Sachbuch REZENSIONEN

"Wer sich aufgab, war innerhalb von 100 Tagen tot."

Über Workuta, Russland und die Komi
Sachsenhausen-Workuta
Zehn Jahre in den Fängen der Sowjets
Grabert-Verlag, Tübingen 1992, 64 S.

Wie die Herausgeber des Buches "Ihr verreckt hier bei ehrlicher Arbeit! Deutsche im GULAG 1936-1956. Anthologie des Erinnerns" (Leopold Stocker Verlag, Graz / Stuttgart) angeben, wurden etwa 30 000 in sowjetische Gefangenschaft geratene Angehörige der deutschen Wehrmacht (bei einer Gesamtzahl von 2,4 Millionen Deutschen und 156 000 Österreichern in sowjetischer Kriegsgefangenschaft) als Kriegsverbrecher sowie 35 000 bis 40 000 Personen in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands wegen angeblich sowjetfeindlicher Tätigkeit strafrechtlich verurteilt, dabei oft, wenn nicht sogar zum Tode, mit dem Strafmaß von zehn bis 25 Jahren Lagerhaft.

Gerhart Schirmer, 1913 in Chemnitz geboren,  hatte sich 1932 zur Sächsischen Landespolizei gemeldet, von der er 1935 zur Luftwaffe übertrat. 1939 war er Kompanie-Chef  beim Fallschirmjägerregiment 2 und nahm als solcher bei den Einsätzen in Holland und Griechenland teil. 1942 übernahm er ein Bataillon im Fallschirmjägerregiment 5 mit Einsatz in Nordafrika. Danach war er in Russland, wo er ab Februar 1944 Kommandeur des Fallschirmjägerregiments 16 war. Als Oberstleutnant und Ia einer Fallschirmjäger-Ausbildungsdivision geriet er am 5. Mai 1945 in englische Kriegsgefangenschaft, aus der ihm die Flucht gelang. Schirmer machte sich auf den Weg in seine sächsische Heimat. In Tangermünde wurde er von sowjetischen Soldaten aufgegriffen und kam als Kriegsgefangener ins Konzentrationslager Sachsenhausen, wo der große Charakterdarsteller Heinrich George 1946 verhungerte. Georges Gedicht "Was mir verblieb" ist überliefert: Wenn ich einmal frei sein werde,/Frag ich mich, wie wird das sein?/Grabe dann in deine Erde, /Heimat, tief die Hände ein.//Gehe einsam durch die Straßen/Wie in einem stillen Traum/Kann die Freiheit noch nicht fassen,/ Lehn den Kopf an einen Baum.//Wenn mich jemand wollte fragen,/ Wo ich denn gewesen bin,/Werde ich verhalten sagen:/War in Gottes Mühlen drin.//Sah die Müller Spuren mahlen/In der Menschen Angesicht,/Mußte mit dem Herzblut zahlen/Wie in meinem Leben nicht.// Wenn ich einmal frei sein werde,/Frage ich mich, was mir verblieb:/Du - o deutsche Heimaterde!/Dich habe ich von Herzen lieb!//

Fünf Jahre nach dem Tod Stefan Georges kam Schirmer nicht etwa frei aus Sachsenhausen, sondern wurde nach Workuta, dem abgelegenen russischen hohen Norden der Sowjetunion verbracht. Hier wurde er im Januar 1956 entlassen - nach insgesamt zehneinhalb Jahren Haft. Wie Horst Schüler hat er im Juli 1953 in Workuta den Streik der Häftlinge miterlebt und mit eigenen Augen gesehen, wie dieser zusammengeschossen wurde. Es gab, so schreibt Schirmer, einige hundert Tote. Anlässlich des 50. Jahrestages dieses Streiks von Gefangenen aus dreißig Nationen erschien 2003 im Leipziger Universitätsverlag "Begegnungen in Workuta, Erinnerungen, Zeugnisse, Dokumente".

