Vorab!

Leider kommt im Internet bei meinem (inzwischen veralteten) FrontPage-Programm  längst nicht alles so, wie von mir in html angegeben. Farben kommen anders, als von mir geplant, Satzbreiten wollen nicht so wie von mir markiert, Bilder kommen manchmal an der falschen  Stelle, und - wenn  ich  Pech  habe  -  erscheint  statt  des  Bildes  gar  eine  Leerstelle.

Was tun? Wer kann helfen?

 

*

Wird laufend bearbeitet!

 

Ich bin eine TSCHUKTSCHIN: Die Märchenerzählerin Olga Rachtyn.

Foto aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

Zeichnung: Karl-Heinz Döhring

 

"Die Seele, denke ich, hat keine Nationalität."

Juri Rytchëu (tschuktschischer Schriftsteller, 1930 bis 2008) in: Im Spiegel des Vergessens, 2007

 

Wenn wir für das eine Volk eine Zuneigung oder gegen das andere eine Abneigung hegen, so beruht das, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, auf dem, was wir von dem jeweiligen Volk wissen oder zu wissen glauben. Das ist – seien wir ehrlich – oft sehr wenig, und manchmal ist dieses Wenige auch noch falsch.  

Ich habe für die Berliner Illustrierte FREIE WELT jahrelang die Sowjetunion bereist, um – am liebsten - über abwegige Themen zu berichten: über Hypnopädie und Suggestopädie, über Geschlechtsumwandlung und Seelenspionage, über Akzeleration und geschlechtsspezifisches Kinderspielzeug... Außerdem habe ich mit jeweils einem deutschen und einem Wissenschaftler aus dem weiten Sowjetland vielteilige Lehrgänge erarbeitet.* Ein sehr interessantes Arbeitsgebiet! Doch 1973, am letzten Abend meiner Reise nach Nowosibirsk – ich hatte viele Termine in Akademgorodok, der russischen Stadt der Wissenschaften – machte ich einen Abendspaziergang entlang des Ob. Und plötzlich wurde mir klar, dass ich zwar wieder viele Experten kennengelernt hatte, aber mit der einheimischen Bevölkerung kaum in Kontakt gekommen war.  

Da war in einem magischen Moment an einem großen sibirischen Fluss - Angesicht in Angesicht mit einem kleinen (grauen!) Eichhörnchen - die große FREIE WELT-Völkerschafts-Serie** geboren!  

Und nun reiste ich ab 1975 jahrzehntelang zu zahlreichen Völkern des Kaukasus, war bei vielen Völkern Sibiriens, war in Mittelasien, im hohen Norden, im Fernen Osten und immer wieder auch bei den Russen. 

Nach dem Zerfall der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken zog es mich – nach der wendegeschuldeten Einstellung der FREIEN WELT***, nun als Freie Reisejournalistin – weiterhin in die mir vertrauten Gefilde, bis ich eines Tages mehr über die westlichen Länder und Völker wissen wollte, die man mir als DDR-Bürgerin vorenthalten hatte.

Nach mehr als zwei Jahrzehnten ist nun mein Nachholebedarf erst einmal gedeckt, und ich habe das Bedürfnis, mich wieder meinen heißgeliebten Tschuktschen, Adygen, Niwchen, Kalmyken und Kumyken, Ewenen und Ewenken, Enzen und Nenzen... zuzuwenden. 

Deshalb werde ich meiner Webseite www.reller-rezensionen.de (mit inzwischen weit mehr als fünfhundert Rezensionen), die seit 2002 im Netz ist, ab 2013 meinen journalistischen Völkerschafts-Fundus von fast einhundert Völkern an die Seite stellen – mit ausführlichen geographischen und ethnographischen Texten, mit Reportagen, Interviews, Sprichwörtern, Märchen, Gedichten, Literaturhinweisen, Zitaten aus längst gelesenen und neu erschienenen Büchern; so manches davon, teils erstmals ins Deutsche übersetzt, war bis jetzt – ebenfalls wendegeschuldet – unveröffentlicht geblieben. 

Sollten sich in meinem Material Fehler oder Ungenauigkeiten eingeschlichen haben, teilen Sie mir diese bitte am liebsten in meinem Gästebuch oder per E-Mail gisela@reller-rezensionen.de mit. Überhaupt würde ich mich über eine Resonanz meiner Nutzer freuen!

Gisela Reller 

    * Lernen Sie Rationelles Lesen" / "Lernen Sie lernen" / "Lernen Sie reden" / "Lernen Sie essen" / "Lernen Sie, nicht zu rauchen" / "Lernen Sie schlafen" / "Lernen Sie logisches Denken"...

 

  ** Im 1999 erschienenen Buch „Zwischen `Mosaik´ und `Einheit´. Zeitschriften in der DDR“ von Simone Barck, Martina Langermann, Siegfried Lokatis (Hrsg.), erschienen im Berliner Ch. Links Verlag, ist eine Tabelle veröffentlicht, aus der hervorgeht, dass die Völkerschaftsserie der FREIEN WELT von neun vorgegebenen Themenkreisen an zweiter Stelle in der Gunst der Leser stand – nach „Gespräche mit Experten zu aktuellen Themen“.

(Quelle: ZA Universität Köln, Studie 6318)

 

*** Christa Wolf zur Einstellung der Illustrierten FREIE WELT in ihrem Buch "Auf dem Weg nach Tabou, Texte 1990-1994", Seite 53/54: „Aber auf keinen Fall möchte ich den Eindruck erwecken, in dieser Halbstadt werde nicht mehr gelacht. Im Gegenteil! Erzählt mir doch neulich ein Kollege aus meinem Verlag (Helmut Reller) – der natürlich wie zwei Drittel der Belegschaft längst entlassen ist –, daß nun auch seine Frau (Gisela Reller), langjährige Redakteurin einer Illustrierten (FREIE WELT) mitsamt der ganzen Redaktion gerade gekündigt sei: Die Zeitschrift werde eingestellt. Warum wir da so lachen mußten? Als im Jahr vor der `Wende´ die zuständige ZK-Abteilung sich dieser Zeitschrift entledigen wollte, weil sie, auf Berichterstattung aus der Sowjetunion spezialisiert, sich als zu anfällig erwiesen hatte, gegenüber Gorbatschows Perestroika, da hatten der Widerstand der Redaktion und die Solidarität vieler anderer Journalisten das Blatt retten können. Nun aber, da die `Presselandschaft´ der ehemaligen DDR, der `fünf neuen Bundesländer´, oder, wie der Bundesfinanzminister realitätsgerecht sagt: `des Beitrittsgebiets´, unter die vier großen westdeutschen Zeitungskonzerne aufgeteilt ist, weht ein schärferer Wind. Da wird kalkuliert und, wenn nötig, emotionslos amputiert. Wie auch die Lyrik meines Verlages (Aufbau-Verlag), auf die er sich bisher viel zugute hielt: Sie rechnet sich nicht und mußte aus dem Verlagsprogramm gestrichen werden. Mann, sage ich. Das hätte sich aber die Zensur früher nicht erlauben dürfen! – "Das hätten wir uns von der auch nicht gefallen lassen", sagt eine Verlagsmitarbeiterin.

Wo sie recht hat, hat sie recht.“

 

 

Zeichnung: Karl-Heinz Döhring

 

„Als Mensch kommt man sich hier, in der stillen, schneeweißen Wüste, wie ein kleines Sandkorn vor. Wer allerdings hierher fährt, der kann sich von der Frische der Meereswinde, die aus den zwei hier zusammenfließenden Ozeanen kommen, bezaubern lassen, die einzigartige Flora und Fauna der Arktis bestaunen, geheimnisvolle Zeugnisse und Kultstätten der antiken Tschuktschen entdecken und von einem Kontinent auf einen anderen hinüberblicken.“

Irina Reschetowa in: Russland HEUTE vom 19. Mai 2013

 

Wenn Sie sich die folgenden Texte zu Gemüte geführt und Lust bekommen haben, die Tschuktschen-Halbinsel zu bereisen und die Tschuktschen kennenzulernen,  sei Ihnen das Reisebüro ? empfohlen; denn – so lautet ein tschuktschisches Sprichwort -

 

Einmal selbst sehen ist mehr wert als hundert Mal davon  hören.

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Die TSCHUKTSCHEN… (Eigenbezeichnung: Luorawetlan = Wahre Menschen)... leben vorrangig auf der Tschuktschen-Halbinsel, die sich bis zum äußersten Norden des russischen Fernen Ostens erstreckt, umspült von den Randmeeren zweier Ozeane, nur durch die Beringsstraße von Alaska getrennt.

"Nur hier kamen die beiden Großmächte [Amerika und die Sowjetunion] einander nahe, und nur hier, zwischen den Inseln Großer und Kleiner Diomid, betrug der Abstand zwischen ihnen ganze vier Kilometer und hundertvier Meter Wasser."

Juri Rytchëu (tschuktschischer Schriftsteller, 1930 bis 2008) in: Im Spiegel des Vergessens, 2007

Zu Tschukotka gehören die Tschuktschen-Halbinsel, das anliegende Festland etwa bis zum Fluss Omolon und einige Inseln wie die Wrangelinsel (UNESCO Weltnaturerbe), die Insel Aion, die Ratmanow-Insel.

Wrangelinsel: Der vom Bürgerkrieg her unrühmlich bekannte weißgardistische General Wrangel hat mit dem Namen dieser Insel nichts zu tun. Die Insel ist nach dem russischen Seefahrer Ferdinand Wrangel benannt, der zu Beginn des vorigen Jahrhunderts als 24jähriger Leutnant von der russischen Regierung ausgesandt worden war mit dem Auftrag, Gerüchte auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, die von einem Nordland an der Tschuktschenhalbinsel sprachen. Vier Jahre hintereinander durchquerte die Wrangel-Expedition das Eis, und viermal kehrte sie ohne Ergebnis heim. Eisige Fröste und Packeis versperrten Menschen und Hunden den Weg, trotzdem aber fuhr Leutnant Wrangel nach Petersburg zurück in der festen Gewissheit, dass jenes Nordland tatsächlich existiere. Anhand inoffizieller Angaben, von Sagen und Erzählungen der Tschuktschen konnte er sogar genau voraussagen, wo es sich befand. Erst 1867 sichtete aus fünfunddreißig Kilometer Entfernung der amerikanische Walfänger Long die Insel. Ihre Koordinaten stimmten mit den Angaben Wrangels überein, und so hielt es Long nur für recht und billig, der Insel den Namen Wrangels zu geben.

 Es existieren verschiedene Versionen über die Herkunft des Namens dieses Volkes, die meine stammt von dem ersten Schriftsteller der Tschuktschen, von Juri Rytchëu, und bedeutet "wahre Menschen". Andere Wissenschaftler vermuten, dass das Wort "tschuktschi" eine Abwandlung des Wortes "tschaitschu" in der russischen Sprache ist, was übersetzt "reich an Rentieren" bedeutet. Gerade so bezeichnen sich die Rentierzüchter unter den Tschuktschen, die weit weg vom Meer leben. Dagegen nennen sich die Tschuktschen in den Küstengebieten "ankaljyn", was buchstäblich "die am Meer Lebenden" bedeutet. - Von Deutschland aus beträgt die Entfernung bis Tschukotka dreizehntausend Kilometer, der Zeitunterschied zwischen der Tschuktschen-Halbinsel  und Mitteleuropa vierzehn Stunden - das ist der größte Zeitunterschied zwischen Russland und Deutschland.

„Die Tschuktschen sind ein kräftiges Volk. Sie sind nicht ohne Kenntnisse und namentlich geschickt in Schnitzereien aus Walroßbein. Das Tschuktschenland ist das rauheste und unfreundlichste von ganz Sibirien.“

Brockhaus´ Konservations-Lexikon, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien 1894

Bevölkerung: Nach der Volkszählung von 1926  zählten die Tschuktschen 12 331 Angehörige; 1939 wurden 13 830 Tschuktschen gezählt; 1959  waren es 11 680 Tschuktschen; 1970 gleich 13 500; 1979 gleich 13 397; 1989 gleich 15 107; 2002 gleich 15 767;  nach der letzten Volkszählung von 2010 gaben sich 15 908 Personen als Tschuktschen aus. Die Ureinwohner Tschukotkas sind seit alters Tschuktschen und asiatische Eskimos; die Tschuktschen gehören zur Arktis-Rasse der Mongoloiden.  Die Tschuktschen- Halbinsel erlebte eine große Einwanderungswelle, die  die Einwohnerzahlen zwischen 1955 und 1975 von 7 000 auf 15 000 hochschnellen ließ. Inzwischen machen die Tschuktschen als Titularnation nur 25,3 % aus – neben Russen (49,6 %), Ukrainern (5,7 %), Eskimos (3,0 %) u. a.; dennoch ist Tschuktschisch regionale Amtssprache. Ein Teil dieses Volkes lebt auch im Autonomen Kreis der Korjaken, ebenso in der Republik Jakutien.  Von 1989 bis 2002 hat Tschukota wegen des wirtschaftlichen Niedergangs nach dem Zerfall der Sowjetunion etwa zwei Drittel seiner Einwohner (vor allem Russen, Belorussen, Ukrainer) durch Abwanderung verloren. - Die Bevölkerungsdichte beträgt 1 Einwohner pro zehn Quadratkilometer, damit ist der Autonome Kreis der Tschuktschen das am dünnsten besiedelte Gebiet der Erde.

Fläche: Die Fläche Tschukotkas beträgt  737 700 Quadratkilometer. Tschukotka - die Oberfläche ist vorwiegend gebirgig, durchzogen von zahlreichen Flüssen - liegt liegt im Ostsibirischen Bergland und umfasst unter anderem den Nordteil des Korjakengebirges, das Anjuisgebirge das Anadyrgebirge bis zur Tschuktschen-Halbinsel, wo im Kap Deshnjew der östlichste Punkt Russlands bzw. Asiens liegt. Das Gebiet liegt fast vollständig nördlich der Baumgrenze und wird von Tundra bedeckt, die in den höheren Bergregionen  in eine Frostschuttwüste übergeht. Lediglich in den südlichsten Gebieten von Tschukotka findet man in geschützten Lagen niedrig wachsende Bäume.

Geschichtliches: Die erste schriftliche Erwähnung Tschukotkas erfolgte durch den Russen Semjon Deshnjew, der 1648 als erster Mensch die Tschuktschen-Halbinsel umsegelte. Die Kolonisation der tschuktschischen Gebiete durch die Russen begann im 17. Jahrhundert. Die Tschuktschen leisteten zunächst heftigen Widerstand. 1730 schlugen sie eine vierhundert Mann starke russische Truppe, 1747 wiederholte sich dieser Sieg, so dass die Russen ihre Garnison im Friedensvertrag räumen mussten. Letztlich konnten die Tschuktschen der Übermacht aber nichts entgegensetzen, und so kamen sie 1789 unter russische Herrschaft. Die zaristische Verwaltung hatte erhebliche Schwierigkeiten, der Unbotmäßigkeit der Tschuktschen Herr zu werden. 1822 erfolgte der Erlass "Über fremdartige und nicht vollkommen abhängige Völkerschaften", worauf Tschuktschen und asiatische Eskimos keine Steuern zu zahlen brauchten.

