Dieser exotische Roman spielt in einem Altstadtviertel 
          Bakus, der Hauptstadt 
          Aserbaidshans. 
          Der sich an seine Kindheit erinnernde Ich-Erzähler Alekber, der  ein Schriftsteller werden möchte, 
          obwohl das damals mehr als "wunderlich" war, schildert die 
          Geschehnisse in seinem Heimatviertel aus der Sicht seiner Kinderzeit 
          und macht uns mit den hier lebenden 
          einfachen Menschen - aus der Zeit der zwanziger, vor allem der 
          dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts - bekannt. Auch 
          mit seinem Vater, der Iraner war, "immer auf Reisen" und im "Krieg 
          aller Kriege" 1944 gefallen ist und mit der Mutter, "die nie in 
          Gegenwart meines Vaters aß, aber wenn mein Vater aß, dann saß sie auch 
          am Tisch und betrachtete ihn, wie er mit großem Hunger aß und jetzt, 
          wie jedesmal, wenn sie ihn beim Essen sah, lächelte sie". Nicht alle Romanfiguren werden sich 
          gleichermaßen einprägen. Aber lange im Gedächtnis bleiben wird Hanım 
          Hala, die energische Mutter der sechs Söhne Cefer, Adil, Abdülali, 
          Koca, Cebrayil und Ağarahim. (Von fünf Söhnen ist 
          fälschlicherweise im Klappentext die Rede.) Besonders beeindruckend 
          ist die Schilderung, wie die couragierte Frau ihren Sohn Ağarahim "befreit", der wegen 
          eines nichtigen Anlasses von Muhtar, der im Viertel wohnt und bei den "Organen" 
          arbeitet, verhaftet worden ist: "Nachdem Hanım 
          Hala bei Muhtar nichts erreicht hatte macht sie ihre Drohung war, `zu 
          den Leuten zu gehen, die über ihm stehen´. Drei Tage lang steht sie 
          von morgens bis abends vor dem Pförtnerhäuschen des `großen Gebäudes´ 
          in der schneidenden Kälte, bis sie endlich auf den Wagen des `Chefs´ 
          trifft. Als er sie nach ihrem Anliegen fragt, sagt sie, dass sie eine 
          Beschwerde habe. Der `Chef´: `Über wen willst du dich denn beschweren, 
          Frau? Was ist das für eine Unverschämtheit?´ - `Über dich will ich 
          mich beschweren und über einen von deinen Mitarbeitern!´ - `Was?´ Der 
          Mann machte einen langen Hals und fragte erstaunt: `Was hast du 
          gesagt?´ Es war, als wehe plötzlich ein Wind, der den in Grußhaltung 
          erstarrten Milizionär ein paarmal durchschüttelte. - `Ich habe gesagt, 
          daß ich mich über dich beschwere und über deine Mitarbeiter! Bist du 
          kein Mensch? Glaubst du, du verbringst dein ganzes Leben in diesem 
          Auto?´ Hanım Hala hatte noch immer 
          beide Hände auf der Motorhaube und bewegte sich nicht von der Stelle. 
          Der Mann stieg mit einer Eile aus, die nicht recht zu seiner 
          Körperfülle paßte und stellt sich vor Hanım 
          Hala, sah die von Scheinwerfern beleuchteten  
          aufeinandergepreßten dünnen Lippen der Frau, das blau angelaufene 
          Gesicht, sei es aus Wut, aus Erregung oder wegen der Kälte, den 
          schneebedeckten gefrorenen Schal, den langen, dicken Rock, die Beine, 
          die beinahe bis zu den Knien im Schnee versunken waren und fragte: 
          `Wartest du schon den ganzen Tag auf mich?´ Hanım 
          Hala antwortete nicht. Der Mann sagte zum Milizionär: `Laß sie herein´ 
          und ging mit eiligen Schritten durch das Pförtnerhäuschen in das 
          Gebäude zurück. Hanım Hala löste 
          ihre Hände von der Motorhaube und sah zum Milizionär. Dann schüttelte 
          sie den Schal aus und folgte dem Mann in das Gebäude. - Im Viertel 
          verbreitete sich die Nachricht von Abdülalis Freilassung wie ein 
          Lauffeuer..." Der armenische Pförtner wird später sagen: "So habe ich, 
          bei meiner Religion, noch keinen Mann erlebt!"Im 
          Krieg - das Leid hatte sich in allen Häusern des Viertels, "ja sogar 
          auf den Bürgersteigen und Pflastersteinen" niedergeschlagen; es gab 
          kein Haus, vor dem nicht ein Trauerzelt stand - werden alle sechs Söhne 
          von Hanım Hala eingezogen. Sie stirbt an Herzeleid 
          und erlebt nicht mehr, dass alle sechs Söhne wohlbehalten aus dem 
          Krieg zurückkehren - auch Koca, von dem irrtümlich eine 
          Gefallenenmeldung eingetroffen war. Koca, den Alekber von allen aus 
          dem Viertel am liebsten mochte, und die Tochter des 
          Mützenmachers Adile waren ein Liebespaar, das im Buch mit 
          Leila und Madschun (im Buch Leyli und 
          Mecnun) verglichen wird. Als Muhtar, der vor dem Krieg Abdülali, den 
          Bruder von Koca verhaftet hatte, um Adiles Hand anhält, stürzt sie sich 
          vom Dach ihres dreistöckigen Hauses...
          
