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Belletristik REZENSIONEN

Morgensuff und Abendkotze oder
Eine absurde Odyssee durch die postsozialistische Ostukraine

Depesche Mode
Aus dem Ukrainischen von Juri Durkot und Sabine Stöhr
edition suhrkamp 2494, Suhrkamp Verlag, Frankfurt / Main 2007, 246 S.

 (Rezensiert, entsprechend dem Gästebuch-Eintrag von Gerlinde Schönau.)
 

Dog Pawlow, Wasja Kommunist und der Ich-Erzähler Zhadan - jeder neunzehn Jahre alt, arbeitslos, ständig alkohol- und grasvernebelt - sind Freunde. Zu dieser Dreier-Clique gehören auch Sascha Zündkerze, Kakao und andere "durchgedrehte Comic-Helden" mit No-Future-Stimmung. Sie durchzechen Tag und Nacht, saufen und kotzen und reden allenfalls über Frauen und Sex.

Zhadans Romandebüt Depesche Mode besteht aus einem Einführungskapitel über sich selbst, vier Prologen, einem ersten und zweiten Teil und vier Epilogen - eine sehr ungewöhnliche literarische Form, sozusagen ein Montage-Roman, absatzweise der ganze Text in Kleinbuchstaben.

In seiner Einführung erzählt der Autor über sich: dass er sich mit vierzehn Jahren das erste Mal vollaufen ließ und das Leben in den folgenden fünfzehn Jahren ätzend und undankbar war: "Hab mich aber trotzdem nie beschwert, klar, alles okay mit meinem Leben, trotz seiner krankhaften Arschigkeit. (...) Mir paßte das Land, in dem ich lebte, paßte die Menge Scheiße, mit der es gefüllt war und die mir in den kritischsten Momenten meines Daseins (...) bis etwas übers Knie reichte (...) mit Kotzbrocken an der Macht." Man sollte nicht alles, was der Autor Zhadan über sich sagt, für bare Münze nehmen, denn sein Ich ist hier wohl eher fiktiv.

Jedenfalls machen sich die drei trunkenen Freunde auf die Suche nach ihrem Kumpel Sascha Zündkerze. Schließlich haben sie seinem Onkel Robert versprochen, Sascha zu informieren, dass sich sein einbeiniger, meist besoffener Stiefvater erschossen hat; Saschas Mutter wünscht sich, dass der Sohn zur Beerdigung kommt. Aber wo treibt er sich rum? Der Roman - deren Form und Inhalt der Autor als postproletarischen Punk bezeichnet - wird ausschließlich aus der Perspektive der drei angesäuselten Freunde erzählt.

Zhadans schräge Story spielt in der zweitgrößten Stadt der Ukraine, im avantgardistischen Charkow (Charkiv). Zu Lesebeginn treffen sich (1993)  - der Sozialismus ist passé, der Manchesterkapitalismus beginnt - sowjetische Kriegsveteranen und neureiche "biznesmeny", um einem amerikanischen Erweckungsprediger zu lauschen. Das Jugendradio der ostukrainischen Metropole bringt in Kooperation mit London ein Feature über die irische Musikgruppe "Depesche Mode"* und die Rolle der Mundharmonika beim Kampf gegen kapitalistische Unterdrückung. Das ist einer der wenigen amüsanten Texte in Depesche Mode, nämlich wie eine "Tussie" (diese "fucking Fotze") sehr frei und nicht immer sinnerhaltend die "Predigerscheiße" des "grinsenden amerikanischen Arsch-Gesichts" übersetzt. Dann führt die Suche der drei Freunde (nach Kakao oder nach dem Glück?) sie auf ein verfallendes Fabrikgelände (das "in Schutt und Scheiße" liegt), wo sie eine Molotow-Büste klauen, ins Romaviertel zu einem Dealer und schließlich per Nahverkehrszug (in ihrem Abteil riechen alle "meterweit nach Sperma und Shit") zum Pionierlager "Chemiker" gelangen, wo Zündkerze als Betreuer arbeitet. Beschrieben werden nach einem minutengenauen Zeitprotokoll - mit ausufernden Monologen, absurden Dialogen, melancholischen Ortsbeschreibungen, slapstickartigen Szenen - vier Tage und Nächte. Das ganze ein Panorama der Hoffnungslosigkeit: "Ich glaube nicht an das Gedächtnis, glaube nicht an die Zukunft, glaube nicht an die Vorsehung, nicht an den Himmel, nicht an Engel, ich glaube nicht an die Liebe, nicht mal an Sex glaube ich - Sex macht dich einsam und verletzlich, ich glaube nicht an Freunde, glaube nicht an Politik, glaube nicht an die Zivilisation, okay, um es weniger global anzugehen - ich glaube nicht an die Kirche, glaube nicht an soziale Gerechtigkeit, glaube nicht an die Revolution, glaube nicht an die Ehe, glaube nicht an Homosexualität, glaube nicht an die Verfassung, nicht an die Heiligkeit des Papstes, sogar wenn mir jemand die Heiligkeit des Papstes beweisen würde, ich würde nicht daran glauben - aus Prinzip nicht." Glücksmomente - so scheint es - sind nur in der Musik zu finden (was wohl auch den Buchtitel erklärt).