"Das riesenhafte Waldland und die Waldsteppe Sibiriens fielen im 16. Jahrhundert fast kampflos den Russen in die Hände. Nachdem Kasan, die Tatarenhauptstadt des Nordens, 1552 gefallen war, zogen kleine Abteilungen von wenigen Hundert Mann ostwärts und eroberten in sechzig Jahren ein Territorium von 5 000 km Ausdehnung von West nach Ost. Russen gelangten an die Küste des Pazifik, bevor sie an die Ostsee und das Schwarze Meer kamen. - Sie ließen die Usbeken in Mittelasien abseits liegen und trafen erst im Osten auf mongolischen Widerstand, weshalb sie weiter in den Norden zogen und 1641 das Ochotskische Meer erreichten. Im Osten hatten nur die Tschuktschen bewaffneten Widerstand geleistet. Um 1700 waren Sibirien und der Ferne Osten besetzt."

Burchard Brentjes (deutscher vorderasiatischer Archäologe, 1929 bis 2012) in: Die Ahnen des Dschingis-Chans, 1988

 

Dschingis-Chan (Tschingis-Khan, wahrscheinlich 1155 bis wahrscheinlich 1227) war ein Chan der Mongolen, der die mongolischen Stämme vereinte und weite Teile Zentralasiens und Nordchinas eroberte.

Porträt der Yüan-Zeit, 13. Jahrhundert aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

- 1922 siegte die Sowjetmacht auf Tschukotka.

 

 

Der russische Polarforscher Iwan Papanin (1894 bis 1986) im Jahre 1938. Er leitete die Expedition, bei der vermutlich zum ersten Mal Menschen den geographischen Nordpol betraten.

Foto aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

Staatsgefüge: Am 10. Dezember 1930 wurde der Nationale Kreis der Tschuktschen gegründet, der 1977 in Autonomer Kreis der Tschuktschen umbenannt wurde. Der Autonome Kreis der Tschuktschen ist 1991 aus der Region Magadan ausgetreten. Heutzutage ist Tschukotka der einzige Autonome Kreis Russlands, der nicht Bestandteil einer anderen Region ist. - Nach dem Fall der Sowjetunion im Jahre 1991 erklärte sich der Tschuktschische Autonome Kreis nach jahrzehntelanger Unterordnung gegenüber dem Gebiet Magadan zu einer unabhängigen Autonomie innerhalb der Russischen Föderation. 1992 unterzeichnete Tschukotka einen Vertrag, der den Status eines autonomen Bezirks unabhängig von Magadan zusagte. Dieses Gesetz sicherte der regionalen Regierung größere Unabhängigkeit in der Innenpolitik, der Wirtschaft sowie im Ex- und Importgewerbe zu. Dieser Triumph war jedoch nur von kurzer Dauer, da die Region bald schon in dasselbe wirtschaftliche Chaos stürzte, den die übrige Nation schon seit 1991 erlebte.

Verbannungsgebiet: Die russische Besiedelung des Gebietes Magadan, zu dem Tschukotka bis 1991  gehörte, begann im 17. Jahrhundert. Zu Sowjetzeiten war die Region als Standort zahlreicher GULAGs berüchtigt. Die Stadt Magadan war als Transitstadt für die Verschickung von Zwangsarbeitern in die Bergbaugebiete gegründet worden. Die Transsib transportierte die Sträflinge bis Wladiwostok, von da an beförderte man die Häftlinge weiter auf dem Seeweg über das Japanische und das Ochotskische Meer. Sobald die Schiffe sich Hokkaido näherten, wurden um die menschliche Fracht zu verbergen, die Luken dichtgemacht, die Lichter gelöscht. Viele Zwangsarbeiter erreichten nie den Hafen Magadan, weil sie schon vorher verstarben.

„Von Beginn des 17. Jahrhunderts an lernten die russischen Zaren die Verbannung als nützliches Herrschaftsinstrument schätzen: Die Monarchen konnten so missliebige Zeitgenossen loswerden und, genauso wichtig, die gewaltige Weite Sibiriens besiedeln. - In die Ferne gejagt wurden Räuber und Diebe, Kriegsgefangene, meuternde Soldaten, Kinderschänder, widerspenstige Bauern, Menschen mit dem falschen Glauben oder einer störenden politischen Einstellung. - Später kamen, mehr oder weniger wahllos, Meineidige, Verleumder und zahllose Männer und Frauen hinzu, die gegen irgendein Verbot verstoßen hatten, war es auch nur das des Tabakrauchens. Auch wer keine Steuern zahlte oder als Leibeigener ohne Erlaubnis einen Baum fällte, musste mit Verbannung rechnen. - Doch nicht nur echte oder angebliche Bösewichte wurden deportiert, die Zaren schoben auch zahlreiche Menschen nationaler Minderheiten wie Tataren, Juden oder Kaukasier nach Sibirien ab. - Russland stand mit dieser Strafpraxis nicht allein: Großbritannien verschiffte missliebige Untertanen nach Australien, Frankreich schickte sie in sein Übersee-Departement Guayana. Bis zu seinem Ende 1917 wurden im Zarenreich wohl weit über eine Million Menschen in den weiten und kalten Osten des Reiches vertrieben, exakte Zahlen gibt es nicht.“

Der Spiegel vom 31. Januar 2012

- In der Stadt Pewek auf Tschukotka befand sich zu Stalins Zeiten die Verwaltung mehrerer Straflager im System des Gulag. In diesen Lagern waren zeitweilig bis zu elftausend Menschen gleichzeitig inhaftiert.

"Laut unserem Historiker im Museum von Magadan sind insgesamt mindestens 130 000 Häftlinge umgekommen, 12 000 davon durch Erschießungen. Diese Zahlen sind nicht zu verwechseln mit jenen, die für den gesamten GULAG der Sowjetunion, also nicht nur für den Nordosten Russlands gelten."

Thomas Roth in: Russisches Tagebuch, 2002

Hauptstadt: 1889 als Nowo-Mariinsk gegründet, nach der Zarin Marija Alexandrowna (Maria von Hessen-Darmstadt) benannt, der Gattin des Zaren Alexander II. 1923 wurde Nowo-Mariinsk in Anadyr umbenannt - nach dem gleichnamigen Fluss und erhielt 1965 Stadtrecht. Tschukotkas Hauptstadt Anadyr hat 13 045 Einwohner (2010). Anadyr ist eine Hafenstadt, die sich an der Küste des Beringmeeres an der Mündung das Anadyr befindet, sie hat Verbindung zur Beringstraße.

"In Anadyr wurde in jenen Jahren wie auf ganz Tschukotka viel getrunken. Vor allem Sprit, der in großen Mengen in Blechfässern herangeschafft wurde. In einigen Kreisen versuchte man daraus mehr oder minder edle Getränke herzustellen (...), meistens trank man den Sprit allerdings einfach mit Wasser verdünnt. Im Winter galt es als besonders verwegen, einen Schluck reinen Sprit zu trinken und etwas Schnee dazu zu essen."

Juri Rytchëu (tschuktschischer Schriftsteller, 1930 bis 2008) in: Im Spiegel des Vergessens, 2007

- Nach dem beständigen Abwärtstrend der 1990er Jahre entwickelten sich nach der Jahrtausendwende in Anadyr einige neue Einrichtungen, unter anderem ein Farmbetrieb für Legehennen, dessen Produktion bei etwa 800 000 Eiern pro Jahr liegt, und das im Jahre 2001 erschlossene Erdgasfeld am Zapadnoje ozero (Westsee), mit dem Anadyr durch eine 2002 eröffnete Pipeline  verbunden ist. Im selben Jahr wurde das neue Gebäude des Regionalparlamentes fertig gestellt, das vorhandene "Hotel Tschukotka" wurde renoviert und ein weiteres in Auftrag gegeben.

Wirtschaft: Die Tschuktschen unterscheiden sich entsprechend ihrem Lebensraum in Rentier-Tschuktschen und Küsten-Tschuktschen. Die einen leben in der Tundra und züchten Rentiere, die anderen wohnen direkt am Meer und sind Meerestierjäger und Fischer. Seit alters befassen sich die Einwohner der Tschuktschen-Halbinsel auch mit der Rentierzucht. Schon seit Ende des ersten Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung begannen die Menschen Rentiere zu zähmen, was ihnen aber nicht gelang, und so wurde das Ren kein Haustier. Daher muss der Mensch ihm ständig folgen, zu jeder Jahreszeit, bei jedem Wetter: bei Sturm und Schneegestöber und bei mehr als 50 Grad starken Frösten. Das ist eine schwere Arbeit, bei der früher viele Menschen starben, ganze Familien, manchmal sogar ganze Niederlassungen. Es kam vor, dass diese oder jene Ortschaft noch auf der Landkarte eingetragen war, während sie praktisch schon nicht mehr existierte. - Die Wirtschaft unter der Sowjetmacht beeinflusste sowohl städtische als auch ländliche Gebiete. Kleinere Städte wuchsen zu Großstädten heran, die eine abwechslungsreiche Infrastruktur entwickelten. Die Dörfer unterliefen noch dramatischere Veränderungen, was durch die Einrichtung von kommerziellen Fuchsfarmern hervorgerufen wurde. Die kleinen einheimischen Kolchosen der 1940er Jahre wurden in staatseigene Sowchosen umgewandelt. Im Autonomen Kreis der Tschuktschen wie auch in den Nachbarregionen prägen der Fischfang und der Goldabbau die Wirtschaft. In der Gebietshauptstadt gibt es das Fischunternehmen "Rybsawod". Neben den Goldvorkommen finden sich auf Tschukotka auch Wolfram und Zinn, Erdöl, Naturgas und Kohle. Ein weiterer  wichtiger Wirtschaftszweig ist der Bergbau (Erze, Steinkohle, Gold).

"Wie sich herausstellte, durfte man aus Gründen der militärischen Geheimhaltung nicht schreiben, dass auf Tschukotka Gold* gewonnen wird. Das Wort wurde durch den Ausdruck `wertvolles gelbes Metall´ ersetzt, dessen Bedeutung sogar ein Vollidiot erraten konnte. Es war nicht erlaubt, über die Waljagd zu schreiben. Wale wurden im Text zu den `größten Meerestieren´. Wenn ein besiedelter Punkt erwähnt wurde, durfte man auf gar keinen Fall agen, daß es dort einen Flugplatz oder einen Ladeplatz gab. Offenbar war das Verzeichnis der Verbote so groß, daß sich in einem Text ... immer etwas fand, das auf Verlangen eines rätselhaften ... Menschen aus dem `Städtischen Literaturamt´ geändert werden mußte. (...) Doch den Zensoren war das noch nicht genug. Sie achteten streng auf die richtige ideologisch-künstlerische Tendenz eines Werkes. in einer Erzählung mußte der ganze Text umgearbeitet und schließlich auf ihre Veröffentlichung verzichtet werden, weil darin beschrieben wurde, wie ein russischer Bursche ein Mädchen betrog, ihr die Heirat versprach, aber dann wegfuhr und sie mit kleinen Kindern sitzenließ. So etwas war auf Tschukotka gang und gäbe - für die Zeit eines Vertrages oder einer Dienstverpflichtung zu heiraten. Doch wie sich herausstellte, war auch das ein streng gehütetes Staatsgeheimnis."

Juri Rytchëu (tschuktschischer Schriftsteller, 1930 bis 2008) in: Im Spiegel des Vergessens, 2007

* Ich war 1980 als Journalistin auf Tschukotka und besichtigte sowohl ein Goldvorkommen und das Kernkraftwerk Bilibino und nahm an einer Waljagd teil,  um darüber zu schreiben.

 

- Es war der Tod Joseph Stalins im Jahre 1953, der die sowjetische Wirtschaft und die politische Strategie neu gestaltete. Neue Bauprogramme wurden erarbeitet, Dörfer neu organisiert und kleinere Lager und Siedlungen unter einer Politik der ländlichen Konzentration und Modernisierung gebildet. - In Bilibino arbeitet seit       ein Kernkraftwerk. Die russische Behörde für die Umwelt-, Technologie- und Atomaufsicht „Rostechnadsor“ prüfte 2007 das Atomkraftwerk in Bilibino. „Die Experten von „Rostechnadsor“ vergewisserten sich, dass im Atomkraftwerk Bilibino alle Maßnahmen der Atom- und Strahlungssicherheit eingehalten werden“, heißt es in der Pressemitteilung. Das Atomkraftwerk Bilibino liegt über dem Nordpolarkreis im Osten des Landes und war zwischen 1974 bis 1976 fertig gestellt worden. Es dient vorrangig der Strom- und Wärmeversorgung der Goldindustrie und der Stadt Bilibino, wir besuchten es 1980. - Bei der Lachsproduktion liegt die Region an sechster Stelle im Fernen Osten. Gleiches gilt auch für Krabben, die hier als harte Währung gelten. - In den Neunziger Jahren war Tschukotka von einer schweren Wirtschaftskrise betroffen: Von einem Rückgang der Rentierbestände [Als wir Tschukotka bereisten weidete dort die größte Rentierherde der Welt: über eine dreiviertel Million Tiere.], und zum Teil erfolgte ein Zusammenbruch von Bergbau und Industrie.

"Laut der US-Geologiebehörde lagern 13 Prozent der globalen Erdölreserven in der Arktis."

Claus Hecking in: Die Zeit vom 01.10.2015

Verkehr:  Die meisten Orte auf Tschukotka sind nicht an ein festes Straßennetz angeschlossen, sondern sind über unbefestigte Pisten erreichbar. Geplant ist eine Straße von Anadyr nach Omolon mit Abzweig nach Bilibino, wo sich ein Kernkraftwerk befindet. In Omolon befindet sich ein Flughafen, über den Verbindung nach Anadyr, Magadan und Bilibino besteht. Ab Omolon ist der Anadyr schiffbar, in der eisfreien Zeit besteht Schiffsverbindung. Ein weiterer Flughafen befindet sich in dem Dorf Markowo (2010 hatte Markowo 809 Einwohner), über den Verbindung in die Hauptstadt Anadyr besteht.

