Sachbuch REZENSIONEN

In der Heimat des Teufels

Über Workuta, Russland und die Komi
Workuta
Erinnerung ohne Angst
Mit 30 Abbildungen und Dokumenten, 2. Auflage
F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung, München 2001, 255 S.

Während des Krieges und in der Nachkriegszeit  wurden mehr als 200 000 Bürger der Länder, die gegen die Sowjetunion Krieg führten oder geführt hatten von sowjetischen Justizorganen verfolgt. Davon waren die meisten Deutsche, auch so genannte Volksdeutsche aus der Sowjetunion und den vor ihr kontrollierten Gebieten.

Horst Schüler gehört zu den bedauernswerten Deutschen, die Anfang der fünfziger Jahre aus Deutschland nach Workuta verschleppt wurden. "Workuta", schreibt Schüler, "liegt in einer Region, die zu den unwirtlichsten der Erde zählt, knapp zweihundert Kilometer jenseits des Polarkreises im äußersten Norden Rußlands. Vor allem aber: Vor kaum mehr als fünfzig Jahren gab es diese Stadt noch nicht. Dort, wo sie heute annähernd zweihunderttausend Menschen so etwas wie Heimat ist, zeigte die Landschaft damals einen weißen Fleck. Der stand für die alles beherrschende Tundra, ein vegetationsarmes, baumloses und flaches Land, zumeist von Eis und Schnee bedeckt, der Boden metertief gefroren. Den vom nahen Eismeer anstürmenden Orkanen setzt die Tundra kaum Widerstand entgegen, die Temperaturen sinken bis unter sechzig Grad minus ab. In Rußland nennt man die Gegend um Workuta deshalb auch `Heimat des Teufels´. "

Horst Schüler "lebte" als politischer Lagerhäftling von 1951 bis 1955 in der "Heimat des Teufels". Hier stellten schon die klimatischen Verhältnisse eine Art Folter dar. "Wichtiger aber war die Tatsache", schreibt Schüler in seinem Prolog, "daß in der Komi-Republik - so heißt dieser Teil Russlands - ein riesiges Kohlevorkommen entdeckt worden war. Es wurde von den Häftlingen zu einer der wichtigsten Industriebasen der Sowjetunion aufgebaut, mit Workuta als Zentrum." Rings um die Stadt waren vierzig Straflager angeordnet, von denen die meisten an einen Kohleschacht grenzten, in dem die Lagerinsassen in zwei Schichten zu je acht bis 12 Stunden täglich in mehreren Schichten schuften mussten. Insgesamt waren etwa 100 000 Strafgefangene in den Lagern von Workuta untergebracht. Im Schacht 29, in dem Schüler die meiste seiner Lagerzeit arbeitete, gab es etwa hundert Deutsche - die meisten mit Hetzblättern oder Flugblättern aus Westberlin erwischt oder von einem Spitzel angezeigt, weil er über die ständig steigende Arbeitsnorm in der DDR geflucht hatte. Die Gründe für Verhaftungen waren so banal wie mannigfaltig. Über einen Esten schreibt Schüler, er sei mit fünfundzwanzig Jahren Arbeitslager bestraft worden, nur weil er Truman hieß... Es gäbe über viele erschütternde Ereignisse zu berichten, zum Beispiel über den Aufstand der Häftlinge am 24. Juli 1953, der zusammengeschossen wurde, über einzelne Menschen verschiedener Nationalität, die auch in diesem unmenschlichen Lager Menschen geblieben waren, Schwächeren gegenüber zur Hilfe bereit. Bereits nach Stalins Tod (am 5. März 1953) begann die Repatriierung der Häftlinge - die bei einer Sterblichkeitsrate von etwa neun Prozent überlebt hatten. Die letzten deutschen Gefangenen konnten jedoch erst nach dem Besuch Konrad Adenauers in Moskau im September 1955 nach Deutschland zurückkehren - auch Horst Schüler. (Gerhart Schirmer bezweifelt übrigens in seinem Buch "Zehn Jahre in den Fängen der Sowjets", dass damals vor fast vierzig Jahren alle Gefangenen frei gekommen sind.) An dem Buch Horst Schülers ist nicht die Beschreibung des grausamen Lagerlebens das Außergewöhnliche sondern: Der ehemalige Häftling Horst Schüler besuchte 1992, vier Jahrzehnte "danach" freiwillig diese Stätte des Grauens und verknüpft Vergangenheit und Gegenwart zu einer beeindruckenden dokumentarischen Reportage. In manchen Passagen dieser Erinnerungen an die Häftlingszeit hat Schüler bewusst auf Stilmittel eines Romans oder einer Erzählung zurückgegriffen, weil "ich nicht nur ein Buch für die ehemaligen Gefangenen Stalins schreiben" wollte. "Wichtiger war mir, die anderen Menschen, junge besonders, dafür zu interessieren, was viele tausend unschuldige Frauen und Männer hinter der Bühne der Weltgeschichte durchmachten. Ihnen wollte ich so eindrucksvoll wie möglich von dem erzählen, was die Haftjahre für die Gefangenen so schrecklich machte: Die Atmosphäre in den Lagern, die Verzweiflung der Häftlinge, ihre Sehnsüchte, der Hunger, der tägliche Überlebenskampf  in einem Dasein, das man am ehesten mit dem Wort `Sklave´ beschreibt."

