Sachbuch REZENSIONEN

Russen denken, wie die Liebe will...

Bulgare; über Russland
Rußland verstehen
Schlüssel zum russischen Wesen
Grupello Verlag, Düsseldorf 2001, 133 S.

Dr. phil. Alexander Litschev, geboren 1946 in Pleven, ist Bulgare. Er selbst erzählt in seinem Buch diese Begebenheit: Als er das Werk des Russischen Juden Boris Groys "Die Erfindung Rußlands" gelesen hatte, habe er einen russischen Philosophen gefragt, wie er das Buch fände? Dessen Antwort sei kategorisch gewesen: Ein Nichtrusse, dazu zählte er auch Groys, den russisch-jüdischen Autor, könne weder Russland noch die "russische Seele" verstehen! Den Namen jenes Philosophen erfahren wir vom Autor leider nicht.

Der Bulgare Litschev, der sich seit Jahren mit russischer Philosophie und Literatur beschäftigt, wurde 1991 Privatdozent an der Universität Düsseldorf, Abteilung für Osteuropäische Geschichte. Sein Buch Rußland verstehen ist eine wahre Fundgrube von russischen Selbstauskünften und Zitaten ausländischer Literaten und Philosophen (darunter zahlreiche Franzosen und Deutsche) über die "russische Seele" (oder das "russische Wesen" oder den "russischen Volkscharakter"...).

Wahrlich mit Bienenfleiß sammelte Litschev das, was die Russen über sich selbst denken, über ihre vermeintliche Einzigartigkeit, ihre Ideen und ihre Ideale, ihre Philosophie und ihre Weltanschauung, ihren Charakter, ihre Rätselhaftigkeit, ihr Menschsein...

1979 hatte ich in Moskau den Kulturwissenschaftler und Historiker Prof. Dmitri Lichatschow (1906-1999) kennen gelernt; ich interviewte ihn als Journalistin der FREIEN WELT zu seinem Spezialthema "Altrussische Literatur". Dabei kam der weltbekannte Wissenschaftler auch auf die "russische Seele" zu sprechen. Er meinte, man müsse sich einerseits von Voreingenommenheiten und Klischees trennen, andererseits gäbe es aber durchaus viele Merkmale eines typisch russischen Nationalcharakters. Allerdings könne man fast jedem Merkmal als Gegengewicht auch andere gegenüberstellen. Im Buch von Litschev nennt Lichatschow (im Buch Dimitri Lichatschew) einige: "Großzügigkeit - Geiz (meist unbewiesener), Güte - Bosheit (wiederum meist unbewiesen), Freiheitsliebe - Hang zum Despotismus..." Speziell betrachtet Lichatschow den berüchtigten Extremismus der Russen: in allem bis zum Äußersten, bis zur Grenze des Möglichen zu gehen.  Ich hatte der DDR-Illustrierten FREIE WELT, bei der ich als Journalistin und Redakteurin arbeitete, damals angeboten, ein Interview mit Professor Lichatschow zu dieser Thematik zu erarbeiten. Doch das Thema wurde als pseudowissenschaftlich abgelehnt. Interessant, dass mehr als zwei Jahrzehnte später auch Litschev viel mehr zitiert als selbst wertet. Ein wenig ironisch klingt es dann im Geleitwort des Düsseldorfer Professors Dr. Lutz Geldsetzer, wenn er schreibt: "(...) tröstlich ist dann auch das Fazit für die Nichtrussen: Auch die Russen sind Menschen, und sie haben soviel mit jedermann gemeinsam, daß man sie zuerst mit diesem Gemeinsamen mit Sympathie verstehen kann. Die besondere Mischung des Spezifischen aber versteht man am ehesten aus demjenigen, was sich auch bei anderen Nationen und Kulturen in jeweiligen Einzelzügen findet."