 

Sprache/Schrift: Die tschuktschische Sprache ist eine paläoasiatische Sprache; 1930 entwickelte der russische Wissenschaftler Wladimir Bogoras (1865 bis 1936) für die Tschuktschen ein eigenes Alphabet, 1932 die erste Fibel, wonach sich alsbald eine reichhaltige Schriftkultur herausbildete, mit der vor allem die vielen bisher nur mündlich überlieferten Mythen, Sagen und Märchen dieses Volkes aufgezeichnet wurden. Als Schrift dienen  bis heute die kyrillischen Buchstaben mit Zusatzzeichen. Der Russe Bogoras war als Volkstümler (Narodowolze) nach Tschukotka verbannt worden. Später verfasste der russische Lehrer Pjotr Skorik einige modernisierte Lehrbücher und Grammatiken für die tschuktschischen Schulen. Auf Tschukotka nennt man ihn achtungsvoll  "murgin", das heißt "unser Lehrer".

 Heute wird  "alles in den Schmutz gezogen, was diese  (Sowjet-)Generation geschaffen hat. Sie fuhren als echte Enthusiasten in den Norden, als Pioniere, erfüllt von dem Bewußtsein, daß es ihre Pflicht sei, den Nordvölkern das Lesen und Schreiben zu vermitteln. Und nun soll es diese Großtat nicht gegeben haben!"

Juri Rytchëu (tschuktschischer Schriftsteller, 1930 bis 2008) in: Im Spiegel des Vergessens, 2007

   

Drei Seiten aus einer tschuktschischen Fibel.

Reproduktionen aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

 - Der Russe Wladilen Leontjew wuchs in der Tschuktschensiedlung Uelen auf, Mitte der dreißiger Jahre kam er dort in die Schule. Die erste Schrift, die er lernte, war die neue Tschuktschenschrift. Leontjew wurde später Kandidat der Geschichtswissenschaften und Mitglied des Schriftstellerverbandes und arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsinstitut von Magadan. Er erzählt von der Schaffung der tschuktschischen Sprache: "Wladimir Bogoras beherrschte die Tschuktschensprache perfekt. Er war als Volkstümler verhaftet und für zehn Jahre nach Kolyma [zu den Komi] verbannt worden. Als er von dort flüchtete, gelangte er auf die Tschuktschen-Halbinsel. Seine erste Fibel, 1934 geschaffen, wurde von dem Tschuktschen Wukwol illustriert, der später als Elfenbeinschnitzer sehr bekannt wurde."

 "Der erste russische Lehrer war Dmitri Korsh. Er wohnte in der Siedlung Sneshny neben dem Zelt seines Schülers, des Hirten Kentschi. Der Hirt schrieb seinem Lehrer täglich kleine Briefchen, z. B. folgenden Inhalts: `Schon drei Rentiere haben gekalbt. Ich habe alle Rentiere in der Herde gezählt.´ Kentschi lief seinen Briefen immer gleich hinterher, um dann mit zufriedenem Lächeln zuzuschauen, wie Dmitri Korsh seine Briefe las."

Wladilen Leontjew, in den siebziger Jahren

Zu Beginn des Jahres 1935 erfolgte der Unterricht in der tschuktschischen Muttersprache bereits an 29 Schulen. Viele Tschuktschen lernten dann später weiter an der Pädagogischen Schule der Völker des Nordens in Anadyr und wurden selbst Lehrer. 1937 wurde das tschuktschische Alphabet um neue Schriftzeichen bereichert, welche für die spezifischen Laute dieser Sprache stehen. Der Verfasser der neuen Tschuktschenfibel war Innokenti Wdowin, später Doktor der Geschichtswissenschaften und Autor vieler historischer Beiträge über Tschukotka. - Tschuktschisch ist heute regionale Amtssprache.

 

Literatursprache/Literatur: Seit den 1950er Jahren ist das Tschuktschische Literatursprache. Bis 1957 wurde die schöngeistige und Unterrichtsliteratur in der Tschuktschensprache in Leningrad herausgegeben. Der erste Dichter der Tschuktschen war Viktor Këulkut (1929 bis 1963). Er war der Sohn eines Rentierzüchters und übte selbst den Beruf eines Zootechnikers aus. 1954 begann er als Redakteur bei der Zeitung „Sowjet-Tschukotka“ zu arbeiten. Im gleichen Jahr wurde sein erstes Werk mit Gedichten veröffentlicht; sie schildern das Leben und die Arbeit der Rentierzüchter auf Tschukotka und die malerische Landschaft.  Er schrieb auch Gedichte für und über Kinder. Von Këulkut erschienen noch weitere Gedichtbände, der Band, der 1966 bereits nach Këulkuts Tod erschien, mit einem Vorwort von Juri Rytchëu.

In den siebziger Jahren wurde beim Magadaner Buchverlag eine Tschuktschenredaktion gegründet, jetzt erschienen im Magadaner Buchverlag auch viele Klassiker der russischen Literatur, z. B. Puschkin, Tolstoi, Gogol in tschuktschischer Sprache. - Die erste Dichterin der Tschuktschen ist Antonina Kymytwal, der bekannteste Schriftsteller der Tschuktschen ist Juri Rytchëu (1930 bis 2008). Ich weiß von Juri Rytchëu selbst, dass er erst 1931 geboren wurde. Zum angeblichen Geburtsjahr 1930 kam es so: "(...) Doch um angestellt zu werden, brauchte man einen Pass. Borinda (ein russischer Bekannter Rytchëus, der als Hydrograf arbeitete) versicherte mir: `Du wirst deinen Ausweis gleich kriegen´, und schrieb eine Notiz an den Chef der Miliz. Ich wusste, dass ich mindestens sechzehn Jahre alt sein müsste, um einen Pass zu bekommen, und ich änderte vorsichtshalber auf meinem einzigen offiziellen Dokument - dem Komsomolausweis - das Geburtsjahr 1931 in 1930 um, was keine große Kunst war." So kam der erste Schriftsteller der Tschuktschen zu seinem Namen Rytchëu:

 "Es gibt eine Familienlegende, die besagt, wie ich den Namen Rytchëu, ´Der Unbekannte´, erhielt. Angeblich soll mein Großvater, der berühmte Uëlener Schamane Mletkin, bei meiner Namengebung ein Ritual veranstaltet haben. Im Tschottagin wurde ein heiliges Feuer entfacht, vom Rauchabzug wurde an einer dünnen Schnur aus Robbenleder ein heiliger Gegenstand herabgelassen - die Schwebenden Flügel. Ich kann dieses Ritual nur nach den Worten meiner Mutter beschreiben, da ich damals zu klein war, um mich zu erinnern. Großvater Mletkin, der sich im Schatten der Schwebenden Flügel am heiligen Feuer niedergelassen hatte, sprach langsam und deutlich verschiedene Namen aus, die er für mich ausgewählt hatte. Wenn die Götter den Namen hörten, der ihnen gefiel, sollten sie durch eine Bewegung der Schwebenden Flügel ein Zeichen ihrer Zustimmung geben. Großvater zählte die Namen von nahen und fernen Vorfahren auf, die zu Ruhm gekommen waren, dann folgten die weniger bekannten Verwandten, aber die Schwebenden Flügel bewegten sich nicht, sie reagierten nicht auf die Worte des Schamanen... Als mein Großvater sah, dass er nicht zum Ziel kam, sagte er: `Dann soll er Rytchëu heißen - Der Unbekannte!´"

Juri Rytchëu (tschuktschischer Schriftsteller, 1930 bis 2008) in: Das Alphabet des Lebens

Bleibt noch zu sagen, wie Rytchëu zu seinem Vor- und Vatersnamen (Sergejewitsch)  kam: Als er seinen Pass beantragte, musste er - wie es in Russland Sitte ist - Vor- und Vatersname angeben. "Es war mir aus unerfindlichen Gründen peinlich zuzugeben, dass ich weder Name noch Vatersname hatte. Am anderen Ufer der Prowidenija-Bucht, auf der Polarstation, arbeitete ein alter Bekannter aus Uëlen, der Meteorologe Juri Sergejewitsch. Ich besuchte ihn manchmal, holte mir Rat bei ihm in allen möglichen Lebensfragen. Auch diesmal ging ich zu ihm hin und stellte ihm mein Problem mit dem Pass dar. `Wo können wir bloß einen Namen und Vatersnamen für dich herkriegen?´, zerbrach sich Juri Sergejewitsch den Kopf. Da kam mir plötzlich eine blendende Idee. `Was ist, wenn ich Ihren Namen und Vatersnamen nehme?´ Juri Sergejewitsch dachte lange nach, dann lachte er und sagte: `Warum nicht? eine gute Idee! Mach ich gern für dich! Das ganze hat aber bestimmt einen Haken. Ich muss Dir wohl eine schriftliche Bestätigung geben. Wenn du sie brauchst, gebe ich sie dir! Der Mann hatte eine große Seele. Ich war glücklich.´" Und so kam es, dass einer meiner Lieblingsschriftsteller Juri Sergejewitsch Rytchëu heißt.

Bildung: In Leningrad wurde in den 1970er Jahren  an der Staatlichen Pädagogischen Alexander Herzen- Universität eine Fakultät für die Völker des hohen Nordens eingerichtet; die Internatsschüler wurden vollständig vom Staat versorgt. Der erste Tschuktsche an dieser Hochschule hieß Tewljanto. Ein interessantes Dokument, das Empfehlungsschreiben des Revolutionskomitees von Anadyr für ist erhalten geblieben, es lautet: "Der Tschuktsche Tewljanto, der dieses Schreiben vorzeigt, wird zum Erwerb von Bildung entsandt. Nach seiner Heimkehr soll er dann die erworbenen Kenntnisse seinen Stammesgenossen mitteilen. Alle, die dieses Schreiben lesen, werden inständig ersucht, Tewljanto nach Kräften zu unterstützen. Mit ihrer Fürsorge um das Schicksal dieses Bürgers unterstützen Sie die ersten Schritt auf dem Gebiet der Bildung der einheimischen Nomaden unseres hohen Nordens. Das Revolutionskomitee von Anadyr, das sich um das Schicksal von Tewljanto sorgt, bittet alle Personen, an die er sich mit diesem Schreiben richtet, ihn nach seinen Wünschen und Bedürfnissen zu fragen und nötigenfalls an folgende Adresse zu telegraphieren..." Später wurde Tewljanto Vorsitzender des Exekutivkomitees des Tschuktschen-Kreissowjets der Werktätigendeputierten und danach erster Deputierter des Kreises der Tschuktschen im höchsten Machtorgan des Landes, im Obersten Sowjet der UdSSR. Tewljanto war der erste Tschuktsche, der an der Leningrader pädagogischen Hochschule studiert hat. Und der heute renommierte Schriftsteller, der Tschuktsche Juri Rytchëu, erhielt als erster Angehöriger seines Volkes Universitätsausbildung - an der Leningrader Universität (siehe Interview weiter unten).

   

Ex Libris von tschuktschischen Künstlern angefertigt: für den ersten Schriftsteller der Tschuktschen, Juri Rytchëu, und für die erste deutsche Journalistin, die zu Sowjetzeiten

nach Tschukotka reiste, Gisela Reller.

"Nach den Wirbeln die wir seit der sogenannten Perestroika durchgemacht haben, komme ich immer mehr zu der Einsicht, dass ich mich kaum verändert habe. Wohl aber habe ich mich von der inneren Zensur befreit, die durch die äußere Zensur bedingt war. (...)  Jetzt kann ich über Themen und Ereignisse schreiben, über die zu schreiben seinerzeit nicht Brauch war. Und welchen Sinn hätte es gehabt, für die Schublade zu schreiben!"

Juri Rytchëu(tschuktschischer Schriftsteller, 1930 bis 2008) in einem Interview mit Leonhard Kossuth im Neuen Deutschland

vom 15. Dezember 1995

Kultur/Kunst: Weithin anerkannt ist das traditionelle nationale Kunstgewerbe der Tschuktschen - die Beinschnitzerei, die Fellgerbung, das Aufbringen von Fellapplikationen, die Stickereien aus Rentierhaar, die Flechtarbeiten aus den Fasern des arktischen Weidenröschens. 1931 entstand in der Siedlung Uëlen die erste Elfenbeinschnitz-Werkstatt. Die hier geschaffenen Kunstwerke sind weltbekannt. - Inzwischen gibt es auf Tschukotka auch einige anerkannte Maler, Zeichner und Illustratoren.

 

   

 

Tschuktschenjunge auf einem Bären; Wundersame Quelle; Lesender Knabe im Tschuktschenland.

Linolschnitte von Dmitri Brjuchajow aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

Früher schmückten sich die tschuktschischen Frauen und Mädchen mit Fingerringen, Armreifen, Halsketten, Ohrgehängen aus Walrosselfenbein.

 

Gesundheitswesen: Vor etwa einhundert Jahren starb jeder zweite Tschuktsche und Eskimo an Tuberkulose. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag bei etwa 35 Jahren, die Säuglingssterblichkeit bei 60 Prozent. In den siebziger Jahren stieg die durchschnittliche Lebenserwartung auf 62 Jahre. Allerdings gab es bei Tschuktschen und Eskimos inzwischen Krankheiten, die diese Völker früher nicht kannten: Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Grippe, Masern, Fettsucht... Außerdem machten Tschuktschen und Eskimos durch die Weißen Bekanntschaft mit dem Alkohol...

 

"Die Lebenserwartung der Tschuktschen liegt statistisch bei 43 Jahren. Alkohol, Vitaminmangel und das Zusammenbrechen der hiesigen Gesundheitsversorgung haben die Ureinwohner regelrecht ruiniert. Ebenso empörend wie absurd ist unter diesen Umständen, dass der frisch gewählte Gouverneur Tschukotkas, Roman Abramowitsch, zu den reichsten Männern Russlands zählt. Natürlich lebt er hauptsächlich in Moskau. Gelegentlich fliegt er mit seinem Privatjet nach Anadyr, der Hauptstadt Tschukotkas, um sein politisches Amt auszuüben."

Thomas Roth in: Russisches Tagebuch, 2000.

 

Ein betrunkener Ewenke, Burjate, Mongole, Tuwiner, Tschuktsche ist ein besonders unangenehmer Anblick. Zuerst muss man sagen, dass ihn eine Dosis umhaut, nach der ein Russe, Pole, ja sogar ein Deutscher seelenruhig Auto fährt - er aber wälzt sich auf der Straße. Die nordasiatischen Völker vertragen sehr wenig Alkohol."

Jacek Hugo-Bader (polnischer Buchautor) in: Ins eisige Herz Sibiriens, Eine Reise von Moskau nach Wladiwostok, 2014

 

 - In den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts fanden auf Tschukotka Atomtests statt. In den 90 Jahren litten fast 90 Prozent der Bevölkerung an Lungenkrankheiten. Nach Angaben des Instituts für Therapie in der Sibirischen Abteilung der russischen Wissenschaftsakademie für Medizin ist die Zahl der Hypertoniker (an Bluthochdruck Erkrankter) seit 1959 von praktisch 0 Prozent auf 20 Prozent gestiegen. Und wieder leidet jeder zweite Tschuktsche und Eskimo an Tuberkulose. Ende der neunziger Jahre war die durchschnittliche Lebenserwartung auf 45 Jahre gesunken und gehörte zu den niedrigsten Lebenserwartungen der Welt.

