Kinderbuch-JugendbuchREZENSIONEN

Auf dem Weg ins Leben

Russen
Republik der Strolche (Republik Schkid)
Ins Deutsche übertragen von Liselotte Remané
Verlag Neues Leben, Berlin 2005, 1. Auflage dieser Ausgabe, 384 S.
 
"Die Schkider, die - einzeln genommen - gutmütig, feinfühlig und teilnahmsvoll sein konnten, [waren] in ihrer Gesamtheit von erbarmungsloser Grausamkeit", schreiben die Autoren von Republik der Strolche. "Schkid" ist die Abkürzung der "Dostojewski-Schule" (Schkola imeni Dostojewskogo).

Die "Dostojewski-Schule" wurde 1919 - nach Krieg und Revolution - für schwererziehbare Jungen gegründet, Kinder und Jugendliche, die sich obdachlos mit Bettelei, Diebstahl und Raub durchs Leben schlugen und frühzeitig abgestumpft und abgebrüht waren. Lenins Frau, Nadeshda Krupskaja schätzte ihre Zahl 1923 auf acht Millionen.1919 - noch tobte der Bürgerkrieg - war begonnen worden, diese Verwahrlosten auf der Straße aufzulesen und in eilig gegründeten Kinderheimen unterzubringen. Auch Leonid Pantelejew (1908-1987) und Grigori Bjelych (1906-1938) landeten als Diebe in der "Republik Schkid", schon zu DDR-Zeiten deutsch als Republik der Strolche erschienen. Dieses "hochinteressante Buch" (Maxim Gorki) erschien in der Sowjetunion erstmals 1927, fand in zahlreichen Übersetzungen weltweit Verbreitung und wurde 1966 verfilmt. Nun feiert es über achtzig Jahre nach seiner (russischen) Erstveröffentlichung seine Auferstehung in dem tot geglaubten "Verlag Neues Leben".

Die "Eulenspiegel Verlagsgruppe", zu der schon "Das Neue Berlin" (politische Sachbücher zum Thema DDR), "Edition Ost" (Biografien, Berlin-Literatur, Krimis) und der Hörbuchverlag "Ohreule" gehören, hat nun auch den "Verlag Neues Leben" gekauft, das heißt, was davon übrig geblieben war: das Archiv und die Rechte. Die Reihe "Spannend erzählt" (zu DDR-Zeiten Bückware) wird im "Neuen Leben" wieder belebt - mit klassischer Unterhaltungsliteratur wie Cooper und Jules Verne, aber auch mit Texten proletarisch-revolutionärer Autoren; in diesem Jahr erschien in dieser Reihe auch "Ede und Unku" von Alex Wedding. Außerdem wird als neue Reihe eingeführt "Augenzeugen berichten". Diese Reihe widmet sich dem politischen Sachbuch und will sich, z. B. mit "Hitlers Ende ohne Mythos" von Stefan Doernberg und Jelena Rshewskaja, in aktuelle Diskussionen einmischen. Matthias Oehme, Chef der "Eulenspiegel Verlagsgruppe" gibt zu, dass der Osten das Hauptvertriebsgebiet sein wird...

"Spannend erzählt" ist das Leben der kleinen Banditen in der "Dostojewski-Schule" und geschichtlich interessant ist es ebenfalls. Doch ist nicht zu übersehen, dass die "Dostojewski-Schule" - trotz Mangel an Essen, Kleidung, Heizmaterial... - eine Vorzeigeschule war. Das allerdings spart das Buch auch nicht aus. So wird z. B. über ein anderes, das "Sergijewka-Internat", gesagt: "In der Sergijewka eingeliefert zu werden, galt als ausgesprochenes Unglück. Dort herrschte eiserne Kasernendisziplin. Die Zöglinge mußten in stickigen Räumen hocken und durften selten - auch dann nur unter Aufsicht - spazierengehen. Für ihre Verfehlungen hatte sich der Direktor unwahrscheinliche Strafen ausgedacht. Eine bestand in folgendem: Der Zögling kam splitternackt in den unbeleuchteten Karzer, der auf Befehl des phantasievollen Sadisten in einem Abort verwandelt worden war. Dort saß der Missetäter drei bis vier Tage lang ohne Wasser und Brot im Dreck und rang in den ekelhaften Ausdünstungen nach Luft."

