor, aus Platzmangel. Sorry!) - Ich habe keine Gehirnzellen, keinen Gedankengang gescheut, um mich den Problemen, die auf die Menschheit in den kommenden 50 Millionen Jahren zukommen werden, rückhaltlos zu stellen. - Es ist - so darf ich den großen Kritikern dieser Republik vorweggreifen - ein wirklich außerordentlich gutes Buch geworden - mit einer tiefschürfenden Botschaft, die zwischen Bibel [ohne Gott?] und Reiseführer hin und her mäandert. Das Buch ist mehr als eine linke Parabel auf die Weltherrschaft des Neoliberalismus. Es ist eine bitter-bös-heitere Abrechnung mit dem Drumherum und der überall um sich greifenden Wauwau-Mentalität. Es ist deshalb - so weiß ich - nicht zu bescheiden, wenn ich jetzt schon feststelle, dass mein Buch die ganze komplette Literaturlandschaft, sehr wahrscheinlich sogar the whole Deutschland verändern wird. - Das können Sie sich in unserer orgasmusarmen Zeit nun wirklich nicht entgehen lassen."

Wer sich für die Sowjetunion und deren "post-sozialistischen Schlamassel" interessiert, sollte sich das sehr faktenreiche und oft sympathisch-schnoddrig geschriebene  Buch nicht entgehen lassen - obwohl ich im ganzen Internet keine Rezension von einem der "großen [oder kleinen] Kritiker dieser Republik" zu des Autors "erstem Schritt in Richtung Literatur-Nobelpreis" ausfindig machen konnte.


Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

  * Dr. Richard Sorge, für seinen exzessiven Lebensstil bekannt, wurde 1895 bei Baku geboren - "als Sohn eines deutschen Ingenieurs und einer Russin. Er gehörte der deutschen Minderheit in Aserbaidschan an, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts am Kaukasus gesiedelt hatte, weil die wirtschaftliche Situation in ihrer Heimat, dem Königreich Württemberg, damals recht betrüblich gewesen war." Heute steht ihn Baku ein Richard Sorge-Denkmal.

 

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Weitere Rezensionen zum Thema "Russlanddeutsche":

  • Valentina Babak, Häuser überall verstreut. Sprachlose Gedichte.
  • Gernot Friedrich, Mit Kamera und Bibel durch die Sowjetunion.
  • Merle Hilbk, Sibirski Punk.

Am  24.10.06 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 28.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Schläfst du im Brunnen, denk einfach, es sei ein Minarett.
Sprichwort der Aserbaidshaner

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