Belletristik REZENSIONEN

Der Segen der Nähnadel und der Fluch des Alkohols

Tschuktsche
Der letzte Schamane
Die Tschuktschen-Saga
Aus dem Russischen von Antje Leetz
Unionsverlag, Zürich 2002, 352 S.
 
Der letzte Schamane ist Mletkin, des Schriftstellers Großvater. Begegnet ist er uns schon als Kagot in "Die Suche nach der letzten Zahl", als Rinto in "Die Reise der Anna Odinzowa", als Mletkyn in "Im Spiegel des Vergessens". Nun jedoch hat der berühmte Autor dem Großen Schamanen von Uëlen ein ganzes Buch gewidmet. Zu Sowjetzeiten, als die Schamanen getötet und verbannt wurden, wäre ein solches Unterfangen unmöglich gewesen.

Rytchëu (sprich: Ryt-che-u) beginnt seine Tschuktschen-Saga mit einer Vorbemerkung: "Wo ich geboren wurde, da wachsen kein Wald und keine hohen Bäume. Aber das heißt nicht, dass es dort überhaupt keine Pflanzen gibt. Es gibt sogar Birken, Zedern, Weiden, Erlen. Allerdings ragt die Krone des größten dieser `Bäume´ nur wenige Zentimeter aus dem Erdboden." Juri Rytchëu ist 1930 als Sohn eines Fischers jenseits der Baumgrenze geboren worden, in Uëlen (sprich: U-e-len), dem allerletzten besiedelten nordöstlichen Landzipfel der Russischen Föderation. "Meine Ahnentafel", schreibt Rytchëu, "gleicht dem Tundragewächs Junëu - der Goldenen Wurzel, die fest in der Muttererde verankert ist. Sie sitzt nicht tief, denn der ewige Frost macht den Boden hart. Aber kein Sturm kann sie ausreißen, keine Kälte ihre Wurzeln abtöten. Genau so stelle ich mir meine Wurzeln vor, die ich in diesem Buch bis zu den frühesten Ursprüngen zu ergründen suche."

In den Überlieferungen wird als erster Vorfahr Rytchëus Ermen erwähnt, der einen Sohn, Akmol, hatte. Der wiederum nahm sich in der benachbarten Eskimosiedlung Nuwuken die Eskimofrau Ulessik. Beide hatten einen Sohn, Mlemekym,  und der wiederum einen jüngeren Bruder, Goigoi. Der Nachkomme von Mlemekym war Mlerynnyn, der sich als zweite Frau die Ewenin Tulma nahm, die die Tochter Koranau gebar. Der älteste Sohn von Mlerynnyn, Tynemlen, wird in den Überlieferungen neben Kunlelju genannt, der berühmt war wegen seiner Siege über die russischen Kosaken. Zum Gedenken an die Vorfahren gaben die Schamanen dem nächsten Nachkommen des Stammes den Namen Mlemekym. Die Namen wiederholten sich von Zeit von Zeit, mehrmals taucht der Name Tynemlen auf, der die Tochter des Rentiermenschen Tynawana zur Frau nahm. Ihr ältester Sohn, Mlatangin, heiratete Korginau, die Tochter des Schamanen Kaljantagrau, der die Verbindung der Ureinwohner von Uëlen mit dem Schamanengeschlecht begründete. Aus dieser Ehe ging Rytchëus Großvater hervor, der die Tochter des Rentiermenschen Rentyrgin, Giwewnëu, heiratete, er war der letzte Schamane von Uëlen. Schamane heißt auf Tschuktschisch Enenylyn - jemand, der die Gabe des Enen hat, des Heilers.