Schüler hat inzwischen Journalistik studiert und schreibt, daß er als erster deutscher Journalist diese Region besuchte. Langsam bin ich es leid, solche Behauptungen zu korrigieren; denn wir - der Bildreporter Peter Meißner und ich als Text-Journalistin, waren als erste deutsche Journalisten (DDR-Journalisten) 1983, neun Jahre vor Schüler, in dieser Region, auch in Workuta, auch in Uchta, auch in Syktywkar, auch in Magadan. Leonhard Kossuth schreibt in seinem Buch "Volk & Welt" im Zusammenhang über seinen (gleichzeitig auch meinen!) Ärger, dass die Bundesrepublik die Entdeckung der nationalen Literaturen der Sowjetunion für sich in Anspruch nimmt: Wenn hier und dort Titel aus nur scheinbar peripheren Literaturen erscheinen, werden sie in den Medien als Einblicke in unentdeckte Kontinente wahrgenommen, "weil als Geschichte der neuen Bundesrepublik nur die Geschichte der alten erfaßt wird". Und so sind auch wir ehemaligen DDR-Journalisten, die weit vor den BRD-Journalisten auf Tschukotka waren oder in Karakalpakien oder in Wladiwostok oder am Aralsee oder im buddhistischen Kloster von Ulan-Ude usw. usw. "unerfasst".

Wie immer in solchen Büchern wird über die einheimische Bevölkerung, in diesem Fall über die Komi, viel Falsches gesagt. Meist, weil die Informationen während der Lagerhaft von anderen Häftlingen aufgeschnappt und dann zu Hause nicht nachrecherchiert wurden. Schüler schreibt, dass bei der letzten Volkszählung 1960 400 000 Komi gezählt wurden. Die letzte gesamtsowjetische Volkszählung fand jedoch 1979 statt, und da zählte man 327 000 Komi. So nennen sie sich übrigens nicht selbst, wie Schüler schreibt, sondern dies ist ihre offizielle Bezeichnung; ihre Selbstbezeichnung ist Syrjänen. Ihre Sprache gehört zu den finnougrischen Sprachen (wie die der Esten und die der Ungarn), sie sind orthodoxe Christen, zum Teil Animisten. Manchmal, schreibt Schüler werden sie auch Nenzy oder Chanty genannt. Das nun stimmt überhaupt nicht, denn die Nenzen leben im sibirischen Gebiet Tjumen, sprechen eine uralisch-altaiische Sprache und sind mit den Komi in keiner Weise "verwandt", genau wie die Chanten, die vorrangig ebenfalls im Gebiet Tjumen leben, eine ugrisch-altaiische Sprache sprechen und ebenfalls keine Komi sind.

In Anbetracht dessen, was die Verschleppten durchgemacht haben, geniert man sich fast, diese Richtigstellung anzubringen - zumal aus vielen Äußerungen Schülers hervorgeht, dass er sich nach seiner Heimkehr mit dem Land seiner Qualen intensiv (und objektiv) auseinandergesetzt hat. Auch seine Objektivität auf seiner Reise vierzig Jahre danach, wo er von der russischen und "volksdeutschen" Gastfreundschaft, Anteilnahme und Hilfsbereitschaft geradezu schwärmt: "Nicht eine Minute fühle ich mich unter diesen Menschen als Fremder." Und an anderer Stelle: "Man stelle sich das einmal umgekehrt vor: Einer der früheren `Ostarbeiter´, wie man die während des Krieges zwangsweise nach Deutschland gebrachten Sowjetmenschen nannte, einer von denen also kommt zu Besuch nach Berlin, Hamburg, München oder Düsseldorf. Das kümmert doch keine Menschenseele dort, davon nimmt doch niemand Notiz."