Aus Interviews und durch Lesungen weiß man über Serhij Zhadan - ein schlanker Mann mit wippendem Pferdeschwanz; 2007 wurde ihm der Burda-Preis für osteuropäische Lyriker zugesprochen - dass er fünfunddreißig Jahre alt ist. Nicht einmal seine Freunde wissen, ob er Geschwister hat, was seine Eltern von Beruf sind. Auch was ihn mit zwanzig Jahren von zu Hause fortgetrieben hat, darüber schweigt er sich aus - seine acht Lyrik- und vier Prosabände geben ebenfalls keine Auskunft. Fest steht, dass Serhij Zhadan - im Gebiet Starobilsk (Ostukraine) geboren, Studium der Germanistik und Promotion über den ukrainischen Futurismus - in seiner Heimat ein Star-Autor ist. Wenn er seine Gedichte oder Geschichten liest, sind Kneipen und Stadien überfüllt (wie einst bei Jewgeni Jewtuschenko). Sein Name wird in einem Atemzug genannt mit Ljubko Deresch, Andrej Kurkow und Juri Andruschenko, der über ihn sagt: "Zhadans Literatur ist das alternative Kino, die alternative Musik, das alternative Theater, das uns fehlt. Überhaupt ist sie eine Alternative zu allem, was als traditionell ukrainisch gilt."

Für mich liest sich Zhadans innerhalb von fünf Monaten geschriebene Idylle aus absoluter Trostlosigkeit und reinem Wodka als habe er sie unter Einwirkung einer großen Portion Hasch geschrieben. Aber vielleicht sollte ich mich - Jahrgang 1938 - mit meiner Meinung zu dieser Art Literatur tunlichst zurückhalten --- zumal die von mir sehr geschätzte Schweizer Literaturwissenschaftlerin, Schriftstellerin und Literaturübersetzerin Ilma Rakusa - Jahrgang 1946 - ergriffen jubelt: "Was für ein Buch!" und den Autor begeistert einen "ukrainischen Rimbaud"** nennt. "Das Literaturportal" hingegen - vielleicht liege ich ja doch nicht ganz falsch - mäkelt, dass "der Roman sich über weite Strecken kaum unterhaltsamer liest als ein deutscher Steuerbescheid". So gibt Zhadan zum Beispiel über gefühlte 120 Seiten Hinweise, wie man einen Molotowcocktail bastelt, wozu Knallvaseline zu gebrauchen ist, wie man eine Gasbombe herstellt, wie man Plastikbrennstoff fertigt, wie französisches Ammonal, Tritruol, Amatol, Astrolit, Knallquecksilber, Nitroguanidin, Thermit, Superthermit und schließlich wie man eine Hausbombe herstellt, "ohne die Aufmerksamkeit des volksfeindlichen Regimes auf sich zu ziehen".

Hut ab vor den Übersetzern Juri Durkot und Sabine Stöhr, die ja schon mit einem anderen durchgeknallten ukrainischen Autor, mit Ljubko Deresch, Übersetzererfahrungen gesammelt haben...

Übrigens: Wenn Serhij Zhadan mit seiner Literatur 100 000 Dollar verdient haben wird, werde er, so sagte er in einem Interview, "ein altes Pionierlager bei Charkiv kaufen und dort zweihundert Punks ansiedeln. Tagsüber werden sie nützliche Arbeit verrichten, zum Beispiel Rote Rüben sammeln, und abends werden sie `Sex Pistoles´ hören."

Ist Serhij Zhadan wirklich zu wünschen, mit seiner Literatur 100 000 Dollar zu verdienen?

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

 * "Depesche Mode" gab im Juni/Juli 2009 Konzerte im Leipziger Zentralstadion; die Band feiert 2010 ihr dreißigjähriges Bestehen.

 ** Arthur Rimbaud (1854-1891), französischer Dichter des Symbolismus, war von Jugend an in Auflehnung gegen alles Herkömmliche in Gesellschaft, Kunst und Religion.

 

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  • Alexander Pjatigorski, Erinnerung an einen fremden Mann.
  • Reiner Riedler, Ukraine.
  • Günter Rosenfeld (Hrsg.), Skoropadskyj, Pavlo. Erinnerungen 1917 bis 1918.
  • Julia Wosnessenskaja, Der Stern Tschernobyl. Schicksal einer Familie. Ein fast dokumentarischer Roman.
  • Semjon S. Umanskij, Jüdisches Glück. Bericht aus der Ukraine 1933-1944.

Am 26.09.2009 ins Netz gestellt. Die Letzte Bearbeitung erfolgte am 26.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Den Dummen erkennt man an seinem Gelächter.
Sprichwort der Ukrainer


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