Rytchëus Buch beginnt damit, wie sich die Tschuktschen die Erschaffung der Erde vorstellen: "Einst flog ein Rabe über die Erde. Von Zeit zu Zeit verlangsamte er seinen Flug und entleerte sich. Dort, wo das Feste hinfiel, entstand das Festland, wo das Flüssige hinfiel, bildeten sich Flüsse und Seen und ganz zum Schluss winzige Teiche und Bäche." Aber das aus dem Inhalt von Blase und Darm des Vogels erschaffene Land lag in undurchdringlicher Finsternis. Deshalb rief der Rabe die Vögel zu Hilfe, damit sie in das feste, dunkle Himmelsgewölbe eine Öffnung für die Sonnenstrahlen hackten. Erfolglos kam der Adler zurück, der Hornlund, die Möwe, die Scharbe, die Schnepfe, die Lumme, die Ente, die Eidergans. Der kleinen Schneeammer erst gelang es, der Erde die Sonne zu schenken. Dass die ersten Menschenkinder aus Walkindern entstanden, gezeugt von der Urmutter Nau und von Rëu, einem Wal, der sich in einen wunderschönen Jüngling verwandeln konnte, das wissen wir schon aus der poetischen Novelle Rytchëus "Als die Wale fortzogen" (1979 im Ostberliner Aufbau-Verlag Berlin und Weimar erschienen, 1995 unter dem Titel "Wenn die Wale fortziehen" im Unionsverlag, Zürich). Über alle seine Ahnen weiß Juri Rytchëu äußerst Interessantes, für uns oft ganz Ungewöhnliches, zu berichten: über Goigoi, den eine Eisscholle wegtrug und der sich in einen Teryky, einen Tiermenschen, verwandelte; über Mlerynnyn, der den Ewenen eine Rentierherde stahl und damit auf der Tschuktschenhalbinsel die Rentierzucht begründete; von Koranau, durch deren Kinderhand ihr Vater starb, denn die beiden Schamanen Këu und Kelëu hatten geweissagt, dass nur dieses Menschenopfer die Bewohner von Uëlen vor einem Massensterben retten könne. Das alles ist in der von mir so geliebten rytchëuschen Manier geschrieben; endlich, endlich hat der in mehr als dreißig Sprachen übersetzte Autor seine alte poetische Form wieder gefunden...

Rytchëus Großvater Mletkin wünscht sich inständig, andere Sprachen zu erlernen, große Städte zu sehen - weshalb er beschließt, auf eine große Reise zu gehen... Als der Große Schamane nach vielen Abenteuern in seine abgelegene heimatliche Siedlung zurückkehrt (Gegen den Teufel Alkohol ist er seinen Landleuten gegenüber schon bald ziemlich machtlos.), versucht er, das alte und das neue Wissen  zu vereinen, um seinen Mitmenschen eine Zukunft zu sichern. Hat das kleine Volk der etwa 12 000 Tschuktschen heute eine Zukunft? Juri Rytchëu während einer Buchlesung in Berlin: "Die Tschuktschen, ein heute von den Russen vergessenes Volk, sind wie viele kleine Völker des Hohen Nordens vom Aussterben bedroht."

Bisher haben alle Bücher Rytchëus* Charlotte und Leonhard Kossuth übersetzt. Der letzte Schamane nun wurde ins Deutsche übertragen von Antje Leetz, geboren 1947 in Frankfurt / Main. Sie studierte Germanistik und Slawistik und war fünfzehn Jahre lang Lektorin für neue russische Literatur im Ostberliner Verlag Volk und Welt, danach drei Jahre Redakteurin in einem Verlag in Moskau. Ihr verdanken wir u. a. das einprägsame Buch von Irina Ehrenburg "So habe ich gelebt". Ich weiß von Leonhard Kossuth, dass er die Übersetzung abgetreten hat, weil er unbedingt sein autobiographisches Buch über den Verlag Volk & Welt schreiben wollte und beide Bücher zum gleichen Zeitpunkt nicht bewältigt hätte... Antje Leetz, die sehr erfahrene Übersetzerin, hat sich gut geschlagen, ist mit der exotischen Thematik gut zurecht gekommen. Aber dieser Fehler hätte ihr nicht passieren müssen: Auf Seite 126 lesen wir von der Internationalen Walfischkommission statt Walfangkommission, auf Seite 213 von Walfischjagd statt von Waljagd; der Wal ist kein Fisch, sondern ein Säugetier, weshalb es auch richtig Walfangschiff und nicht Walfischfangschiff heißt...

Zu Sowjetzeiten verboten und mit dem Tode bedroht, erleben die Schamanen heute eine Renaissance; im Jahre 2001 fand in Sibirien erstmals ein internationales Schamanentreffen statt, zu dem vierhundert Schamanen, sogar aus Afrika und Lateinamerika, anreisten.

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

 * Juri Rytchëu verstarb im Alter von 78 Jahren im Mai 2008. 

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Am 30.06.2003 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 24.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Erfolg ist kein Vogel, kommt nicht angeflattert.
Sprichwort der Eskimos

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