| Mit einer unwahrscheinlich brutalen Vergewaltigung, die mit einem 
        unwahrscheinlich brutalen Mord endet, beginnt das Buch Ich flehe um 
        Hinrichtung: "In der Nacht vom 
        30. Juni zum 1. Juli trafen im betrunkenen Zustand die Jugendlichen Noskow und Orlow 
        ein Mädchen, das auf dem Weg zu seiner Mutter war. 
        Sie bedrängten und schlugen es. Stunden der Verfolgung und Misshandlung folgten. Im 
        Wald schließlich zwangen die drei  `normalen´ jungen Männer die Lichatschowa, sich auszuziehen und 
        vergewaltigten sie. Dann warfen sie ihr einen Pullover über das Gesicht, 
        stachen sie mit einem Messer mehrfach in die Brust und ließen das Messer 
        dann im Körper des Mädchens stecken. Orlow trat auf die Klinge, um es 
        tiefer in den Leib zu treiben. Dann warfen sie das Mädchen in eine Grube 
        und schaufelten diese zu.  Als sie sahen, dass sich das Mädchen unter 
        der Erdschicht noch bewegt, traten Orlow und Noskow auf ihren Körper, um 
        ihn mit ihren Gewicht niederzudrücken, und als aus der Erde ein Fuß zum Vorschein kam, schlug Noskow mehrfach mit der Hacke 
        darauf." Am nächsten Tag kehrten sie zur Grube zurück, gruben den 
        Leichnam aus, übergossen ihn mit Benzin und zündeten ihn an. Noskow, einer der 
        Übeltäter übelster Sorte, reichte bei der Begnadigungskommission 
        des russischen Präsidenten ein Gnadengesuch ein. Und: Die 
        Begnadigungskommission des russischen Präsidenten 
        [Jelzin] begnadigt ihn 
        von der Todesstrafe zu lebenslanger Haft. Er, der einer jungen Frau das 
        Leben genommen hat, darf am Leben bleiben... 
        Pristawkin schildert 
        unerbittlich viele grauenerregende Details geradezu unvorstellbarer 
        Verbrechen, zum Beispiel auch dieses: Eine Mutter schlägt ihre 
        vierjährige Tochter mit einem glühenden Schürhaken, setzt das Mädchen 
        dann - es ist Ende Dezember - nackt vor die Tür, Stunden später auf die 
        heiße Herdplatte. Dann hängt sie es mit zusammengebundenen Händen an 
        einem Nagel auf. Das Kind stirbt  in einem eisigen Keller, 
        nach Tagen ohne Essen und Trinken, an seinen Verletzungen. Die 
        geschilderten Gewalttaten gegenüber Kindern im häuslichen Bereich sind 
        nahezu unfassbar: "1997 wurden mehr als 15 000 Angriffe auf das Leben 
        von Kindern registriert. 200 Kinder wurden von ihren Eltern getötet, 1 
        500 sexuell missbraucht, 2 000 begingen Selbstmord." Oder es wird im 
        Buch geschildert, wie zwei Offiziere einen Unschuldigen foltern, um von 
        ihm das Eingeständnis eines Mordes zu erpressen, den sie selbst begangen haben. 
        Sie foltern ihn eine Nacht lang und schieben ihm schließlich drei 
        Pepsi-Cola-Flaschen in den Darmausgang. Oder: Pristawkin zitiert aus dem 
        Brief eines Häftlings, der darüber schreibt, wie man einem Häftling 
        einen Reifen um den Kopf gelegt hat, der solange mit einem 
        Schraubenschlüssel festgezogen wird, bis das Opfer das Bewusstsein 
        verliert. Oder man spielt Karten um Menschenblut: Wer verliert, öffnet 
        eine Vene und lässt die im Spiel verlorene Menge Blut in eine Schüssel 
        laufen...
        