Bei Gerhart Schirmer lese ich zum ersten Mal, dass nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR viele Deutsche als Häftlinge in Workuta eingetroffen seien. Ich hatte lange gezögert, diese 1992 erschienene Broschüre in meine Homepage aufzunehmen, denn der Grabert-Verlag lässt durchaus auch Leute zu Worte kommen, die aus der Vergangenheit wenig gelernt haben. So auch Schirmer, bei dem man Sätze lesen kann wie diesen: "Regierung, Presse und Funk sollten mit der Schuldzuweisung an unser Volk endlich aufhören." Übrigens: Die Bundeswehr zögerte nicht, Gerhart Schirmer nach seiner Heimkehr nach Deutschland aufzunehmen - als Kommandeur einer Fallschirmjägerbrigade; später wurde er als Oberst Höherer Kommandeur der Heeresflieger.

Viele Lagererlebnisse (auch der Aufstand von 1953) stimmen bei Schirmer und Schüler überein. Aber die folgende  Behauptung fand ich bis jetzt nur bei Gerhard Schirmer, der schreibt: "Wir hatten erfahren, das im Kolymagebiet im fernen Osten der Sowjetunion im Land der Jakuten (...) noch viele Deutsche seien. Dort ist eines der Gebiete für die Goldgewinnung der Sowjetunion. Wir wollten Verbindung dorthin knüpfen, machten einen Kassiber (...) wasserdicht fertig, und [der Einheimische] Rea versprach, die Komi zu bitten, dorthin - nach Kolyma - mit Rentierschlitten zu fahren (über eine Entfernung von 4 500 km). Es gelang. (...) Wir hatten nach 16 Monaten die Antwort aus Kolyma: 30 000 Deutsche seien dort, meist Flieger, Waffen-SS, U-Boot-Leute. Der Kassiber war echt und von zwei bekannten Männern unterzeichnet." Dieser Kassiber wurde von zwei Häftlingen `bis nach Deutschland durchgerettet´. Schirmer schreibt, es sei verbürgt, dass aus der Kolymagegend keine Gefangenen nach Deutschland entlassen worden seien. Dem Verfasser,  so ist in seinem Nachwort zu lesen, lag mit seiner Niederschrift besonders die Frage am Herzen, ob in Kolyma noch deutsche Kriegsgefangene seien, deren Existenz geleugnet wird, weil sie kein politisches Interesse mehr bilden.

Ein Hirngespinst?

Ich habe, was die Sowjetunion anbelangt - als ostdeutsche Journalistin - so vieles nicht wahrhaben wollen, dass ich es inzwischen für nicht ganz und gar ausgeschlossen halte, dass es in Jakutien tatsächlich noch deutsche Kriegsgefangene gibt (die nunmehr um die achtzig Jahre alt sein müssten)...

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

Gerhart Schirmer schreibt am 03.10.2007 ins Gästebuch von www.reller-rezensionen.de:

Sehr geehrte Frau Reller,

Sie bezweifeln die Aussagen von Herrn Gerhart Schirmer über den Verbleib weiterer deutschen Kriegsgefangene, die sich im Jahr 1956 noch im Gulag befanden. Warum haben Sie denn nicht Herrn Gerhart Schirmer persönlich gefragt, um Ihre Skepsis zu beseitigen?

Auch sind Sie sehr skeptisch über die Aussage, daß im Kolymagebiet sehr viele deutsche Kriegsgefangene festgehalten wurden. Herr Gerhart Schirmer hat sogar dem Außenminister Herrn Brentano 1956 über diese Situation berichtet, aber leider keine Reaktion damit erzeugt. Kennen Sie denn nicht den Film "Soweit die Füße tragen", der authentisch ist?

M.f.G. Schirmer

*

Klaus T. schreibt am 27.07.2008 ins Gästebuch von www.reller-rezensionen.de:

Hallo,

habe die Workuta-Rezension von Schirmer gelesen. Er ist seit 2004 tot, warum wird da ein Gastkommentar unter Schirmer von 2007 gezeigt?

                  Weil ich am 03.10.2007 einen Eintrag von "Schirmer" in mein Gästebuch (Eintrag 225) erhielt! G. R.


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Am 31.03.2004 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 12.01.2017.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Ein gütiger Blick mundet mehr als Fleisch vom Ren.
Sprichwort der Komi

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