"Die radioaktive Belastung ist auf Tschukotka doppelt so hoch wie in den übrigen Gebieten der ehemaligen Sowjetunion. Die Strahlenbelasung, der die Menschen hier ausgesetzt sind, ist ebenso hoch wie in den kontrollierten Zonen nach dem Tschernobyl-Gau."

Progrom Nr. 152/1990

Klima: Das Klima ist extrem-kontinental auf Tschukotka, der "Heimat des Winters".  Die Jahresdurchschnittstemperaturen liegen zwischen minus 5 und minus 10 Grad . Der Winter beginnt meist im September, manchmal schon im August und endet im Mai. Wärmster Monat ist der Juli mit etwa plus 9 Grad, kältester der Januar mit minus 25 Grad, Tiefsttemperaturen von unter minus 40 Grad sind möglich. Stürme gibt  es zu jeder Jahreszeit´, sie erreichen oft Orkanstärke. Bei Windböen von 140 bis 150 Kilometer in der Stunde verwandelt sich eine Flagge innerhalb einer Stunde in Fetzen. In allen Tschuktschen-Siedlungen sind Seile über die Straßen gespannt, damit die Menschen nicht vom Winde weggefegt werden. Solche Witterungsverhältnisse herrschen neun Monate im Jahr. – Zweiundvierzig Tage lang herrscht rund um die Uhr Finsternis - Polarnacht.

„Gerade im hohen Norden zeigt sich, wie verheerend die Auswirkungen des Klimawandels sein können. Nördlich des Polarkreises leben mehr als dreißig [vierzig bis fünfzig] indigene Völker – viele davon in Sibirien – von der Jagd, der Rentierhaltung, vom Fischfang und vom Sammeln. ÜberJahrhunderte konnten sie ihre Lebensweise den sich wandelnden Umweltbedingungen anpassen. Jetzt droht den rund vierhunderttausend Ureinwohnern die Vernichtung ihres arktischen Lebensraums. Denn hier vollzieht sich der Klimawandel, der in erster Linie in den Industriestaaten verursacht wird, zwei- bis dreimal schneller als im globalen Durchschnitt. Höhere Temperaturen lassen das ewige Eis schmelzen und verändern die Lebensbedingungen für Mensch und Natur. Die Folgen: Die Ureinwohner müssen zusehen, wie ihre Jagdbeute ausstirbt und wichtige Pflanzen nicht mehr wachsen. Die schützende Schneedecke schmilzt zu früh, so dass die Rentiere nur noch verkümmertes Rentiermoos vorfinden. Menschen sterben, weil vertraute Wege auf dünnerer Eisdecke nicht mehr sicher sind. Ganze Dörfer mussten schon aufgrund von Küstenerosion und Stürmen umgesiedelt werden.“

Verein pro Sibiria e. V., München

 

Das Wort Arktis kommt vom griechischen arktikos, in der Nähe des Bären und bezieht sich auf das Sternbild Großer Bär bzw. Großer Wagen, dessen beide hinteren Sterne auf den Polarstern weisen. - Die Region Arktis umfasst Landgebiete von Kanada, Finnland, Grönland, Island, Norwegen, Russland, Schweden und den USA (Alaska). - Die erste verzeichnete Expedition erfolgte330 v. Chr. durch den griechischen Seefahrer Pytheas von Massalia, der ein seltsames Land namens "Thule" vorfand. Zu Hause am Mittelmeer glaubten nur wenige  seine verblüffenden Erzählungen über leuchtend weiße Landschaften, zugefrorene Meere und merkwürdige Kreaturen wie große weiße Bären. Pytheas war nur der erste von vielen Menschen, die im Lauf der Jahrhunderte die Wunder der Arktis beschrieben haben und den Emotionen erlagen, die sie weckt.

 

 

 

Natur/Umwelt: Mehr als zur Hälfte liegt die Region Tschukotkas über dem nördlichen Polarkreis und ist eine Eisbodenzone. Zu drei Vierteln ist Tschukotka von zum Teil versumpfter dauerfrostbödiger Tundra bedeckt. -  Die Tschuktschen verwerten von einem erlegten Tier alles, was ihre achtungsvolle Einstellung zu Natur und Umwelt beweist. Im gesamten Gebiet der früheren UdSSR wurden bis 1989 einhundertfünfzehn unterirdische Atomversuche dicht unter der Erdoberfläche durchgeführt. Es bestanden achtundzwanzig Testgebiete westlich und vierundzwanzig östlich des Urals, also in Sibirien. Etwa zweihundert  Kilometer von Irkutsk, nordwestlich des Baikals liegen zwei dieser Testgebiete und eines liegt südöstlich des Sees, etwa vierhundert Kilometer von Irkutsk. Im Westen Sibiriens waren besonders die Enzen, Nenzen, Selkupen und Nganassanen von den Atomtests betroffen, im Osten die Chanten und Mansen, im Nordosten die Dolganen, Ewenken und Burjaten und im Nordosten die Tschuktschen und Jakuten. Zwischen 1950 und 1960 wurden auf Tschukotka mehrere geheime unterirdische Atomtests durchgeführt, welche laut einer Moskauer Studie verantwortlich dafür sind, dass rund 90 Prozent der Tschuktschen an Lungenerkrankungen leiden, und in dem Gebiet die weltweit höchste Todesrate durch Krebs besteht.

 

"Das Verhältnis der Tschuktschen, Eskimos und anderer alteingesessener Bewohner des Hohen Nordens zu ihren `Ernährern´, den Walrossen, könnte als Beispiel dienen für maßvolle, sorgsame Nutzung tierischer Ressouroen. Hier sei nur ein Beispiel gennant: Zu Beginn unseres Jahrhunderts, als die Zahl der Walrosse auf dem Liegeplatz Intschoun (Tschuktschen-Halbinsel) deutlich zurückging, trafen die dort lebenden Tschuktschen in Eigeninitiative Maßnahmen zum Schutz der Tiere und stellten dazu eigens Wachen auf. Die Wächter achteten darauf, daß die riesigen Tiere besonders in den ersten Tagen ihren Auftauchens am Ufer nicht beunruhigt wurden, daß solange der Liegeplatz bestand, in der Nähe keine Lagerfeuer entfacht wurden, daß die Jäger hier nicht mehr Tiere erlegten, als , als tatsächlich für das Leben der Menschen notwendig war, woblei für die Jagd nur Speere benutzt werden durften. Wer die Ordnung störte, dem drohte harte Bestrafung. Diese einfachen Maßnahmen erwiesen sich als sehr wirksam, und der Liegeplatz vergrößerte sich von Jahr zu Jahr."

Sawwa Uspenski in: Tiere in Eis und Schnee, 1983

 

Pflanzen- und Tierwelt: Wenn der ewige Frostboden im Sommer einige Zentimeter auftaut, bringt er die farbenprächtigsten Blumen hervor. In der Illustrierten FREIE WELT veröffentlichte ich nach unserer Tschukotka-Reise eine Rücktitelserie "Auf Eis Erblühtes". Rosa Weideröschen blühen, gelbes Flohkraut, weißes Wollgras... und: es wachsen knöchelhohe Zwergbirken. Lediglich in den südlichsten Gebieten Tschukotkas findet man in geschützten Lagen niedrig wachsende Bäume.

"Da mischen sich die Formen der steinigen oder Flechtentundra mit denen der Moostundra, aber auch zahlreiche neue treten hinzu und bilden einen bunten Blumenteppich, wie wir ihn in unseren Alpen gewohnt sind. Und in besonders geschützten Talschluchten, oft nur wenige Schritte von mächtigen, den Sommer überdauernden Schneelagern entfernt, begegnet man einer so üppigen Entfaltung der Flor, wie man sie in diesem Land kaum für möglich gehalten hätte."

Aurel (deutscher Naturforscher und Ethnologe, 1848 bis 1908) und Arthur Krause (deutscher Naturforscher und

Entdeckungsreisender, 1851 bis 1920) in: Zur Tschuktschen-Halbinsel und zu den Tlinkit-Indianern, 1881/1882

 

Zitat: "Dass das Eis zurückgeht, ist keine Frage - Satellitenaufnahmen der letzten zehn Jahre zeigen deutlich, dass die Eisfläche geschrumpft ist -, allerdings it man sich uneinig über die Ursache. Die meisten Wissenschaftler sind überzeugt, dass der Mensch verantwortlich ist, nicht einfach natürliche Klimazyklen, und dass die künftige Ausbeutung dessen, was dort gefunden wird, diesen Prozess beschleunigen wird. - Am Beringmeer und an der Tschuktschensee mussten bereits Dörfer umgesiedelt werden, weil die Küste erodiert ist und Jagdgründe verloren gegangen sind. Eine biologische Umschichtung ist im Gange. Eisbären und Polarfüchse müssen wandern, Walrosse konkurrieren miteinander um Raum und Fische ziehen nordwärts über die unsichtbaren Grenzen hinweg und erschöpfen die Bestände der einen Länder und vergrößern jene der anderen. Makrele und Kabeljau werden jetzt in den Netzen von Arktis-Trawlern gefunden."

Tim Marshall in: Die Macht der Geographie, Wie sich Weltpolitik anhand von 10 Karten erklären lässt, 2015

 

- In den beiden Ozeanen wimmelt es von Fischen. Auch Walrosse, Robben, Seebären und Wale fühlen sich hier wohl.

 

Zum Größenverhältnis von Wal, Elefant und Pferd...

Zeichnung: Karl-Heinz Döhring

In der Tundra weiden riesige Herden von Rentieren. 

"Das Bemerkenswerteste am Ren aber ist wohl seine Fähigkeit, Kälte gut zu ertragen, sich sein Futter unter tiefem und hartem Schnee hervorzuholen und sowohl beim Laufen über den Schnee als auch über Morast und Sümpfe nicht einzusinken. Kurz, wenn man sich hier eines Ausdrucks aus der Technik bedienen wollte, könnte man das Ren als `Hirsch in Arktisausführung´ bezeichnen."

Sawwa Uspenskiin: Tiere in Eis und Schnee, 1983

Und nie verstummt der Lärm großer Vogelkolonien in den Küstenfelsen. - Nach Beute suchen Eisbären und Polarfüchse.

Der Eisbär bewohnt die nördlichen Polarregionen und gilt als das größte an Land lebende Raubtier der Erde.

Zeichnung von R. Zieger aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

"Die alteingsessenen Bewohner des Nordens bringen dem Eisbären Achtung, ja sogar Ehrerbietung entgegen. Nicht zufällig ist der Eisbär die immer wiederkehrende Hauptfigur in Märchen, Überlieferungen und Liedern der Völker des Hohen Nordens. Nicht selten verlieh man ihm auch phantastische Züge. In den Sagen der Tschuktschen beispielsweise figuriert Kotschatko - ein Eisbär mit einem knöchernen Rumpf und sechs Tatzen."

Sawwa Uspenski in: Tiere in Eis und Schnee, 1983

 

 

 

2011 tötete auf der Tschuktschenhalbinsel ein Eisbär einen Menschen; Andrej Boltunow, der Vorsitzende des Ausschusses für Meeressäuger, informierte darüber, dass in der Tschukotka-Region die Polizei, nachdem sie die Leiche des Mannes gefunden hatte, einen dreijährigen Eisbären, sowie eine Eisbärin und ihr achtzehn Monate altes Jungtier erschießen mussten. - Der Gouverneur der autonomen Region Tschukotka unterzeichnete 2011 ein Dekret, das den indigenen Völkern – Tschuktschen und asiatischen Eskimos - die Tötung von 29 Eisbären im Jahr erlaubt. Die Quote geht auf die Entscheidung einer US-russischen Kommission zurück, die beschlossen hatte, dass die indigenen Völker Alaskas gemeinsam 58 Eisbären erlegen dürfen. Während in Alaska schon zuvor die Jagd erlaubt war, durften auf Tschukotka, das den Eisbären im Wappen trägt, die Raubtiere seit 1957 nicht getötet werden.

Behausungen: Die Wohnstätte der mit den Rentierherden umherziehenden Tschuktschen ist die Jaranga. Ihr unterer Teil ist zylinderförmig und geht oben in einen Kegel über. Die Wände bestehen aus Stangen, die mit Robben oder Bärenfellen bespannt werden. In der Mitte der Jaranga befindet sich die Feuerstelle. Das Innere einer Jaranga gliedert sich in den Tschottagin und den Polog. Polog heißt der im Inneren der Jaranga durch Tranlampen erleuchtete und beheizte Schlafraum, aber auch der Fellvorhang, der ihn vom Tschottagin trennt; ein Holzbalken an seinem Kopfende dient - gegebenenfalls mit Fellauflage - als Kopfstütze, am Tag vom Tschottagin aus auch als Sitzgelegenheit. Der Tschottagin ist der den Polog umgebende unbeheizte Innenraum der Jaranga, auch "kalter Raum" genannt; dient als Aufenthaltsraum, insbesondere bei der Verrichtung häuslicher Arbeiten; auf offenem Feuer wird hier gekocht. In der kalten Jahreszeit werden auch die Schlittenhunde im Tschottagin gehalten.

Eine Jaranga: noch heute die Wohnstätte der nomadisierenden  Rentier-Tschuktschen.

Foto: Detlev Steinberg

"Früher war die Jaranga ein winziges Eiland menschlicher Wärme inmitten der Schneewüste. Sie ist sehr einfach und zweckdienlich gebaut. Hier ist es warm und gemütlich. Dem Gast wird starker Tee und auf einer Holzschale duftendes, dampfendes Rentierfleisch vorgesetzt. Eine Aufforderung zum Zulangen erwartet man vergebens. Die Tschuktschen machen nicht viele Worte. Wer Hunger hat, greife zu, wer Tee möchte, halte den Becher hin."

Sputnik Nr. 10/1983

Die ansässig gewordenen Tschuktschen leben heute in gewöhnlichen Häusern.

Ernährung: Küsten-Tschuktschen und Eskimos waren die ersten Walfänger der Welt. Heute ist ihre nationale Küche noch undenkbar ohne Walfleisch - und Rentierfleisch Doch die Jugend bevorzugt schon Eier in Mayonnaise und Spiegeleier...

"Frauen und Kinder sahen wir, wenn es das Wetter irgend gestattete, auf die benachbarten Bergwiesen wandern, um hier Blätter und Wurzeln verschiedener Pflanzen einzusammeln, teils für den augenblicklichen Bedarf, teils auch als Nahrungsvorrat für den Winter. Sie werden mit Seehundstran roh gegessen oder mit Wasser zu einem spinatähnlichen Brei gekocht, und wie wir selbst erprobt haben, ist das Gericht gar nicht von so üblem Geschmack."