 Bei seiner Buchpräsentation im Berliner Russischen Haus sagte der 
        nunmehr über Siebzigjährige, dass 2002 mehr als 924 000 Verbrechen, das 
        ist fast jedes dritte, nicht aufgeklärt wurde, und dass
        Russland nach 
        der Zahl der vorsätzlichen Morde pro 100 000 Einwohner Platz zwei in der 
        Welt einnimmt. Und er erzählte, 
        wie er Vorsitzender der Begnadigungskommission wurde: Der 
        Menschenrechtler Sergej 
        Kowaljow habe ihn davon überzeugt, dass unbedingt eine Kommission ins Leben 
        gerufen werden müsse, die sich Barmherzigkeit auf die Fahnen schreibe. (Wir erinnern uns an 
        Daniil Granins Buch "Die 
        verlorene Barmherzigkeit", 1993 im Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 
        erschienen.) Gerade als Pristawkin  im Baltischen Schriftstellerheim über einem neuen 
        Buch saß, wurde  ihm von Jelzins Büro mitgeteilt, dass er als 
        Vorsitzender vorgesehen sei. "Daraufhin habe ich das begonnene Manuskript 
        zugeklappt, und so liegt es bis heute, seit über zehn Jahren." Schade, 
        schade. Doch neben der zutiefst an Herz und Verstand appellierenden 
        Arbeit in der Kommission ein Buch mit anderer Thematik zu schreiben, das 
        ist wirklich unvorstellbar. Diese Kommission, 1992 ins Leben gerufen, 
        wurde 2001 von Putin abgeschafft; da waren 56 000 Fälle korrigiert 
        worden, in 1 200 Fällen verhinderte die Kommission die Erschießung von 
        zum Tode Verurteilten. Der Kommission gehörten  einige 
        Schriftsteller an (bis zu seinem Tode auch
        
        Bulat Okudshawa), ein 
        Psychologe, ein Geistlicher..., kein Jurist, keine Militärs. Die Kommissionsmitglieder wälzten um die 
        vierzig 
         
        Akten wöchentlich, um mit normalem Menschenverstand zu prüfen, 
        welchem Inhaftierten nach schon erfolgtem jahrelangen 
        Gefängnisaufenthalt weitere Jahre der Haft erlassen werden könnten, 
        welche Todesstrafe in lebenslange Haft umgewandelt werden sollte. Nicht 
        alle Todeskandidaten waren dankbar dafür, statt erschossen zu werden, 
        lebenslang eingesperrt zu sein; manche flehten geradezu um ihre 
        Hinrichtung. Todesstrafe in Russland - das hieß in jüngster Zeit noch:          
        keine Gelegenheit zu einem letzten Wunsch, zu einer letzten Mitteilung an die 
        Nachwelt. Und das hieß für die Angehörigen: keine Auskunft über den Ort 
        der Hinrichtung, keine Aushändigung des Leichnams zur Bestattung. Die 
        Hingerichteten wurden verbrannt, ihre Asche verstreut. Seit 1996 ist die 
        Vollstreckung der Todesstrafe in Russland ausgesetzt, die Strafe selbst 
        aber nicht abgeschafft; denn die Gegner der Todesstrafe sind in Russland 
        in der Minderheit. Die Überzeugung von der abschreckenden Wirkung der 
        Hinrichtungen ist  weit verbreitet; Umfragen haben ergeben, dass 
        68 Prozent der russischen Bevölkerung eine öffentliche Vollstreckung des Todesurteils wünschen.
 
