Belletristik REZENSIONEN

Von eichuktsche wurde...

Tschuktsche
Gold der Tundra
Aus dem Russischen von Kristiane Lichtenfeld
Unionsverlag, Zürich 2006, 267 S.
 

Ich wüsste gern, ob die



Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

 * Aus: Gisela Reller, "Diesseits und jenseits des Polarkreises, Bei den Südosseten, Karakalpaken, Tschuktschen und Eskimos", Verlag Neues Leben, Berlin 1985, Seiten 179 - 182 (gekürzt): Sorgen..., nichts als Sorgen?:

"Bevor wir weiter ins Tschuktschenland vordringen, empfängt uns Wjatscheslaw Iwanowitsch Kobez, 1. Sekretär des Tschuktschischen Bezirksparteikomitees des Magadaner Gebietes, zu einem Gespräch. Seine Nationalität ist Russe, seine eigentliche Heimatstadt Moskau und seine Heimat, so sagt er, die ganze Sowjetunion. Sein ewig gefrorenes Reich ist fast siebenmnal so groß wie unsere DDR. Wie groß sind seine Probleme?

Wjatscheslaw Iwanowitsch, ich bin ganz begeistert von Tschukotkas Hauptstadt Anadyr - mit ihren modernen Steinhäusertn, dem schönen Pionierpalast, dem komfortablen Filmtheater, dem so geschmackvoll ausgestatteten Kulturklub, von den Betonstraßen, den Grünflächen mit den wenn auch kleinen weißen Margeriten... Und all das auf ewigem Frost! Ich habe mir den `Rand der Welt´ anders vorgestellt.

So? Wie denn?

Irgendwie provisorischer...

Zehntausende Menschen kommen durchaus vorübergehend aus allen Gegenden der Sowjetunion in den hohen Norden. Ein Teil jener Nordländer ist tatsächlich nicht sehr daran interessiert, `für die Ewigkeit zu bauen, Grünanlagen zu errichten, die Umwelt zu erhalten und - sauberzuhalten.

Wir sind aber inzwischen einigen `Zugereisten´ begegnet, die sich hier seit Jahrzehnten häuslich niedergelassen haben.

Ja, in den Städten, in Magadan, in Anadyr, auch in Pewek. In vielen Siedlungen sieht es aber nicht so günstig aus.

Warum nicht?

Das Hauptproblem für den ganzen Nordosten ist der Wohnungsbau. Wir brauchen nicht alle paar Jahre neue Anfänger hier, sondern Menschen, die mit komplizierter Arbeit und enormen Kältegraden bestens vertraut sind. Leider sind aber im letzten Planfahrfünft vierzig Prozent weniger Kader als im gleichlangen vorangegangenen Zeitraum in Magadaner Gebiet gekommen. Hochqualizierte Arbeiter, die jahrzehntelang bei uns bleiben sollen, wollen in Siedlungen mit städtischem Komfort wohnen. Und sie haben ein Recht darauf, obwohl jedes in unserem Landstrich gebaute Haus fünfmal teurer ist als in Mittelrussland.

Wer sich entschließt, am Nördlichen Polarkreis zu leben, sollte der nicht auf den einen oder anderen Komfort verzichten können?

Auf Luxus ja, auf Komfort nicht. Menschen, die sich hier ansiedeln, reisen doch mit ihren Familien an oder gründen hier Familien, Kinder kommen. Sollen sie benachteiligt sein?

Was ist für Sie Luxus, was Komfort?

Komfort? Nun, das heißt Strom, moderne Heizung, schöne Möbel, Kühlschrank, Fernsehanschluß erst einmal, denn Fernseher... Und Luxus? Das wäre zum Beispiel ein Farbfernseher - sozusagen als Zweitgerät... Sollen sie zusätzlich auch noch in großer Zahl hergebracht werden? Über den Nördlichen Seeweg? Auf dem Luftweg? Bei Frost über die vereisten Flüsse? Auf diesen Wegen muß massenweise Lebensnotwendiges zu uns in die Arktis gebracht werden - angefangen von Trockenmilch... Besonders problematisch, daß es ausgerechnet hier im Norden - wo die Menschen über hundert Prozent mehr verdienen als in klimatisch günstigeren Gegenden - natürlich niemanden gibt, der nicht genug Geld auch für Luxusgegenstände hätte.

Wjatscheslaw Iwanowitsch, welche Sorgen haben Sie mit Tschukotka?

Uns fehlen stabile Autorstraßen; wir brauchen mehr, viel mehr Fahrzeuge in `nördlicher Ausführung´, also Motorschlitten, Luftkissenfahrzeuge; es müssen komfortable fahrbare Rentierzüchterhäuschen mit individueller Energieversorgung konstruiert werden - statt der Felljarangas mit den offenen Feuerstellen. Erforderlich ist die sorgfältige Einführung jeder für den Norden geeigneten neuen Errungenschaft von Wissenschaft und Technik. Beispielsweise bringt die Freisetzung eines einzigen Facharbeiters im Bergbau durch Einführung neuer Technik einen volkswirtschaftlichen Nutzen von etwa neunzehntausend Rubel jährlich!