Aurel (deutscher Naturforscher und Ethnologe, 1848 bis 1908) und

Arthur Krause (deutscher Naturforscher und Entdeckungsreisender, 1851 bis 1920) in: Zur Tschuktschen-Halbinsel

und zu den Tlinkit-Indianern, 1881/1882

Kleidung: Faszinierend ist die Nationalkleidung der Tschuktschen aus Rentier- und Robbenfell. Besonders schön ist die bestickte Kleidung der Frauen. Eine Kamlejka ist ein Umhang aus Stoff mit Kapuze und Bauchtasche, den man über die Kuchljanka zieht, um deren Fell vor Schnee und Feuchtigkeit zu schützen. Die Kuchljanka ist ein knielanges Kleidungsstück aus Fell mit Kapuze. Kuchljankas wie auch andere Kleidungsstücke für Frauen unterscheiden sich von denen der Männer durch verschiedene Verzierungen, und statt der gesonderten Fellhose der Männer tragen die Frauen zur Kuchljanka eine Kombination mit großem Brustausschnitt, um beim Arbeiten den ganzen Arm frei machen zu können. - Der Kherker ist eine sehr weite Kombination aus Fellen (Hose und Oberteil zusammengenäht) mit sehr breitem pelzbesetzten Kragen; eine typische Frauenkleidung.

 

Ob Mann, ob Frau, ob Kind - sie alle tragen im Winter Kleidung gleichen Schnitts: die "Kuchljanka", eine Kombination aus Rentierfell, geschmückt mit Lederapplikationen und Perlenstickerei; die Ornamente symbolisieren fast immer die Sonne. von alters her tauschen Rentier-Tschuktschen und Küsten-Tschuktschen ihre Produkte aus. Und so tragen auch die Rentier-Tschuktschen Stiefel aus Robbenfell, "Torbasen" genannt. Am unwirtlichen Rande der Welt ist nicht so sehr Schönheit das A und O, sondern Kleidung, die wärmt und vor den eisigen Schneestürmen schützt.

Deshalb meinen die Tschuktschen sprichwörtlich: Wer ganze Hosen hat, kann sich setzen, wohin er will.

Zeichnung: Gisela Röder in der Illustrierten "FÜR DICH" 2/1983; Rücktitelserie "Trachten der Völker der Sowjetunion" von "Gast"redakteurin Gisela Reller

 

 

Winterkleidung für ganz kleine Tschuktschen: Zum besseren Kälteschutz wurde weiches Rentierfell zu einem "totalen Overall" verarbeitet - mit "Schuhen", "Handschuhen", Mütze. Die Mütze hat (weiter hinten) "Ohren"zipfel als Dekor, die zugleich als Amulett fungierten. Die weiße Fellklappe kann als zusätzlicher Gesichtsschutz kochgeklappt werden. Ferner gehört zu einersolchen Säuglingskleidung eine "Windelklappe"; die Funktion der Windeln erfüllte weiches, trockenes Tundramoos, das mehrmals am Tag gewechselt wurde.

Foto aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

 

Aus  der Illustrierten „FÜR DICH“ 2/1983: Rücktitelserie "Trachten der Völker der Sowjetunion":

 

Die TSCHUKTSCHEN

"Auf Tschukotka sind 60 Grad minus keine Seltenheit, und zweiundvierzig Tage lang herrscht rund um die Uhr Finsternis - Polarnacht. Von alters her tauschen Rentier-Tschuktschen und Küsten-Tschuktschen ihre Produkte miteinander aus, so dass die meisten Tschuktschen eine Kuchljanka aus Rentierfell und Torbasen (Stiefel) aus Robbenfell tragen. Autor der  Rücktitelserie in der Zeitung „Für Dich“ war Gisela Reller; Gisela Röder zeichnete die Trachten nach den Angaben und Vorlagen von Gisela Reller;  unverkennbar der sechseckige Eskimoball in den Händen des Kindes, der einen Ehrenplatz in meiner Wohnung hat."

"Zum ersten mal sahen wir die Eingeborenen in ihrer eigentümlichen, aus Robben- und Rentierfellen nicht ohne Geschmack gefertigten Pelzkleidung, über welche sie meist noch den für alle Polarvölker charakteristischen Überwurf aus Seehundsdärmen gezogen hatten. (...) Nach eingenommener Mahlzeit brachten sie einige Handelswaren vor, zumal aus Seehundsfell gefertigte Stiefel mit zugehörigen Lederstrümpfen und Handschuhen. Nach schlauer Händlerweise zeigten sie nicht gleich den ganzen Vorrat auf einmal, sondern Stück für Stück, um die Preise möglichst in die Höhe zu schrauben. Wie wir später belehrt worden sind, ist die Fußbekleidung der Eingeborenen eine sehr praktische. Sie ist außerordentlich leicht, hält den Fuß bei feuchtem und kaltem Wetter warm und trocken, und bei einiger Pflege und Schonung ist sie ziemlich dauerhaft. (...) Freilich hatten wir es versäumt, zwischen die Lederstrümpfe und Stiefel nach Weise der Eingeborenen trockenes Gras und Heide zu stopfen; dadurch wird der Fuß nicht nur bedeutend wärmer gehalten, sondern auch besser gegen Druck und Stoß geschützt."

Aurel (deutscher Naturforscher und Ethnologe, 1848 bis 1908) und Arthur Krause (deutscher Naturforscher und Entdeckungsreisender,

1851 bis 1920) in: Zur Tschuktschen-Halbinsel und zu den Tlinkit-Indianern, 1881/1882

Folklore:  Weltbekannt ist das traditionelle Kustgewerbe der Tschuktschen - die Beinschnitzerei, die Fellgerbung, das Aufbringen von Fellapplikationen, die Stickerei aus Rentierhaar, die Flechtarbeiten aus den Fasern des arktischen Weidenröschens. Die Folklore der Tschuktschen ist mannigfaltig, sie hat gemeinsame Züge mit der Folklore der Korjaken, der Eskimos und der nordamerikanischen Indianer. -

 "Alltägliche tschuktschische Lieder glänzen nicht durch viele Worte."

Juri Rytchëu (tschuktschischer Schriftsteller, 1930 bis  2008) in: Die Reise der Anna Odinzowa, 2000

Feste/Bräuche: Die Tschuktschen feiern seit Urzeiten das Fest des Eisbären, des Schutzheiligen der Meerestierjäger. In alten Zeiten leiteten die Jäger, in Eisbärfelle gehüllt,  mit Tänzen, die die Bewegungen des Eisbären nachahmten, die Jagdsaison ein. Der Eisbärenkult ist der älteste Kult der Tschuktschen und hat sich bis auf den heutigen Tag erhalten. Zum Eisbärenfest, das in den Küstensiedlungen gefeiert wird reisen viele Gäste an: Rentierzüchter aus der Tundra, Mitglieder von Jagdgenossenschaften, Pelztierzüchter... Der beste Jäger muss einen "Esbären" mitbringen, den der angesehenste Einwohner der Siedlung darstellen muss. Es wird getanzt, gesungen, es werden Märchen erzählt. Und beim Essen und Trinken verraten die Jäger dem Eisbären ihre Sorgen und Probleme.  -Unter den tschuktschischen Frauen und Mädchen waren Tätowierungen sehr verbreitet. - Eine Witwe, schon gar wenn sie Kinder hatte, ging nach dem Tod ihres Mannes fast immer auf den Schwager über.

"Im Auftrag der `Magadanskaja Prawda´ war ich Anfang der sechziger Jahre in der Tschuktschen-Siedlung Lorino, interviewte einen jungen Jäger und fragte ihn auch nach seinen Familienverhältnissen. `Ich kann zur Zeit nicht heiraten´, berichtete er mir treuherzig, `denn mein älterer Bruder ist zur Armee gegangen, und so lange er dient, muss ich mich um seine Frau und seine Kinder kümmern.´ Ich wollte wissen, was konkret zu seinen Aufgaben gehört, und er antwortete offen: `Auch das.´"

Juri Rytchëu im Neuen Deutschland vom 10/11. April 1999

Ein alt-tschuktschischer Brauch war, das einem Gast angeboten wurde, mit der Frau des Gastgebers schlafen. - Nicht ungewöhnlich war auch der Brauch, die Ehefrauen zu tauschen. - Die Eltern "verheirateten" ihre noch nicht geborenen Mädchen - um gleich für einen Ernährer zu sorgen. - Alte und unheilbar Kranke wurden getötet - meist auf eigenen Wunsch. Alten Menschen, die unnütze Esser geworden waren, wurde somit geholfen "durch die Wolken zu gehen" und keiner fand dabei etwas Verwerfliches. Schließlich ging es ihnen "in den Wolken" gut...

 "Die Tschuktschen wünschen nicht eines natürlichen Todes zu sterben, weil sie diesen Tod für schimpflich halten. Greise, welche des Lebens überdrüssig sind, und welcher ihrer Familie nicht zur Last sein wollen, und auch Junge, die unheilbar krank sind lassen sich töten, und man tötet sie ohne Zögern! Das Töten muss einer der nächsten Anverwandten übernehmen (...) Jeder Tschuktsche hat eine besondere Kleidung, welche zeitig für den Fall eines freiwilligen Todes hergerichtet wird. Vor dem Sterben ist der Tschuktsche in der besten Gemütsverfassung; er ist fröhlich und drückt seine Freude jedem aus, der sich bei ihm verabschiedet. Die ihn Besuchenden bítten ihn, ihre Freunde und Verwandten, welche er in der anderen Welt treffen soll, zu grüßen. Der zum Tode bestimmte Tag ist ein Festtag für die ganze Familie, Verwandte, Freunde und Bekannte, alle verweilen vom frühen Morgen in der Nähe des Zeltes, wo sich der Todeskandidat aufhält. Er erwartet mit Ungeduld im Zelt denjenigen, welcher ihn töten soll. Während Frauen und Kinder gleichgiltig außerhalb des Zeltes das Ende des Familienvaters abwarten. Sobald der entscheidende Moment eintritt, wird alles still in dem bisher lärmenden Haufen. Der im Zelte befindliche Tschuktsche entledigt sich nun seines Obergewandes, setzt sich aufs Lager und drückt sich mit seiner linken entblößten Seite dicht an die Wand des Zeltes. Der Todesvollstrecker durchbohrt mittelst einer Lanze die Wand und richtet die Spitze der Lanze auf das Opfer, welche dieselbe so anfügt, daß sie die Rippenbogen trifft. Dann ruft er mit lauter Stimme: akalpe-kalschelmagdle ( d. h. töte schnell!). Der draußen stehende Mann schlägt mit voller Kraft der Hand auf das Ende des hölzernen Lanzenstils und die Lanze durchbohrt quer die Brusthöhle, um auf der anderen Seite blutig herauszukommen. Im Zelte ertönt nun ein durchdringender Schrei; der Außenstehende zieht mit einem Ruck die Lanze heraus. Der Tschuktsche ist infolge des heftigen Stoßes mit dem Gesicht auf den Boden gefallen und die Eintretenden finden ihn bereits ohne Lebenszeichen. Frauen und Kinder sehen ruhig und leidenschaftslos auf den entseelten Leichnam des Gatten und Vaters, in welchem sie auf immer ihren einstigen Beschützer verloren haben. Man trägt die Leiche aus dem Zelt und führt sie einige Werst weit auf einen hohen Berg. Zwei Renntiere werden an die Narte (Schlitten) gespannt, zwei andere werden hinterdrein geführt; alle vier werden dann am Ort des Begräbnisses geschlachtet. Hatte der Verstorbene eine Rentierherde, so wird auch diese nachgetrieben. An Ort und Stelle wird eine länglich viereckige Grube gemacht, die Leiche hineingelegt und ein Fell darauf gedeckt. Darauf werden die getöteten Renntiere so niedergelegt, daß an jeder Seite der Grube ein Tier liegt. Damit ist die Zeremonie vorüber und sowohl die Leiche, als die getöteten Renntiere bleiben den wilden Tieren zur Speise. Alle bei der Bestattung Anwesenden bleiben bis zum Abend am Grabe."

A. W. Grube Hrsg.), Geographische Charakterbilder für die obere Stufe des geographischen Unterrichts, sowie zu einer

bildenden Lektüre für Freunde der Erdkunde überhaupt, Leipzig 1891

*

Unsere Frage, ob altersschwache Leute von ihren Angehörigen getötet würden, wurde verneint. Doch haben wir später vernommen, daß dieser Brauch noch immer geübt wird, wenn auch vielleicht nicht in demselben Maße wie in früherer Zeit. Für den Glauben an eine Art Fortleben nach dem Tod scheinen die Beigaben auf den Begräbnisplätzen zu sprechen."

Aurel (deutscher Naturforscher und Ethnologe, 1848 bis 1908) und  Arthur Krause (deutscher Naturforscher und Entdeckungsreisender, 1851 bis 1920) in: Zur Tschuktschen-Halbinsel und  zu den Tlinkit-Indianern, 1881/1882

Religion: Die Tschuktschen sind ihrer Religion nach schamanische Animisten. Das Christentum – von russischen Missionaren nach Tschokotka gebracht - hat in diesem Volk nicht Fuß gefasst.

"Die Tschuktschen verehren bloß die Sonne; sie beten niemals und erfüllen keinerlei religiöse Gebräuche, wofern man nicht die Begräbnisfeierlichkeiten dazu rechnen will. Sie glauben an ein Fortleben nach dem Tode und geben deshalb dem Verstorbenen einige Renntiere mit auf den Weg. Die Körper ihrer Toten verbrennen sie oder sie bringen sie auf irgend einen entfernten Berg, damit sie hier eine Beute der wilden Tiere, besonders der Wölfe, werden, vor welchen die Tschuktschen eine besondere Achtung haben. Verbrannt wird die Leiche nur, wenn es der Wunsch des Sterbenden gewesen war."