In der DDR hat es einen generellen Politbürobeschluss gegen die Herausgabe von "Lagerliteratur" gegeben. Anlass ist Alexander Solschnizyns "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" gewesen. Da Workuta. Erinnerung ohne Angst das erste Buch dieses "Genres" in meiner Homepage ist, möchte ich hier einige grundsätzliche Fakten über die russischen Lager nennen: Schon im Sommer 1918 hatte man in Sowjetrussland damit begonnen, als "Volksfeinde" bezeichnete Personen in Lagern zu inhaftieren. Der DDR-Historiker Prof. Günther Rosenfeld spricht in diesem Zusammenhang ohne Wenn und Aber von Konzentrationslagern. In den nachfolgenden Jahren entwickelten sich diese "Arbeits- und Besserungslager" zu einem Lagersystem, dass große Teile der Sowjetunion, insbesondere den kalten Norden und den Fernen Osten überdeckte. Wesentlich waren in dieser Hinsicht die Auswirkungen der Zwangskollektivierung sowie die Bauten der Fünfjahrpläne, für die die stalinsche Führung die billige Sklavenarbeit der Lagerhäftlinge mit einkalkulierte. Bereits 1930 wurde bei der Geheimpolizei (bis 1923 Tscheka, später GPU, dann NKWD, dann MGB, ab 1954 KGB, heute FSB)) eine Hauptverwaltung für die ihr unterstellten Straflager (Glawnoje Uprawlenije Lagerjej, abgekürzt GULag) geschaffen. Im Rahmen der weiteren Zentralisierung wurde sie 1934 dem Volkskommissariat des Innern (NKWD) unterstellt. Der russische Historiker W. N.Semskow benennt auf Grund ausgewerteten Archivmaterials in einer 1997 veröffentlichen Arbeit die Zahl dieser Lager für Anfang 1940 mit 53, zu denen rund 600 Nebenstellen gehörten. Hinzu kamen 475 "Arbeits- und Umerziehungskolonien" mit verschiedenen Spezialsiedlungen. Semskow gibt weiter an, dass in den Jahren 1934-1940 den Lagern 5,3 Millionen Häftlinge zugeführt wurden. Da sich die Zahl der Lagerinsassen durch Tod, Entlassung oder Flucht wiederum verminderte, wird sie für das Jahr 1940 mit 1,5 Millionen angegeben. In den Jahren des Krieges und danach stieg die Zahl der Lagerhäftlinge im Ergebnis von Terrorwellen, Deportationen und von Zuführungen aus Gefängnissen, Kriegsgefangenenlagern sowie von Zivilpersonen aus den von der Sowjetunion besetzten Ländern rasch an und belief sich Anfang 1953 auf etwa 2,75 Millionen - einer davon Horst Schüler. In den 2,75 Millionen sind nicht gerechnet die mehr als zwei Millionen Menschen in Spezialsiedlungen. Die Verhaftungen und Verurteilungen erfolgten zumeist durch die Geheimpolizei und in der Regel - wie auch bei Horst Schüler - unter Berufung auf den Artikel 58 des sowjetischen Strafgesetzbuches von 1926, der die Bestrafung wegen sowjetfeindlicher Handlungen vorsah. "Da die Verhaftungen" - so Prof. Rosenfeld im "Neuen Deutschland" vom 14./15. Juli 2001 - "zumeist willkürlich vorgenommen wurden und bei Fehlen eines ordentlichen Gerichtsverfahrens `Geständnisse´ unter Folter erpresst wurden, geriet so eine große Zahl von Menschen, die sich keinerlei Verbrechen schuldig gemacht hatten, in die sowjetischen Straflager." Erst nach Stalins Tod (am 5. März 1953) änderte sich langsam diese Situation, wozu eine Rechtsreform und 1956 die Auflösung des GULag gehörten. Anatoli Rybakow schrieb in seinen Memoiren "Roman der Erinnerung": "Nach dem 20. Parteitag befreite Chrustschow Millionen Lagerhäftlinge, gab schuldlos Gestorbenen ihren guten Namen zurück. Das wird Rußland niemals vergessen."

Die Verfolgungen von Dissidenten dagegen blieben auch nach 1956 bestehen. Und erst ein am 18. Oktober 1991 verabschiedetes Gesetz sah die Rehabilitierung der ehemals zu Unrecht Verfolgten vor. Eine Novelle vom 22. Dezember 1992 weitete dieses Gesetz auf ehemals unrechtmäßig verurteilte Ausländer  (also auch auf Horst Schüler) aus.

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

 

Weitere Rezensionen  zum Thema "Lagerliteratur (GULag / Gulag / GULAG und Verbannung)":

  • Anne Applebaum, Der Gulag.
  • Tomasz Kizny, GULAG.
  • Anna Larina Bucharina, Nun bin ich schon weit über zwanzig.
  • Gerhart Schirmer, Sachsenhausen - Workuta. Zehn Jahre in den Fängen der Sowjets.
  • Lydia Tschukowskaja, Sofja Petrowna.
  • Semjon S. Umanskij, Jüdisches Glück. Bericht aus der Ukraine 1933-1944.
  • Julius Wolfenhaut, Nach Sibirien verbannt.

Am 31.03.2004 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 12.01.2017.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Auch einer Braven kann ein böses Kind geboren werden.
Sprichwort der Komi

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