| Traum im Polarnebel ist als Buch 1968 im 
        Ostberliner Verlag 
        Volk und Welt erschienen. Damals las ich das das zweite, deutsch erschienene Buch von 
        Juri Rytchëu*. Sehnsucht nach 
        Tschukotka erfasste mich... Nun hörte ich Traum im Polarnebel - 
        36 Jahre später - als Hörbuch, gelesen von dem Schauspieler Manfred 
        Zapatka. Erinnerungen überwältigten mich. Denn: 1980 endlich hatte ich 
        als Ostberliner Journalistin  das Tschuktschenland tatsächlich bereist... Die 
        Halbinsel Tschukotka war da noch militärischer Sperrbezirk - wegen der 
        nur durch die 80 Kilometer breite Beringstraße getrennten amerikanischen Nachbarschaft.
        
 Traum im Polarnebel spielt in den Jahren 1912 
        bis 1920, vor der Gründung der Union der Sozialistischen 
        Sowjetrepubliken (UdSSR). In einem Küstendorf Tschukotkas im äußersten 
        Nordosten Russlands, in Enmyn, strandet das 
        Walfangschiff "Belinda". An Bord ist auch der Kanadier John MacLennan. Durch ein 
        tragisches Missgeschick wird er schwer an den Händen verwundet. Drei 
        Ureinwohner sollen John (den die Tschuktschen Son nennen), in die 
        russische Stadt Anadyr (heute Tschukotkas Hauptstadt) bringen, weil dort 
        ein russischer Arzt ansässig ist. Doch unterwegs setzt bei John 
        Wundbrand ein. Die drei Ureinwohner Toko (sprich: Tokó), Orwo (sprich: 
        Orwó) und Armol rufen die Schamanin Kelena zu Hilfe. John MacLennan 
        glaubt, sein letztes Stündchen habe geschlagen... Doch die Schamanin 
        rettet ihm das Leben, in dem sie einige Finger an beiden Händen 
        amputiert. Geschickt und gekonnt, wie John später feststellt. Als sie 
        wieder in Enmyn ankommen, hat das Schiff bereits abgelegt, aus Sorge, 
        wieder vom Eis eingeschlossen zu werden. Es bleibt John nichts weiter übrig, 
        als den Winter in Enmyn zu verbringen - um dann, wenn das Eis aufgetaut 
        ist, mit einem vorüber kommenden Schiff zurück in die Heimat zu fahren.
 
 Fand er anfangs "diese Wilden" ein "unsympathisches Völkchen", so lernt er 
        sie bald schon als Freunde schätzen, die in der Not einander helfen und 
        immer füreinander da sind. Auch für John, dem sie lederne Prothesen 
        basteln, so dass er bald schon selbständig essen, sich anziehen und 
        sogar schreiben kann. Fand der Kanadier es hier am Ende der Welt ganz 
        und gar unwirtlich, so kommt er bald schon mit der so ganz anders 
        gearteten tschuktschischen Lebensweise gut zurecht, besonders als er mit 
        seinen Lederprothesen auch zu schießen lernt. Nun ist er kein 
        Schmarotzer mehr, sondern ein Jäger, der sich selbst ernähren kann.
 