A. W. Grube Hrsg.), Geographische Charakterbilder für die obere Stufe des geographischen Unterrichts, sowie zu einer

bildenden Lektüre für Freunde der Erdkunde überhaupt, Leipzig 1891

Die Tschuktschen glaubten stets an Geister, sie verehrten Tiere - besonders den Eisbären, den Wal und das Walross. Der russische Revolutionär, Dichter und Völkerkundler  Wladimir Bogoros (1865 bis 1936) nennt noch Vögel, Riesen und Zwerge, Hausgeräte und Steine... Der Schamanismus war stark entwickelt. Die Schamanen imitierten Tierstimmen, ihre Handlungen begleiteten Klänge des Tamburins, Gesang oder Rezitationen sowie Tänze. Besonders verehrt wurden Schamanen, die Frauen darstellen konnten oder umgekehrt. Ein Schamane der Tschuktschen besaß kein spezielles Kostüm, in dem er seine Handlungen ausführte. - Der letzte Schamane ist Mletkin, der Großvater des tschuktschischen Schriftstellers Juri Rytchëu (1930 bis 2008). Begegnet ist er uns schon als Kagot in "Die Suche nach der letzten Zahl", als Rinto in "Die Reise der Anna Odinzowa", als Mletkyn in "Im Spiegel des Vergessens". Nun hat der berühmte Autor dem Großen Schamanen von Uëlen ein ganzes Buch gewidmet. Zu Sowjetzeiten, als die Schamanen getötet und verbannt wurden, wäre ein solches Unterfangen unmöglich gewesen. Zu Sowjetzeiten verboten und mit dem Tode bedroht, erleben die Schamanen heute eine Renaissance; im Jahre 2001 fand in Sibirien erstmals ein internationales Schamanentreffen statt, zu dem vierhundert Schamanen, sogar aus Afrika und Lateinamerika, anreisten.

Ereignisse nach dem Zerfall der Sowjetunion, sofern sie nicht bereits oben aufgeführt sind: Im Kernkraftwerk Bilibino im Nordosten Sibiriens, seit 1974 in Betrieb, ereignete sich am 10. Juli 1991 der bisher schwerste Störfall. Es handelte sich dabei um einen ernsten Störfall der INES-Stufe 3. Ein weiterer  Störfall der INES-Stufe 2 wurde 1998 bekannt. In den letzten Jahren hat das Kernkraftwerk durchschnittlich 132 Millionen Kilowattstunden in das öffentliche Stromnetz des Gebietes Magadan eingespeist. Darüber hinaus wird Wärme an die Stadt Bilibino abgegeben. Das Kernkraftwerk wurde als erstes und einziges im Nordpolarkreis in einem Gebiet mit Dauerfrostboden errichtet, um Energie für die Ausbeutung der Goldminen in der Umgebung bereitzustellen. Eigentümer und Betreiber des Kernkraftwerkes ist das russische staatliche Unternehmen Rosenergoatom. Die Reaktoren waren für eine Betriebsdauer von dreißig Jahren vorgesehen. Die ersten Blöcke haben inzwischen diese Laufzeit erreicht und sollten eigentlich abgeschaltet werden. Für den Block 1 wurde im Jahr 2004, für den Block 2 im Jahr 2005, eine Laufzeitverlängerung von fünf Jahren genehmigt. Auch für die Reaktorblöcke 3 und 4 soll eine längere Betriebsdauer erlaubt werden als ursprünglich geplant. Durch Modernisierungsmaßnahmen soll die Betriebsdauer des Kernkraftwerks um bis zu 15 Jahre verlängert werden. Ein Ersatz der vier Reaktoren ist bis 2020 geplant. Mit einer installierten Gesamtleistung von 48 MW ist das Kernkraftwerk das kleinste in Betrieb befindliche Kernkraftwerk in Russland und auch weltweit. - Zu den gefährlichsten Nachwirkungen der Sowjetzeit in Sibirien gehören die Folgen der Atomtests, besonders in der Umgebung von Nowaja Semlja (die Inseln Kolguew und Wajgatsch) und auf Tschukotka. Die Bevölkerung wurde nicht weit genug evakuiert, und ein großer Teil der Menschen leidet noch heute an Strahlenerkrankungen und deren Folgen. - Im Jahre 2000 gewann der russische Finanzmagnat Roman Abramowitsch (geboren 1966) die Wahl zum Gouverneur mit 92 Prozent der Stimmen. 2003 kaufte er für 210 Millionen Euro den englischen Fußballverein Chelsea.

"Zar von Tschukotka im Kaufrausch: Abramowitsch ist einer der Big-Bosse von `Sibneft´. Die Gesellschaft holt (auch) aus Tschukotka heraus, was der Boden hergibt. Vor allem Gaws und Öl. `Sibneft´ verfügt nach der im April vollzigenen Ehe mit `Yukos´ über Öl- und Gasreserven von etwa 19,4 Milliarden Barrel (1 Barrel sind knapp 159 Liter) und will täglich 2,3 Millionen Barrel Rohöl fördern. Dies entspricht etwa der gesamten Produktionsmenge des OPEC-Mitglieds Kuwait und rund 29 Prozent der russischen Förderung."

Neues Deutschland vom 3. Juli 2003

Aber er ließ auch selbstfinanzierte Lebensmittel und Fertighäuser aus Kanada und Treibstoff in den Autonomen Bezirk verschiffen. Während sich Abramowitsch bei der einheimischen Bevölkerung aufgrund dieser Maßnahmen hoher Beliebtheit erfreute, sicherte sein Amt dem in London lebenden Oligarchen den Schutz vor Strafverfolgung (politische Immunität). In neuen russischen Presseberichten über den reichsten Mann des Landes heißt es aber auch vielfach, dass der damalige Präsident Wladimir Putin ihn gebeten habe, sich auf diese Weise um die ihrem Schicksal überlassene Region zu kümmern. Allein die jährlich entrichteten Steuern von Abramowitsch würden den Regionalhaushalt um ein Vielfaches übersteigen. 2005 wird der russische Multimilliardär Abramowitsch im Amt bestätigt. Er habe es verstanden, Tschukotka als Steuerparadies zu nutzen, sagte der Politologe Stanislaw Belkowskij WELT ONLINE. "Ein Teil der Mittel verwandte er für die Entwicklung Tschukotkas, der andere floss in seine eigenen Taschen." Eine Milliarde Dollar soll er als Gouverneur für Tschukotka aufgewendet haben, berichten russische Medien. Im Laufe der Wahlkampagne um den Gouverneurssitz mussten Abramowitsch und seine PR-Leute hart arbeiten, um die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass der Oligarch keine eigennützigen Ziele auf Tschukotka verfolgt. `Glauben Sie an die Legende vom Milliardär, der plötzlich auf die dreißig Silberlinge verzichtet?´ fragte die "Moskauer Deutsche Zeitung" vom 23.01.2001. Und weiter? "Nach Gussinskij und Beresowskij, deren Schicksal klar ist, ist nun Roman Abramowitsch dran. Ich kann mir folgendes Gespräch im Kreml vorstellen: Unter Jelzin hat man dich Öl- und Aluminium-Milliardär werden lassen. Nun musst du dein Geld zum Wohle Russlands verwenden. Hier hast du eine hoffnungslos zurückgebliebene Region zum Aufpäppeln. Abramowitschs Entsendung auf die Tschuktschen-Halbinsel kann als eine ehrenvolle Verbannung betrachtet werden. Auch, damit er einen Teil seiner Gelder in die Entwicklung der Region investiert – bevor jemand von der Staatsanwaltschaft zu ihm kommt Die Staatsgewalt stellt ihn vor eine harte Alternative. Sie kam zu Abramowitsch: Entweder du fährst auf die Tschuktschen-Halbinsel, wo man Menschen umsiedeln und eine Infrastruktur aufbauen muss, und bleibst Besitzer von „Sibneft“ und deinem anderem Eigentum – oder du teilst das Schicksal von Beresowskij und Gussinskij." - Irgendwas ist schiefgegangen; denn 2008 wird Abramowitsch auf eigenen Wunsch als Gouverneur entlassen, sein Amt übernimmt Roman Kopin (geboren 1974). - Am 28.02.2013 treffen sich Russlands Präsident Wladimir Putin und der Gouverneur Tschukotkas, Roman Kopin, um über die sozialen und ökonomischen Probleme Tschukotkas zu beraten. Im Juli 2013 hat Roman Abramowitsch sein Amt als Duma-Vorsitzender auf Tschukotka niedergelegt und auf alle Vollmachten des Abgeordneten des Parlamentsunterhauses verzichtet. Der Multimilliardär begründete seine Entscheidung mit der Absicht, „voll und ganz der Gesetzgebung der Russischen Föderation zu folgen“, weil das neue Gesetz, das jüngst in Kraft getreten ist, Beamten verbietet, Vermögenswerte im Ausland zu besitzen. Allerdings beabsichtigt Abramowitsch, sich auch weiterhin am öffentlichen Leben auf der Tschuktschen-Halbinsel zu beteiligen.

"Abramowitsch, ein junger Mann von 35 Jahren, gehörte zum Jelzinclan und ist im Zuge der so genannten Privatisierung russischen Staatsvermögens auf dem Energiesektor in den neunziger Jahren enorm reich geworden. Diese Privatisierung war in Wirklichkeit ein cleverer Raubzug einiger weniger skrupelloser Männer, denen von ihren Kumpanen in der Regierung oder im Apparat des Präsidenten die Filetstücke der russischen Industriemonopole zugeschanzt wurden. Nicht selten waren aber auch Betrug und Gewalt im Spiel, Konkurrenten wurden von Auftragskillern erschossen. Es entstand die Klasse der Oligarchen´."

Thomas Roth in: Russisches Tagebuch, 2002.

 

Als Grenzgebiet zu den Vereinigten Staaten ist Tschukotka für Ausländer nur mit Sondergenehmigung zu bereisen, diese muss vom Gouverneur erteilt werden.  Als wir 1980  auf Tschukotka einreisten, war die Insel aus gleichem Grunde ebenfalls Sperrgebiet. Wir Journalisten der FREIEN WELT erhielten damals als erste Ausländer eine Genehmigung zur Einreise und wurden von Grenzsoldaten mit Kalaschnikows (herzlich) empfangen. - 2002 machte der russische Föderationsrat in Moskau den Vorschlag, vom Aussterben bedrohte Völker im hohen Norden Russlands mit weniger Wodka zu beliefern, weil die Todesrate durch Alkohol unter den Tschuktschen, Nenzen und Korjaken zwanzig Mal höher sei als bei den Russen, die in derselben Region leben.  -

"Nach übereinstimmenden Berichten kann man sich die verderblichen Wirkungen des Alkoholgenusses bei den Eingeborenen nicht schlimm genug vorstellen. Für wenige Schluck Branntwein ist ihnen alles feil. Sie geben ihre guten Pelzwaren weg, die ihnen während des strengen Winters allein ausreichenden Schutz gewähren können. Im trunkenen Zustand sind sie ganz unzurechnungsfähig, so daß die Weiber, um größeres Unheil zu verhüten, alsdann den Männern die Messer wegnehmen.  (...) Sowohl von der amerikanischen als auch von der russischen Regierung ist der Handel mit Alkohol streng untersagt; trotzdem wurde in früheren Jahren, besonders durch Händler aus Honolulu, mehrfach Branntwein schlechtester Sorte fässerweise an sie geliefert."

Aurel (deutscher Naturforscher und Ethnologe, 1848 bis 1908) und

Arthur Krause (deutscher Naturforscher und Entdeckungsreisender,

1851 bis 1920) in: Zur Tschuktschen-Halbinsel und

zu den Tlinkit-Indianern, 1881/1882

- 2013 ist vor Tschukotka der südkoreanische Fischfangtrawler "Oriental Angel" gestrandet. - Die Auftritte weltberühmter Bühnenstars und bester Musik- und Tanzgruppen aus Russland dauerten zur Olympiade in Sotschi (vom 7. bis 23. Februar 2014) mehr als fünfhundert Stunden, auch Tscherkessen und Tschuktschen traten auf.

Kontakte zur Bundesrepublik Deutschland: Zum laufenden Arbeitsprogramm des Sibirienzentrums des Max-Planck-Instituts für ethnologische Forschung gehört neben einer Reihe von anderen Themen die Frage nach der Darstellung Sibiriens in den Medien und im gesellschaftlichen Diskurs. Mehrere Projekte analysieren, wie in diesen Beschreibungen die Begriffe Kultur und Natur gedeutet werden: "Beide Begriffe haben Einfluss auf das Selbstverständnis einer Gesellschaft und besitzen auf Grund ihrer normativen Bedeutung politische Relevanz. Sibirien gilt als eine Region, die erschlossen und angeeignet werden muss. Dieses Verständnis von Aneignung impliziert große Anstrengung und Opferbereitschaft, um die widrigen naturräumlichen Voraussetzungen und die vielfach unterstellte Primitivität dieses Landstrichs zu überwinden.

 

Interessant, zu wissen..., dass auf Tschukotka ein Tier gesichtet und gefilmt (!) wurde, das wie ein Wollmammut aussieht.

Ein Ingenieur war gerade dabei, Land für den Straßenbau zu vermessen, als er das Tier erblickte, dass durch einen eiskalten Fluss watete. Er griff sofort zu seiner Videokamera… Vor etwa zehntausend Jahren durchstreiften Wollmammuts die Erde in großer Zahl, seit ungefähr viertausend Jahren gelten sie als ausgestorben. Wissenschaftler halten nun für möglich, dass in dem großen, zum Teil noch unerforschten Territorium der TSCHUKTSCHEN einige Wollmammuts überlebt haben. Warum auch nicht? Schien doch der Quastenflosser so ausgestorben zu sein, wie Auerochse, Mammut und Brontosaurier. Der Ichthyologe James L. B Smith sei "wie vom Donner gerührt" gewesen, als er erfuhr, dass eine Kollegin ein Exemplar bei einem Fischer entdeckt habe. Er tat verdattert einen Ausspruch, der in der Wissenschaftsgeschichte so berühmt geworden ist wie das Wiedererscheinen des Quastenflossers: "Ich wäre kaum erstaunter gewesen, wenn mir auf der Straße ein Dinosaurier begegnet wäre."

 

In der Fremde mag es noch so sonnig sein,

Heimat bleibt Heimat.

Sprichwort der Tschuktschen

 

Als Journalistin der Illustrierten FREIE WELT – die als Russistin ihre Diplomarbeit über russische Sprichwörter geschrieben hat - habe ich auf allen meinen Reportagereisen in die Sowjetunion jahrzehntelang auch Sprichwörter der dort ansässigen Völker gesammelt - von den Völkern selbst,  von einschlägigen Wissenschaftlern und Ethnographen, aus Büchern ... - bei einem vierwöchigen Aufenthalt in Moskau saß ich Tag für Tag in der Leninbibliothek. So ist von mir erschienen: 

* Aus Tränen baut man keinen Turm, ein kaukasischer Spruchbeutel, Weisheiten der Adygen, Dagestaner und Osseten, Eulenspiegel Verlag Berlin in zwei Auflagen (1983 und 1985), von mir übersetzt und herausgegeben, illustriert von Wolfgang Würfel.

* Dein Freund ist dein Spiegel, ein Sprichwörter-Büchlein mit 111 Sprichwörtern der Adygen, Dagestaner Kalmyken, Karakalpaken, Karelier, Osseten, Tschuktschen und Tuwiner, von mir gesammelt und zusammengestellt, mit einer Vorbemerkung und ethnographischen Zwischentexten versehen, die Illustrationen stammen von Karl Fischer, die Gestaltung von Horst Wustrau, Herausgeber ist die Redaktion FREIE WELT, Berlin 1986.