Es gibt doch hochleistungsfähige Geländewagen, mit denen man durch die sumpfige Tundra, durch flache Seen, über steinige Hügel sicher fahren kann.

Die schweren Raupenfahrzeuge, von denen Sie so angetan scheinen, entsprechen sehr gut unseren Bodenbedingungen, aber sie zerstören die Vegetationsdecke der Tundra erbarmungslos. Die Moose und Flechten - die einzige Nahrung der Rentiere - wachsen jährlich einen Millimeter. Verstehen sie, einen Millimeter. Unsere Tundra - und mag sie noch so groß sein - ist jedoch im wesentlichen erschlossen. Es gibt so gut wie keine neuen Weideflächen mehr. Die vorhandenen müssen gehegt und gepflegt werden! In Alaska beispielsweise zählte man noch vor etwa dreißig Jahren eine Million Rentiere. Der Raubbau an den Weiden führte dazu, daß heute nur noch etwa fünfzigtausend Tiere Nahrung finden. Eine glückliche Zukunft der Polargebiete ist aber ohne Rentier, das dem Menschen Fleisch, Milch, Leder liefert und auch als Last- und Reittier dient, unmöglich!

Zurück also zum Hundeschlitten?

Der Hundeschlitten ist ein über Jahrhunderte bewährtes Transportflugzeug. Jedenfalls kommt es darauf an, eine vernünftige Verbindung zu finden zwischen technischen Neuerungen und althergebrachten Lebensformen.

Haben Sie Nachwuchssorgen bei der Rentierzucht?

Auch das. Viele junge Tschuktschen, Eskimos, Ewenen, Tschuwanzen, Jukagiren wollen sich in anderen als den traditionellen Wirtschaftszweigen beweisen. Und es werden ihnen - selbstverständlich zu Recht - alle Bildungsmöglichkeiten gegeben. Andererseits wird die einheimische Bevölkerung unbedingt in diesem uralten, unsagbar komplizierten Wirtschaftszweig, der Rentierzucht, gebraucht. Früher wurden die `Geheimnisse´ der Rentierzucht von Generation zu Generation sorgsam überliefert: wie man eine Raststelle für die Herde wählt und die Schlittenhunde anlernt. Heute muß ein Rentierzüchter aber auch noch verstehen, ein Funkgerät zu bedienen, eine Geländefahrzeug zu lenken und mit der Impfkanüle umzugehen. Doch leider verlieren viele Jugendliche, die unter den trefflichen Bedingungen des Internats erzogen werden, das Interesse an den traditionellen Berufen. Deshalb wurden schon an vielen Schulen Zirkel für Pelztierzüchter und Zirkel für die Anfertigung von Kleidungsstücken aus Fellen eingerichtet. In Prowidenija gibt es eine Berufsschule, an der Fahrer für Traktoren und geländegängige Fahrzeuge sowie Funker ausgebildet werden, in Ola haben Sie den landwirtschaftlichen Ausbildungssowchos ja selbst besucht.

Wjatscheslaw Iwanowitsch, welche Freuden haben Sie mit Tschukotka?

Unsere Geologen entdecken Bodenschatz um Bodenschatz, kürzlich erst bei Anadyr Erdöl und Erdgas; wir lernen, die vielen heißen Quellen zu nutzen, so daß wir schon einheimische Vitamine - grüne Gurken, Tomaten, Radieschen; Eier - zu uns nehmen können; wir decken einen Teil unseres Kartoffelbedarfs und Kohlverbrauchs von Feldern auf ewigem Frostboden; Hunderte Kühe haben sich bei uns im letzten Jahrzehnt akklimatisiert, in vielen Kindergärten und Krankenhäusern gibt es schon frische Milch. Für all die Waren, die wir selbst produzieren, können andere Güter zu uns transportiert werden. Es klappt immer besser mit der Schichtarbeit der Rentierzüchter im Zwanzigtagerhythmus, wir haben nur noch fünf Prozent echte Nomaden; ein ganz neuer Wirtschaftszweig ist die Pelztierzucht, besonders geeignet für die einheimischen Frauen, die ja heute durchaus nicht mehr alle ihre Männer in die Tundra begleiten; na, und daß `meine´ Margeriten blühen... Den Samen hatte ich im Gepäck aus Moskau als `Antrittsgeschenk´ mitgebracht; die Erde mußte allerdings aus Wladiwostok eingeflogen werden.

Sie haben also nicht nur Sorgen mit Tschukotka?

Wo denken Sie hin? Innerhalb von fünf Jahrzehnten hat Tschukotka einen Weg zurückgelegt, der vergangene tschuktschische Jahrtausende zu einem Schritt werden läßt. Aber wir hier oben `am Rande der Welt´ müssen ungeduldig sein; denn die so unvorstellbar grimmigen Schneestürme, die unbeschreibliche eisige Kälte, die rauben uns unerbittlich viel produktive Zeit.

*

Auf dem Weg vom Parteikomitee zum Hotel betrachte ich die `Vorgärten´ mit ganz anderen Augen: Viel größer erscheinen mir die weißen Blütenköpfe, viel frischer das Grün der Stengel und Blätter."

 

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Am         2008 ins Netz gestellt.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Eine e Seele.
Sprichwort der Russen


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