 Die Verhältnisse in russischen Gefängnissen und Straflagern,  
        "Fließbänder der Entmenschlichung",  sind 
        nachgewiesenermaßen menschenunwürdig und folternde Polizisten sowie 
        gewissenlose Richter - sind keine Seltenheit. Eingepfercht auf kleinstem Raum kommt es immer wieder zu Todesfällen wegen der Beengtheit: Aus 
        Sauerstoffmangel gelingt es in einigen Zellen nicht, ein Streichholz 
        anzuzünden, jeder zweite Insasse der russischen Häftlingsanstalten ist 
        mit Tuberkulose infiziert. Über das schon immer berüchtigte 
        Moskauer Butyrki-Gefängnis 
        (Hier saß auch Majakowski ein.), das heute harmlos SISO 38/2 
        (Untersuchungsgefängnis) heißt, schreibt 
        Pristawkin: "Es ist eines 
        der übelsten Anstalten, dem Wesen nach ein Ungeheuer, ein 
        altersschwaches, vom Fundament bis zum Dach morsches Gefängnis. (...) 
        Gebaut wurde es im 18. Jahrhundert und war darauf berechnet, einige 100 
        Häftlinge aufzunehmen, heute sind es fast 8000." Die Hälfte aller 
        Gefangenen in Europa sind Russen. Insgesamt gibt es in Russland eine 
        Million Häftlinge. Mit 628 Häftlingen auf 100 000 Einwohner hat Russland 
        die dritthöchste Hafteinweisungsrate der Welt - hinter den Cayman-Inseln 
        und den USA. In Japan, das  seiner Bevölkerungsanzahl nach mit 
        der russischen vergleichbar ist, sind es 40 000 bis 50 000. Bis 1917 
        hatten im russischen Zarenreich zwei Drittel der Häftlinge eine Einzelzelle, 
        mindestens acht Quadratmeter pro Person. Und das, obwohl Russland auch 
        damals zu den Ländern mit der höchsten Kriminalität gehörte, nach 
        Spanien und Italien. Während seiner Buchpräsentation sagte Pristawkin 
        über Ich flehe um Hinrichtung, dass er kein schreckliches Buch 
        schreiben wollte, sondern ein Buch mit der Bitte um Mitleid, 
        Mitmenschlichkeit und Barmherzigkeit. Mitleid mit Mördern und 
        Gewalttätern? "Mitleid zu haben", so Pristawkin, "mit einem alten 
        Mütterchen, das die Straße überquert, mit einem Bettler, mit einem 
        verlorengegangenen Kind, einem aus dem Nest gefallenen Jungvogel oder 
        gar einem erdachten Literaturhelden, das ist etwas ganz anderes als 
        Mitleid zu haben mit einem abgefeimten Mörder, Räuber oder Vergewaltiger, den man 
        bislang zutiefst haßte, verachtete, angewidert zurückstieß wie eine 
        Pestratte (...)." Was Pristawkin über die Lager und Gefängnisse, über 
        die Zustände in russischen Waisenhäusern, der Psychiatrie und der Armee 
        schreibt, ist mehr als man fassen kann. Will man seine Schilderungen bis 
        zum Schluss durchstehen, muss man es mit dem Buch halten wie Pristawkin 
        es mit den Akten hielt: Es von Zeit zu Zeit weglegen. Ich habe es 
        insgesamt fast ein Jahr lang immer wieder weggelegt, bis ich es ausgelesen hatte...
 
 In seinem Buch kommt Pristawkin
        des öfteren auf seine eigene schwere Kindheit in 
        sowjetischen Waisenhäusern und Kinderkolonien 
        während der 
        Stalinzeit zurück: seine 
        Mutter war mit zweiunddreißig Jahren zwei Monate nach 
        Kriegsausbruch an Tuberkulose 
        gestorben, der Vater ging 1941 an die Front, der zehnjährige Anatoli und seine Schwester 
        kamen in die "Obhut" des Staates. Pristawkin schildert, wie die Kinder 
        gedemütigt wurden, wie sie hungerten. "Unser sehnlichster Wunsch war, 
        einmal einen Blick in die Vorratskammer zu werfen..." Und er gesteht, 
        wie sie aus Not selbst 
        zu kleinen Kriminellen wurden, wie sie mit dieser "Schattenwelt" in enge Berührung 
        kamen, wie er selbst aus 
        Hunger zum Dieb wurde, wie er sich zusammen mit anderen Waisenkindern 
        mit einem Brandanschlag an den ungerecht-strengen Waisenhaus-Direktor - 
        der seinen Hunden mehr Brot gab als den ihm anvertrauten Kindern - 
        rächen wollte. Aus vielen Akten geht hervor, dass die Inhaftierten 
        anfangs für ein kleines Vergehen (zu) hart bestraft wurden, und statt 
        geläutert, kamen sie gebrochen oder mit noch größerer krimineller Energie aus dem Knast 
        zurück. Was, so fragt sich der Autor, wird aus den  
        zwei Millionen Kindern, Straßenkindern zumeist, die gegenwärtig in Russland von ihren Eltern ihrem Schicksal überlassen 
        werden. Seine eigene Lebensgeschichte macht Pristawkin zum engagierten Kämpfer für 
        die Menschenrechte und gegen die Ungerechtigkeit. Im Dezember 2002 
        erhielt er dafür den "Aleksandr-Men-Preis", mit dem vor ihm schon Lew 
        Kopelew und Michail Gorbatschow ausgezeichnet wurden. (Der 
        russisch-orthodoxe Erzpriester Aleksandr Men, Hassfigur der extremen 
        Rechten, wurde 1990 ermordet.)        
        Pristawkin ist vielen von uns Lesern ans Herz gewachsen mit seinen 
        Werken "Schlief ein goldenes Wölkchen", "Wir 
        Kuckuckskinder", "Der 
        Sohn des Soldaten", die autobiographisch geprägt sind und sein 
        bitteres Leben in Waisenhäusern und Heimen schildern.
 