 * Liebe auf Russisch, ein in Leder gebundenes Mini-Bändchen im Schuber mit Sprichwörtern zum Thema „Liebe“, Buchverlag Der Morgen, Berlin 1990, von mir (nach einer Interlinearübersetzung von Gertraud Ettrich) in Sprichwortform gebracht, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen, illustriert von Annette Fritzsch.

Ich bin, wie man sieht, gut damit gefahren, es mit diesem turkmenischen Sprichwort zu halten: Hast du Verstand, folge ihm; hast du keinen, gibt`s ja noch die Sprichwörter.

Hier dreißig tschuktschische  Sprichwörter:

 

(Bisher Unveröffentlicht)

 

Je mehr Schüsse, je mehr Fleisch.

Ohne gute Waffe ist ein Jäger kein Mensch.

Ein starker Mann darf seine Gefühle nicht zeigen.

Der Mensch ist keine Maus, er darf das Licht nicht fürchten.

Der Mensch ist der Gebieter seines Lebens.

Bedauernswert ein Mann ohne Söhne. 

Wer keinen Durst hat, dem ist auch ein nahegelegener Fluss zu weit.

Ein leeres Gespräch führen ist dasselbe wie Schnee essen.

Einen Lügner anzuhören ist wie warmes Wasser trinken – es löscht nicht den Durst.

Der ist ein schlechter Wirt, der erst an seinen Schlitten denkt, wenn Schnee fällt.

Wegzehrung ist keine Last.

Fährst du für einen Tag, nimm Mundvorrat für eine Woche mit.

Der Tschuktsche sehnt sich nach Wärme wie nach einem Festtag.

In einer Herde braucht´s Beine statt Arme.

Wer nicht fähig ist, den Verstand eines anderen einzuschätzen, hat selbst keinen.

Nur ein schlechter Mensch stellt Bedingungen, wenn er Gutes tut.

Solange Rauch aus einer Jaranga* aufsteigt, ist Leben darin.

Das Fett von heute macht blind für den Hunger von morgen.

Wert zu leben ist nur der Mensch, der Nahrung für seine Nachkommen beschaffen kann.

Bei der Jagd ist dem Frühaufsteher der Erfolg beschieden.

Wahrer Schmerz kennt keine Tränen.

Das Glück kommt unverhofft.

Wer Gewissheit hat, dass der Sohn auf dem Weg des Vaters geht, braucht

keine Sorgen zu haben, dass sein eigener Weg endet.

Hat der Mensch genug im Magen, lacht sein Herz.

Je mehr Rentierhäute in der Jaranga*, je mehr Fröhlichkeit im Herzen.

Sei wie die Sonne, die niemanden bevorzugt.

Die Kleidung kann man auswechseln, das Herz nicht.

Ein Mann ohne Ehefrau verdient Spott.

Ein Dieb stiehlt, wenn der Wirt nicht zu Hause ist.

Kommt ein Gast zu dir und du hast kein Holz zum Heizen, zerhack deine Narte**.

Wie der Hirt, so die Herde.    

 

* Jaranga = Wohnzelt  /  ** Narte = Schlitten

Gesammelt, aus dem Russischen übersetzt und in Sprichwortform gebracht von Gisela Reller

 

 

 

Zitate: "Die alten Tschuktschen erinnern sich noch gut an die Geschäftsleute der amerikanischen Firma Hudson, die zwanzig Nähnadeln gegen zwanzig Weißfuchsfelle tauschten und für 1 Pud (16,3 Kilo) Tabak zwanzig Fuchsfelle  und dreißig Paar Walrosshauer verlangten, die auf dem Weltmarkt teurer als Elefanten-Elfenbein waren."

Neue Zeit vom 28. Dezember 1966

*

Was hat sich für die Tschuktschen durch ihre engen Beziehungen zur ehemaligen Sowjetunion als positiv, was als negativ erwiesen...? "Positiv ist, dass die Tschuktschen in die Entwicklungsprozesse des Menschen von heute integriert wurden. Sie erhielten neuzeitliche Bildung, lernten die zeitgenössischen Errungenschaften von Wissenschaft und Technik kennen. Sie wurden als Bürger in die Gesellschaft der Sowjetunion integriert. Wie immer wir diese Gesellschaft - unter anderem wegen der Unterdrückung - kritisieren, es war eine Gesellschaft eigenen Charakters. Besonders wichtig waren natürlich soziale Errungenschaften, soziale Garantien, die es - ob gut, ob schlecht - gegeben hat.  - Zu den negativen Erscheinungen dieser Periode zähle ich die Erziehung zu einer sozialen Apathie, zu einer Bürger-Fügsamkeit, zur Bereitschaft, Weisungen von oben zu folgen, die bekanntlich immer unanfechtbar und richtig waren. Jetzt, da wir gewissermaßen auf halbem Weg ins Paradies uns selbst überlassen sind, wirkt sich das Fehlen von Erfahrungen im Kampf der Bürger um ihre Bürgerrechte, um ihre ökonomischen Rechte extrem nachteilig aus. (...) Unter der Alkoholisierung der Bevölkerung auf der Tschuktschen-Halbinsel und im gesamten Norden haben wir schon vor der Sowjetmacht gelitten, dann während der Sowjetmacht, während der Perestroika und jetzt trotz Demokratisierung und ökonomischer Reformen - leiden wir auch daran. (...) Was macht die Gewinne und Verluste der Zugehörigkeit eines kleinen Volkes zur Russischen Föderation aus? Dieses Problem hat drei Aspekte. Der erste betrifft die unverhohlene Kolonisierung, die militärische Unterwerfung, begonnen durch Kosaken-Formationen und vollendet durch Formationen der Roten Garde. Der zweite Aspekt - die ökonomische Expansion. Der dritte Aspekt - die ideologische. Alle drei sind Bestandteile der Politik. Was die rein menschliche Kommunikation betrifft, da sehe ich nichts als Positives. Die Russen können sich dank ihres allgemein guten, sogar friedliebenden Charakters - ich meine das nicht von Politikern instrumentalisierte Volk - mit jedem anderen Volk vertragen."

Juri Rytchëu in einem Interview mit Leonhard Kossuth im Neuen Deutschland vom 15. Dezember 1995

*

"Der Ehrgeiz kommunistischer `Nationalitätenpolitik bestand darin, die Eingeborenen vom Volk der Tschuktschen zu `zivilisieren´ und zu Sowjetbürgern umzuformen. Das zog eine komplette Veränderung ihrer Lebenswelt und vieler ihrer Lebensgewohnheiten nach sich - im Positiven wie im Negativen. Sie erhielten Schulbildung im Geiste des Kommunismus, erlernten Berufe. Doch sie handelten sich einen entscheidenden Nachteil ein, der heute bei den Naturvölkern einen großen Teil der Misere des russischen Nordens ausmacht: Die Abhängigkeit der Eingeborenen verschob sich von der Natur  auf den Sowjetstaat, seine Siedlungen, seine Kolchosen, seine Infrastruktur. Seitdem all das entweder ganz zusammengebrochen ist oder nur noch mehr schlecht als recht funktioniert, ist den Menschen beides entzogen: Das traditionelle Leben in der Natur mit den entsprechenden jahrhundertealten Überlebenstechniken einerseits und die gesicherte Versorgung wie zu Sowjetzeiten üblich andererseits. In dieser Zwickmühle leben die Menschen dort oben heute."

Thomas Roth in: Russisches Tagebuch, 2002

*

"Die [Tschuktschen-]Kinder nahmen nie zuerst das Fleisch aus der Schale, egal wie hungrig sie waren. Erst wenn der Vater und Ernährer zu essen anfing, schnappten sie sich ein Stück. Außerdem gehörte es sich nicht für sie, das beste Stück zu nehmen, sondern das, was in der Nähe lag. Diese Regeln betrafen vor allem die Jungen. Wenn ein zukünftiger Jäger ein Stück nahm, das weit weg von ihm lag, dann flog seine Harpune über das Walross hinweg. Außerdem war es nicht erlaubt, die Knochen vom Scheinbein zu essen, damit man sich nicht selbst das Bein brach."

Juri Rytchëu (tschuktschischer Schriftsteller, 1930 bis 2008) in: Polarfeuer, 2007

 

 

Als Reporterin der Illustrierten FREIE WELT bereiste ich 1980 Tschukotka. In meinem Buch „Diesseits und jenseits des Polarkreises“, 256 Seiten, mit zahlreichen Fotos, 1985 im Verlag Neues Leben, Berlin, erschienen, habe ich über die Südosseten, Karakalpaken, TSCHUKTSCHEN und asiatischen Eskimos geschrieben.

 

 

                                      

 

 

Magadan - keine tote Goldstadt (LESEPROBE aus "Diesseits und jenseits des Polarkreises")

 

"Eine 13 000 Kilometer-Reise ans `Ende der Welt´ machst du natürlich erst einmal zu Hause mit dem Finger auf der Landkarte. Und so siehst du dann die Orte Magadan, Ola, Anadyr, Bucht Prowidenija, Kap Lorino, Lawrentija, Uëlen, Pewek, Bilibino...

Magadan, unser erstes Reiseziel, ist eine Hafenstadt am Ochotskischen Meer, besitzt einen Flugplatz und liegt noch diesseits des Nördlichen Polarkreises. Eine Wirtschaftskarte verrät dir, dass in Magadan die Grundstoff-, die metallverarbeitende, die Nahrungsgüter- und Genussmittelindustrie zu Hause sind - die Angabe über eine Genussmittelindustrie solltest du nicht ganz so ernst nehmen. Das schwarze Kreuz im weißen Kreis den Standort eines Wärmekraftwerkes (das Wasserkraftwerk ist noch nicht vermerkt); Farbflächen um Magadan herum weisen dich auf intensiv genutzte Weideflächen und lichten Wald hin; einer Geschichtskarte kannst du dann noch entnehmen, dass Magadan seit Baubeginn 1929 bis 1974 um das Zwanzigfache gewachsen ist. Als Magadan 1939 Stadt wurde, wohnten schon 27 000 Menschen dort.

Immerhin weißt du schon vor deiner Ankunft dort, dass dich 11 000 Kilometer von Moskau entfernt auch nicht gerade ein fernöstliches Dorf erwartet.

"Demnach kamen die ersten Häftlingstransporte im Jahre 1931 im Hafen der Stadt Magadan an. In Schiffen wurden sie meist aus Wladiwostok hierher gebracht. Wie viele Menschen bereits auf dem Transport verstorben sind, ist unbekannt. mit jedem Jahr nahm die Zahl der Häftlinge zu, proportional zu den Terrorwellen des Stalinschen Regimes. 1934 waren es bereits 20 000, 1937 kamen 70 000, 1939 die erschreckende Zahl von 138 000 und 1940 schließlich 190 000. Insgesamt verschwanden im GULAG der Kolyma rund eine Million Häftlinge."

Thomas Roth in: Russisches Tagebuch, 2002

Uns erwartet auf dem Magadaner Flugplatz erst einmal Grigori Kumbadse, der uns sogleich lokalpatriotisch darauf hinweist, dass Moskau selbstverständlich der erste Platz gebühre, Magadan aber auch nicht erst der zweite.

Nanu? Schon ein erster Blick in sein tiefbrünettes adlernasiges Gesicht sagt dir, dass Grigori ein waschechter Kaukasier ist. Woher dieser Nordstolz? `Ich lebe mehr als ein Jahrzehnt hier´, sagt er, `und immer wenn ich im Süden im Urlaub bin, habe ich nach wenigen Tagen wieder nach dem Norden Sehnsucht.´ Kolyma-Trasse, auf der wir vom Flughafen in die Stadt fahren, ist die längste Straße der Welt: 1 600 Kilometer lang, führt sie durch wilde Taiga und menschenleere Tundra bis nach Jakutsk. Sie ist auch die `härteste´ Straße der Welt, ab Ende der zwanziger Jahre erbaut, nur mit Hacken und Schaufeln; im Winter knackende Fröste bis minus 60 Grad, vereiste Gebirge bis 2 000 Meter Höhe; im Sommer lästige Mückeninvasionen. Im Februar 1931, als die Straße noch längst nicht fertig war, kam ein Hilfeschrei aus der Taiga. Die Nahrungsmittel für die Arbeiter der Goldtagebaue gingen zur Neige. Aus fünfhundert Kilometer entfernten Vorratslagern am Ufer der Nagajewbucht wurde ein Pferdeschlitten mit Lebensmitteln losgeschickt. Doch er erreichte nicht sein Ziel, blieb verschollen. Da rüstete man zwei Traktoren mit angehängten Schlitten aus. Wieder fanden sich Menschen, die sich freiwillig auf den lebensgefährlichen Weg machten. Nach 87 Kilometern verschwand der erste Traktor mit fünf Schlitten unter dem Eis der Chasyn. Ein zweiter Traktorenzug kam nur bis zum Karakumenaer Pass, dann verwehrten ihm vier Meter hohe Schneewehen die Weiterfahrt. Da unterbrachen die ohnehin schwer geplagten Straßenarbeiter ihre Arbeit. Zehn Tage lang schaufelten fünfzig Männer jeweils vier Stunden lang bis zur Erschöpfung die Schneeberge weg. Dann endlich war die eisige Wand durchbrochen, und der zweite Traktorenzug konnte weiterfahren. Zwei Tage später funkten die von Schnee, Kälte und Hunger geplagten Goldgräber dankbar: `Lebensmittel sind angekommen. Danke.´ Bis heute ist die Kolyma-Trasse die Lebensader des Magadaner Gebietes, denn noch gibt es hier keinen einzigen Meter Eisenbahnlinie. Doch Schienen werden immer nördlicher verlegt, schon ist nach der BAM (Baikal-Amur-Magistrale) die JAM (Jakutische Magistrale) geplant, und bis zum Jahre 2000 soll eine Eisenbahnstrecke bis zum Beringmeer führen. Bis jetzt aber müssen noch 90 Prozent der Güter, in Häfen des Nördlichen Seeweges ausgeladen, auf der Kolyma-Trasse weiterbefördert werden und: das Gold der zehn Magadaner Goldtagebaue.

Der Autotransport ist hier wie Eisenbahnverkehr organisiert: Alle hundert Kilometer befindet sich statt eines Bahnhofs ein Dispatcherpunkt mit Reparaturwerkstatt und medizinischer Betreuung. Die Trassenfahrer müssen sich dort melden, erhalten die neuesten Wetterinformationen, Route und Fahrplan bestätigt und werden - unter Umständen - ins Bett gesteckt. Die medizinische Betreuung, das Essen, die Kleidung zum Wechseln und die Übernachtung sind kostenlos. Auch wenn der Fahrer ruht, der Motor arbeitet. Tag und Nacht ohne Pause, eine Zerreißprobe für die Technik. Denn stünde der Motor auch nur eine viertel Stunde still, wäre er bei minus 50 oder 60 Grad garantiert eingefroren.