Die beiden Autoren Bjelych und Pantelejew schildern aus authentischem Erleben, wie in der Schkid aufopferungsvolle Lehrer gemeinsam mit ihren Zöglingen einen Weg ins Leben suchen. Der Schulleiter, Viktor Nikolajewitsch Sorkin, Spitzname Vikniksor,  ist "eine strenge Persönlichkeit: drohende Augenbrauen, eine Bürstenfrisur und auf der Nase einen Zwicker" - eine Respektsperson, die aber auch schlimme Streiche verzeihen kann. Beeindruckend, wie die Schüler fest zu den Erziehern stehen, wenn sie ihr Vertrauen errungen haben.  "Außer pädagogischem Talent braucht ein guter Erzieher [verwahrloster Jugendlicher] eiserne Nerven, Selbstbeherrschung und eine überdurchschnittliche Willenskraft (...). Von den sechzig Erziehern [die in der Schkid von den Schülern ´Propheten´ genannt werden] brachte es nur ein Dutzend fertig, den Weg zu den Herzen der verwahrlosten Strolche zu finden, ohne sich mit ihnen auf eine Stufe zu stellen." Schauerlich, wie die bestürzend herzlosen Rowdies mit den Lehrern umgehen, die sie als "Memmen" ansehen. Geradezu dauern kann einem "Krokodil Krokodilowitsch" - alle in der Schkid haben Spitznamen -, der von seinen Schülern erbarmungslos zusammengeschlagen wird. Aber auch bei den Jungen untereinander - bei "Spatz", "Brotkanten", "Zigeuner"... - ist es nicht einfach, sich durchzusetzen. "Die Schkider schätzen einen Kameraden erst dann, wenn sie an ihm etwas Besonderes entdeckten": Balalaika spielen, "Zahnmusik" machen, deutsch sprechen können, randalieren; "In der Schkid galt als `höchstes Heldentum´: zu randalieren um des Randalierenswillen."Besonders angesehen aber waren auch "Lyriker". Zusammen mit ihrem Direktor hatten ein paar glattgeschorene Helden ihre Anstaltsköpfe zusammen gesteckt, und "nach anderthalb Stunden angestrengten Kopfzerbrechens" die Nationalhymne der Schkid gereimt:

Ost und West und Süd und Nord
hat sich hier gefunden.
Eintracht ist das Losungswort,
dem wir treu verbunden.
Schluß mit der Vergangenheit!
Lernend nützen wir die Zeit
für das neue Leben,
für das neue Leben!
 

Schule, du bist unser Hort,
unsre Mutter! Lehre,
wie man leben soll hinfort
zu der Heimat Ehre.
Arbeit steht noch viel bevor,
bis sich öffnet uns das Tor,
um uns freizugeben
für den Weg ins Leben.


Maxim Gorki schrieb an den bekannten russischen Pädagogen Anton Makarenko (1888-1939)*: "Wie verteufelt schwer Ihre Arbeit ist, lehrten mich zwei ehemalige kleine Diebe, die Verfasser des hochinteressanten Buches `Die Republik der Schkid´."

Beide Autoren waren erst um die zwanzig Jahre alt, als ihr Buch 1927 erschien. Im Nachwort der DDR-Ausgabe heißt es über den Autor Bjelych, er sei "1938 im Alter von 32 Jahren gestorben". In Wahrheit geriet er in die Mühlen der stalinistischen Repression; er starb im Gefängnis. Pantelejew überstand die Jahre der Blockade Leningrads. Nach Stalins Tod (am 5. März 1953) begannen namhafte Autoren, sich für ihn einzusetzen, die "Republik der Strolche" konnte aber erst 1961 wieder erscheinen.  Ich finde es bedauerlich, dass der Verlag Neues Leben bei seiner Neuauflage auf ein Nachwort verzichtet hat.


Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

 * 2005 erschien im NORA-Verlag Berlin von Edgar Günther-Schellheimer die Broschüre "Makarenko in meinem Leben". Der Autor stellt detailliert die Anwendung der Ideen Makarenkos (Hauptwerk: "Der Weg ins Leben")  in der DDR dar. Eingeschlossen sind dabei seine vielfältigen Kontakte zu Makarenkoforschern in der UdSSR und im letzten Teil des Buches seine Mitarbeit in der Internationalen Makarenko-Gesellschaft. "Der Autor versucht, sein eigenes Erleben und Handeln mit dem Blick und dem Wissen von heute zu deuten und dabei zu einer unvoreingenommenen Sicht auf Leben und Werk Makarenkos und auf Bewahrenswertes vorzudringen", schreibt der Verlag.

 

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Am 26.05.2005 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 28.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Ein kluger Kopf hilft den Beinen.
Sprichwort der Russen

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