 "Man hält mein Buch [Ich flehe um 
        Hinrichtung] für ein politisches Buch", sagt Pristawkin, "aber 
        ich halte es für ein christlich-philosophisches Buch." Und da er daran 
        glaube, dass die Literatur das Leben ein bisschen besser machen kann, 
        glaube er, das sein Buch nicht ganz ohne Licht, nicht ganz ohne Hoffnung 
        sei. Dennoch geht Pristawkin äußerst hart mit seinem Land und mit seinen 
        Landsleuten ins Gericht. Vor allem mit den vielen Alkoholikern, auf 
        deren Konto die meisten und die brutalsten Verbrechen gehen, zum 
        Beispiel werden in Russland jährlich etwa 16 000 Ehefrauen im Suff von ihren Männern 
        umgebracht. 1994 erfolgten 600 000 Verbrechen im Suff. "Die organisierte 
        Kriminalität kann man, wen man will, sicherlich bezwingen. Selbst mit 
        der heutigen korrupten Miliz läßt sich fertig werden. Aber was macht man 
        mit einem ganzen wodkasüchtigen Volk? Vielleicht säuft es ja, weil es 
        spürt, daß es von niemandem in diesem Lande gebraucht wird?" Viele 
        Verbrecher rekrutieren sich aus den Männern, die als Soldaten in 
        Afghanistan und 
        Tschetschenien "dienten". Sie kommen - so Pristawkin - 
        desillusioniert und drogenabhängig zurück; die 
        Mafia bedient sich ihrer 
        als Killer und Auftragsmörder. "Es gibt nur eine Schlußfolgerung: Wir 
        leben in einem Polizeistaat, in dem ein allmächtiger Apparat noch immer 
        seinen GULAG schafft, 
        und das bei schweigender Beteiligung des Staates." 
        In der Tradition Dostojewskis und 
        Solschenizyns führt Pristawkin 
        die Verkommenheit des sozialen Lebens, die Verrohung der menschlichen 
        Beziehungen auf die lange Tradition des Untertanentums, der Unfreiheit 
        und Unselbständigkeit in Russland zurück: von Iwan
        dem Schrecklichen 
        über Peter dem Großen bis hin zur 
        Sowjetzeit. Die Kapitel 
        über die "Alltagskriminalität" und über "Das  Volk" sind daher wohl die 
        aufschlussreichsten in diesem Buch. Geschrieben aus dem "Gefühl der Ohnmacht und 
        des Schmerzes" zeichnet Pristawkin hierin ein Russlandbild, das schwärzer kaum 
        gedacht werden kann.
 
 Anatoli Pristawkin ist seit Auflösung der Begnadigungskommission 
        persönlicher Berater von Wladimir Putin in Sachen Begnadigung und hilft 
        mit Rat und Tat bei der Gründung von Begnadigungskommissionen in der 
        russischen Provinz. Die Kommission im Ort Wladimir begnadigt gegenwärtig 17 
        Prozent der Verurteilten, bei der vorangegangenen (Moskauer) Kommission waren 
        es nur 10 Prozent.
 
 In der Vorbemerkung  schreibt Anatoli Pristawkin, dass sich das 
        Genre seines Buches guten Gewissens "Weinen um Rußland" benennen ließe. 
        Ja, dieses Buch ist abgrundtief pessimistisch - ein solches habe ich noch 
        nie gelesen. Pristawkin schildert darin, teils gefühlvoll, teils mit 
        Milizberichten im Beamtenjargon seine Erfahrungen als Vorsitzender der 
        Begnadigungskommission des russischen Präsidenten Jelzin von 1992-2001. 
        "Ich denke heute schlechter über die Menschen und die große russische 
        Nation", gesteht Pristawkin. Und: "Dieses Buch handelt nicht nur von 
        Häftlingen, von Menschen, die in der Todeszelle sitzen. Es handelt von 
        uns allen, von jedem, der eingeschlossen ist in das kriminelle 
        Straflager, das Rußland heißt." Sein Buch fügt sich keiner Form: Es ist 
        Beichte,  Dokumentation, soziale Analyse und -  Selbsttherapie des 
        Autors.
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