 Als Johns bestem Freund Toko ein Unglück widerfährt, und er stirbt, 
        beschließt er, endgültig auf der Halbinsel und in der bei Schneesturm 
        ächzenden Jaranga zu bleiben. Wohl auch wegen Tokos Frau Pylmau (sprich: 
        Pylmá-u) und ihrem kleinen Sohn Jako (sprich: Jakó), für die er sich als 
        bester Freund Tokos verantwortlich fühlt, und denen er schon längere Zeit 
        sehr zugetan ist. John Mac Lennan, einst froh, dass er nicht in dieser 
        Einöde, sondern weit weg geboren wurde, fühlt sich in der weiten 
        Landschaft unter den einfachen, im Alter zur Weisheit neigenden 
        Einheimischen mit ihrem schlichten Wesen und göttlichem Glauben wohl, 
        manchmal sogar glücklich. Das Glück, kennt John inzwischen ein tschuktschisches Sprichwort, 
        geht nur zu dem, der ihm entgegengeht. Wer, 
        so grübelt er, an die Heimat denkend, könnte sagen, was das wahre Leben 
        ist, und er denkt:" (...) daß das Volk der Tschuktschen keineswegs so 
        einfältig sei, wie er angenommen hatte: Es besaß einen eigenen Kalender 
        und eigene Vorstellungen über die Bewegung der Himmelskörper. Sein 
        medizinisch-chirurgisches Können war sogar über jedes Lob erhaben. John 
        lächelte jetzt bei dem Gedanken (...), daß er Toko einmal mit Armol verwechselt hatte und daß ihm 
        alle Tschuktschen gleich auszusehen schienen. Nein, sie besaßen eine 
        eigene, ihren harten Lebensbedingungen angepaßte Kultur und hatten sich 
        in einer Umgebung, in der ein Raubtier zugrunde gehen konnte, beste 
        menschliche Eigenschaften bewahrt."
 
 Bald schon wird Pylmau und John 
        ein kleines Mädchen geboren. Sie nennen es Tynewirineu-Mary; Mary heißt 
        Johns Mutter. John weiß nun: "Ich habe meinen Platz in der Welt 
        gefunden." Doch in einem furchtbaren winterlichen Hungerjahr stirbt die 
        kleine Tochter. Wir erleben Pylmau und John noch, wie ihnen zwei weitere 
        Kinder geboren werden: Bill-Toko und Sophie-Ankanau. John sieht sich als 
        Stammvater fremdartiger Tschuktschen. In sein Tagebuch schreibt er: "Der 
        Mensch atmet, liebt, ißt und trinkt und genießt die Wärme in diesem 
        Reich des Frostes und der eisigen Stürme. Eine einfache wärmende Flamme 
        und der warme Hauch der Häuslichkeit haben hier einen Wert wie nirgendwo 
        sonst auf der Welt." Dabei bleibt es auch, als ihn seine gealterte 
        Mutter zurück in die alte Heimalt holen will...
 
 Am Schluss des Buches ist auch hier "am Ende der Welt" von Revolution und 
        Bolschewiki die Rede. Bald wird Schluss damit sein, dass es keine 
        Behörden, keine Oberen gibt, dass jede Siedlung für sich und mit sich 
        allein auskommen darf...
 
 Es fällt einem nicht schwer, Manfred Zapatkas 
        angenehmer Stimme fast fünf Stunden lang zu lauschen. Er liest 
        eindrucksvoll und hebt nur selten (aber dann gekonnt) ein Wort oder eine 
        Situation stimmlich hervor. Erfreulich auch, dass Orte und Namen richtig 
        betont und ausgesprochen werden (bis auf Uëlen, 
        sprich: U-e-len, das auch im Buch falsch Uellen heißt). Manfred Zapatka wurde 1942 in 
        Bremen geboren, ist bekannt als Theater- und Filmschauspieler, der mit 
        bedeutenden Regisseuren zusammenarbeitete. Die Übersetzung aus dem 
        Russischen (wie schon die des Buches des Ostberliner Verlages Volk und Welt) 
        stammt auch beim Hörbuch von Arno Specht und wurde  geschickt unwesentlich 
        gekürzt.
 
 Nicht zu verstehen ist, warum im Booklet die 
        Veröffentlichungen Juri Rytchëus nur 
        bis 1980 angegeben sind. Danach folgten z. B. noch so wichtige Werke wie 
        "Unna" 
        (1997), "Im Spiegel des Vergessens" 
        (1999), "Die Reise der Anna Odinzowa" 
        (2000), "Der letzte Schamane" (2002).
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