Vieles wird in Litschevs Buch durch Für und Wider gleich oder später wieder aufgehoben, etwa wenn einerseits als positive Eigenschaften der Russen Leidenschaftlichkeit, Tapferkeit und Willenskraft, bedingungslose Güte, die Liebe zur Schönheit und die Gabe zur schöpferischen Einbildung [zu schöpferischer Kraft] genannt werden, und gleich daneben als negative Charakterzüge: Passivität und Müßiggang, Träumerei, originelle Pläne ohne Drang nach ihrer Verwirklichung sowie Gleichgültigkeit gegenüber einer begonnenen Arbeit und die Abneigung, diese bis zum Ende auszuführen - dies russische Eigenschaften, wie wir sie schon aus "Oblomow", dem Roman Iwan A. Gontscharows (1812-1891), kennen. "Als Teiloblomowtum", schreibt Litschev, "erweist sich die Nachlässigkeit und Unexaktheit, z. B. Verspätung bei Verabredungen und Versammlungen, sowie eine stark ausgeprägte Abneigung gegenüber Konventionen. Hierzu gehört auch die Disziplinlosigkeit des Denkens und des Willens, d. h. keine weit blickenden und nur vorläufig ausgearbeitete Pläne, sondern Improvisationen im letzten Augenblick." Bei dem mexikanischen Schriftsteller Sergio Pitol fand ich in seinem Buch "Die Reise. Ein Besuch Rußlands und seiner Literatur": "(...) zur russischen Seele gehört für mich auch ihre Energie, ihre Identifikation mit der Natur und ihre Exzentrik".

Vier Kapitel von Rußland verstehen haben einen Exkurs: Sind nur die Russen rätselhaft? Haben nur die Russen eine eigene Idee? Sind die Russen philosophische "Chaoten"? Haben nur die Russen eine Wir-Philosophie? In diesen "Abschweifungen" wird Vorhergesagtes gerade gerückt. Und wir erfahren, dass sich auch die Japaner für einzigartig halten, auch die deutsche Seele unerforschlich sei, sich auch der Franzose einmalig dünke...

Litschevs Buch ist insgesamt außerordentlich anregend, vor allem die Ausführungen zur Orthodoxie und zur Literatur. Zweifelsfrei ist die tiefe Religiosität der Russen. Verblüffend, wie nach dem Zerfall der Sowjetunion aus "Atheisten" sozusagen über Nacht brave Kirchgänger wurden (Wladimir Putin inklusive). Die meisten meiner russischen Freunde und Bekannten haben sich inzwischen taufen lassen und gehen regelmäßig in die Kirche. Meine Freundin Raissa meint zur Begründung: "An irgendetwas muss der Mensch doch glauben (können)." Sehr aufschlussreich auch das Kapitel "Die Literatur als Lebensweise". Nirgendwo auf der Welt, entnehmen wir dem Band, habe die Literatur eine so große Bedeutung wie in Russland. Sie sei die hauptsächliche Ausdrucksweise der russischen Seele. "Die ewig `träumerische´ russische Seele lebt viel mehr mit der Literatur und in der Literatur als in der realen Welt. Für die Russen ist Literatur das `wirkliche Leben´ und zwar als eine andere `bessere´ Realität, die die `wirkliche´ aufhebt und eine neue wesenhafte Dimension des Daseins eröffnet."

Kritisch anzumerken ist, dass oft - wie auch schon zu Beginn dieser Rezension - der Name des Zitierten nicht genannt wird. So wird z. B. auf S. 19/20 ein russischer Geschichtswissenschaftler zitiert, als Quellenangabe erscheint die Zeitschrift "Osteuropa", Nr. 5/1999, sein Name bleibt ein Geheimnis - wie auch bei anderen Zeitschriftenangaben. Geradezu lehrreich ist das Glossar - wenn man es rechtzeitig entdeckt. Da lassen sich viele Begriffe finden (z. B. russak, russkost), die man im Wörterbuch vergeblich sucht. Beim informativen Personenregister hätte ich mir bei dem einen oder anderen Namen die eine oder andere Angabe mehr gewünscht, z. B. bei Tschaadajew (1794-1856), dass er Mitglied der Geheimorganisation der Dekabristen war. Gar nicht befriedigen kann die Umschlaggestaltung von Thomas Klefisch, der den "Sitzenden Dämon" (1890) von Michail Wrubel mit der Schrift für den Autor, dem Titel und dem Untertitel geradezu erschlägt.

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

Am 15.02.2003 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 12.01.2017.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Manches ist bitter zu schlucken  und süß auszuspucken.
Sprichwort der Russen

 [  zurück  |  drucken  |  nach oben  ]