  
          In Das weiße Kamel finden sich viele orientalische Erzählmotive 
          mit Hexen und Zauberern, grausamen Königen und gerissenen Wesiren, 
          schönen Prizessinnen und Prinzen. Der Flöte spielende 
          Balakerim versammelt oft die Kinder aus der Nachbarschaft unterm 
          Maulbeerbaum und erzählt die verheißungsvollen Geschichten vom schneeweißen 
          Kamel, das in der islamischen Mythologie das Symbol für eine bessere 
          Zukunft ist.
          1984 geschrieben, schildert Elçin 
          die Geschehnisse der Sowjetunion bis zu dem sich in den achtziger 
          Jahren anbahnenden Umbruch. 
          
  
          Schwierigkeiten beim Lesen bereiten die aserbaidshanischen Namen 
          und Begriffe. Das Aserbaidshanische ist eine Turksprache, die auch 
          iranische und arabische Wurzeln hat. Damit sind Namen und 
          Bezeichnungen - Gülağa, Memmedbağir, 
          Ağahūseyn, 
          Hanım... schon schwer genug zu 
          behalten, noch schwerer sind sie auszusprechen. Zur Aussprache der 
          aserbaidshanischen Namen ist vom Verlag beim i ohne Punkt (ı) 
          zum Beispiel angegeben, dass es sich um einen dumpfen Laut handelt, 
          der mit zurückgezogener und gesenkter Zunge zu sprechen ist. Aber auch 
          damit nicht genug, wird zum Beispiel die Mutter der sechs Söhne meist Hanım Hala 
          genannt; Hanım ist kein Vorname, sondern steht im Aserbaidshanischen für die höfliche weibliche 
          Anrede. Und wenn man sie mit Ahçi anspricht, wie es der 
          armenische Pförtner tut, so ist dies die armenische Anrede für Frauen. 
          Durch die russische Literatur mit Vor-, Vaters-, Familienname und 
          diversen Koseformen einiges gewöhnt, fiel es mir dennoch schwer, mir 
          die im Roman vorkommenden zahlreichen aserbaidshanischen Namen zu 
          merken. Als (auf S. 218) erzählt wird, dass Şövket den Märchenerzähler 
          Balakerim heiratet, muss ich seitenlang zurückblättern, um mich zu 
          erinnern wer Şövket ist... In den Anmerkungen des Verlages werden fast 
          sechzig im Roman vorkommende Begriffe erläutert, zum Beispiel ist 
          "Veliyyünnema" ein "hilfsbereiter Mensch".  Hätte man diese 
          Bezeichnung und viele andere Begriffe nicht im Text übersetzen sollen?
          
  
          Elçin, geboren 1943 in Baku ist der Sohn 
          des Schriftstellers Ilyas Efendiyev. 1966 veröffentlichte er seinen 
          ersten Erzählungsband. Nach der Herausgabe weiterer Erzählungen 
          erhielt er während der Breshnewzeit zwei Jahre Schreibverbot. In der 
          DDR erschien von ihm 1988 "Mahmud und Marjam", eine orientalische 
          Liebeslegende.
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