War die Kolyma-Trasse für die Erbauer hart, so ist sie es im acht Monate währenden Polarwinter nicht minder für die Fahrer; so manchen Abschnitt bewältigt man lieber im Schritttempo. Wegen der Gefährlichkeit der Trasse müssen immer wenigstens zwei Wagen gemeinsam auf Fahrt gehen. Bei einer Havarie ist Reparatur auf der Strecke untersagt. Die Fahrer steigen jeweils um und holen Hilfe vom nächsten Dispatcherpunkt. Sechsmal am Tag zählen die Dispatcher die Lastwagen und melden sie per Funk weiter. Kommt ein Wagen zur vorausberechneten Zeit nicht an, wird Alarm ausgelöst.

Die Kolyma-Fahrer sind als `Ritter der Trasse´ im ganzen Sowjetland berühmt.

Unsere Fahrt auf der legendären Kolyma-Trasse dauert ganze vierzig Minuten, dann präsentiert sich Magadan als ganz und gar moderne Großstadt.

Wir dürfen uns im Hotel ein einziges Stündchen ausruhen, dann geht´s schon gleich - bei immerhin 15 Wärmegraden im August - an die Besichtigung der nördlichsten Gebietshauptstadt.

Als Magadan in den dreißiger Jahren als `Goldstadt´ gegründet worden war, schrieb die `New York Times´, dass dieser Stadt ganz sicher das gleiche Schicksal wie der kanadischen Großstadt Dawson beschieden sei. Dawson, das war einmal die `Hauptstadt´ des Goldes, zur Zeit des letzten ´klassischen´ Goldrausches, als in Nordkanada und Alaska Gold entdeckt worden war. Im Jahre 1898 bewegte sich ein Zug von etwa hunderttausend Goldhungrigen von der Küste zu den Fundorten am Klondike. Der Weg über den Chilkoot-Pass und am Yukon entlang bis nach Dawson war lang, schwer und voller Gefahren. Man nimmt an, dass höchstens vierzigtausend Menschen das Ziel erreicht haben. Kalifornien und Australien hatte das Gold zu wirtschaftlichem Aufstieg verholfen. In den weitentlegenen arktischen Regionen war es anders. Sobald die Goldfelder versiegt waren, versanken diese Gebiete wieder in Vergessenheit. Dawson, das Zentrum des Yukon-Territoriums von Kanada hatte 25 000 Einwohner. Heute leben dort 750 Menschen.

Für Magadan aber traf die Prophezeiung der `New York Times´ nicht zu. Magadan ist heute eine quirlige Großstadt mit fast zweihunderttausend Einwohnern. Hier arbeiten gegenwärtig mehr Ärzte, Ingenieure und Lehrer als in jeder vergleichbaren Stadt der nordamerikanischen Staaten. Umfragen im Gebiet Magadan haben ergeben, dass jeder fünfte der vierhunderttausend Einwohner für immer hierzubleiben gedenkt. Erfreulich. Und teuer. Um einen einzigen Menschen im hohen Norden sesshaft zu machen, wendet der Staat fünfundzwanzigtausend Rubel auf.

Neben modernen auf granithartem Frostboden errichteten fünfstöckigen Steinhäusern sehen wir auch das alte Holzhütten-Magadan direkt am Meer. An dessen Sandstrand sonnen sich heute bei für nördliche Verhältnisse selten hochsommerlichem Wetter viele Magadaner. Baden gehen allerdings nur Tollkühne, denn das Ochotskische Meer wird nie wärmer als sieben Grad Celsius. `Bald werden sich alle ins Wasser wagen können´, behauptet Grigori Kumbadse, denn: `Meereswasser soll durch eine schmale Schleuse in flache Teiche abgelassen werden, wo es auf Badetemperatur erwärmt wird. Wo sollen die Kinder denn sonst schwimmen lernen? Die niedrigen Wassertemperaturen sind ja der Grund dafür, dass keiner von den Einheimischen schwimmen konnte, auch kein einziger Meerestierjäger.´

Städtebaulich hat man mit Magadan einiges vor. Damit jeder, der hier bleiben will, wenigstens fünfzehn Quadratmeter komfortablen Wohnraum erhält, gibt es einen Generalbebauungsplan. Jährlich werden hunderttausend Quadratmeter Wohnraum gebaut. Nur die Hälfte allerdings ist Zuwachs, mit der anderen Hälfte wird der Abriss ganzer Straßenzüge ersetzt - Krieg den Hütten. Viele Architekten sehen jedoch nach wie vor Holz als wichtigsten Baustoff des Nordens an. Steinhäuser weisen immerhin dreimal mehr Wärmeverluste auf. Und so gibt es auch schon Projekte für zehngeschossige Häuser aus Holz.

Bis ins Detail haben Magadans Planer die widrigen Klimabedingungen in ihre Überlegungen einbezogen. Die neuen Viertel sind terrassenförmig angelegt, lange Häuserreihen im Neubaugebiet an der Nagajewbucht sollen die Wucht des Seewindes brechen. Die Wohnhäuser werden abgerundete Ecken haben, wohldurchdachter zusätzlicher Schutz gegen den unablässig wehenden rauen Wind. Die Erdgeschosse der Häuser sind zur Unterbringung von Schlitten, Skiern und Stiefeln vorgesehen; zu jeder Wohnung gehört ein belüfteter Schrank zum Trocknen von Wäsche und Oberbekleidung. Außerdem sind große Treppenflure und Korridore projektiert - Kommunikationszentren mit Cafés und Gaststätten. Ohne sich bei unwirtlichen Temperaturen auf die Straße begeben zu müssen, kann jeder, der will, Mensch unter Menschen sein. Auch über die Farbigkeit der Wohnungen hat man sich Gedanken gemacht. Die Natur ist in Magadan nicht gerade farbenreich, vor allem natürlich nicht in der Zeit des langen Winters. Da sich diese farbliche Eintönigkeit auf die menschliche Psyche auswirken kann, wird hier ein kräftiges Rot, Blau oder Grün bei Häuserfassaden und Zimmertapeten dominieren - ganz im Sinne unseres Grigori Kumbadse. Er nimmt das geplante Grell der Fassaden gleich zum Anlass, uns über die Gefährlichkeit der Farbe Weiß die Augen zu öffnen. (Seinen alten Bekannten hat er da sicherlich schon nichts Neues mehr zu sagen.) `Gesund lebt nur´, sagt er im Brustton der Überzeugung, `wer alles Weiße in der Nahrung meidet: Milch, Käse, Butter, Zucker...´ - `Und Wodka´ frage ich scheinbar arglos. `Auch Wodka´, bleibt Grigori Kimbades konsequent. (Wie wir bald merken werden, hat er gegen die Farbe Braun nichts einzuwenden.) Im sommerlichen Magadan weisen dich auf den ersten Blick nur die Häuser auf Pfählen - die `Luftkissenhäuser´ und die durchweg vom Sturm geköpften Lärchen darauf hin, dass du durch eine Stadt des hohen Nordens schlenderst. Frost multipliziert mit der Sturmstärke ergibt die Strenge des Klimas. So haben Wissenschaftler für die verschiedenen nördlichen Gebiete unterschiedliche Rauheitsgrade ermittelt. Der Autonome Bezirk der Tschuktschen - nördlichstes Territorium des Magadaner Gebietes - gilt als die unwirtlichste Gegend des gesamten hohen Nordens. In der Stadt Magadan liegt die Durchschnittstemperatur im Januar bei minus 34 Grad, die durchschnittliche Windgeschwindigkeit beträgt zwölf Meter je Sekunde. In den westlichen Landesteilen schließen bei solchem Mordswetter die Schulen, wird auf Tagebauen und Baustellen die Arbeit eingestellt. Kein Leben mehr unter freiem Himmel. Nicht so im hohen Norden, wo die Technik weit härteren Bedingungen angepasst ist. Und der Mensch?

Da weiß unser Farbapostel Erstaunliches zu sagen: `Der Kaukasus ist als Land der Langlebigen weltbekannt. Aber wer weiß schon, dass von dem eisigen Jakutien zu Recht der zweite Platz beansprucht wird? Die Besonderheiten der nördlichen Natur veranlassen unseren Organismus zu einer Arbeit mit höheren Drehzahlen. Sowohl in unserem Nervensystem als auch in unserem Herz- und Gefäßsystem vollziehen sich Veränderungen, auch das Atmungssystem stellt sich um. In Gegenden mit extrem rauem Klima erreicht der Mensch bestimmte Grenzwerte der Auslastung. Die Folge ist eine größere Widerstandsfähigkeit des Organismus. Ich kenne einen Polarmediziner, der die Meinung vertritt, dass es schon bald eine neue Kur- und Erholungszone in der Sowjetunion geben wird: die Polarzone - für die Behandlung von Stress und anderen Begleiterscheinungen des Stadtlebens.´ Sanatorien im hohen Norden. Ein aufregender Gedanke. Doch wir mit unserem unangepassten Organismus sind fürs erste froh, in der `Komfortperiode´ im hohen Norden zu sein."

 

Was ich damals wusste: Seit der russischen Eroberung des Fernen Ostens im 17. Jahrhundert vermutete man reiche Bodenschätze in der Kolyma-Region, dem Gebiet zwischen Lena und Pazifischem Ozean. Die ersten Geologen kamen über die klassische Eroberungsroute entlang der Lena nach Jakutsk. Von dort konnte man im Winter per Schlitten weiterreisen. Somit dauerten Reisen, die lediglich die grobe Erkundung der Gegend zum Ziel hatten, oft viele Jahre. Mit Fertigstellung der Transsibirischen Eisenbahn  ergab sich eine zweite Anreisemöglichkeit, die gerade für das Erreichen des östlichen Kolyma-Gebietes, erhebliche Zeitersparnis bedeutete. Diese Zeitersparnis nutzten nicht nur die zum Erforschen der Bodenbeschaffenheit beschäftigten Wissenschaftler, sondern auch die Organisatoren von Gefangenentransporten.

*

Was ich damals nicht wusste: Galt die im zaristischen Russland ausgesprochene Verbannung von "Staatsfeinden" oft nur bis Mittelsibirien – was trotzdem viele Wochen Fußmarsch bedeutete – so hatte die stalinistische Sowjetunion eine Möglichkeit gefunden, mittels der Transsibirischen Eisenbahn bis Wladiwostok und der anschließenden Schiffspassage nach Magadan, Tausende von Gefangenen relativ schnell bis in die Kolyma-Region zu bringen. Um bis zu den Bodenschätzen zu gelangen, musste man eine Straße anlegen, die sogenannte Kolyma-Trasse. Aus wie vielen Nationen und Völkerschaften die Gefangenen kamen, die unter unmenschlichen Bedingungen in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts die Straße bauten und sie bis in die fünfziger Jahre in Ordnung hielten, ist unbekannt. Ebenfalls unbekannt ist, wie viele Menschen beim Bau der Straße und in den Lagern zu Tode kamen. Man sagt, dass auf der gesamten Länge von etwa zweitausend Kilometern unter der Straße etwa alle drei Meter eine Leiche liegt, deshalb auch "Straße der Knochen" genannt.

 

Verse einer Wilden (LESEPROBE aus "Diesseits und jenseits des Polarkreises")

„Die Sehnsucht nach dem fernen Tschuktschenland hatte Juri Rytchëu, der erste Schriftsteller der Tschuktschen, in mir geweckt. In seinen Büchern `Traum im Polarnebel´, `Menschen an fremdem Gestade´ und `Abschied von den Göttern´ hat er sein Volk so liebenswert beschrieben, dass ich mir als Fünfzehnjährige vornahm, eines Tages die `Am Rande der Welt´ lebenden Tschuktschen kennenzulernen.

Nun – ich bin dreiundvierzig Jahre alt - ist dieser Tag da.

In Magadan öffnet sich uns die erste Tür. Wir sind Gäste Antonina Kymytwals, der ersten Dichterin der Tschuktschen.

Man bittet uns ins Wohnzimmer: ein großer Ausziehtisch (`Wir haben oft Gäste.´), vier Stühle, eine Couch, zwei Sessel, ein großer verglaster Bücherschrank, ein Radiogerät, ein Fernsehapparat. Nur Kleinigkeiten, die es erst ausfindig zu machen gilt – Figürchen aus Walrosselfenbein, `Bilder´ aus Robben- und verschiedenfarbigen Rentierfellen, Bücher in tschuktschischer und eskimoischer Sprache -, erinnern dich daran, dass du in einem Haus hinter dem Polarkreis bist. Die Inneneinrichtung der 3-Zimmer-Wohnung – Wohnzimmer, Schlafzimmer, Kinderzimmer – unterscheidet sich nicht von der Innenausstattung einer mitteleuropäischen Wohnung. Das Besondere ist lediglich, dass sie auf ungewöhnlichem Weg - dem Nördlichen Seeweg - hierher gelangt ist. Auf dem gastfreundlich reich gedeckten Tisch neben Rentierzunge, geraspeltem rohem Fleisch, eingelegtem Walfleisch (Geschenk von Verwandten aus Tschukotkas Hauptstadt Anadyr) durchaus Gewohntes: Brot, Butter, Wurst, Eier, Bratkartoffeln. Das Gewohnte wird nur dadurch ungewöhnlich, dass diese Lebensmittel noch vor etwa fünfzehn Jahren auf Tschukotka unbekannt waren.

Die Tschuktschin Antonina Kymytwal hat tiefschwarzes Haar (wie alle Tschuktschen), dunkelbraune Augen, ein ganz waches, schönes Gesicht. Die Augen sind asiatisch schmal, die Nase tschuktschisch breit, sie hat auffallend energisch geschwungene Lippen. Das großgeblümte, sehr grellfarbige Kleid umhüllt einen fülligen Körper. (`Ich sitze und – esse zuviel.´)

Antonina Kymytwal wurde 1938 als Tochter eines Rentierhirten geboren, in der Tschaunskaja-Tundra, in einer Jaranga aus Rentierfell. Acht Jahre zuvor war der Autonome Bezirk der Tschuktschen gegründet worden. Aber noch immer versprach man seine Töchter den Eltern altersmäßig geeigneter Knaben. Auch Antonina Kymytwal

Als sie auf die Welt kam, war die tschuktschische Schriftsprache gerade erst sieben Jahre alt. Ins ferne Tschuktschenland gelangte das von russischen Wissenschaftlern ausgearbeitete Alphabet auf dem Eisbrecher `Litke´, dem zweiten Schiff, das den Nördlichen Seeweg ohne Überwinterung in einer einzigen Navigationsperiode bewältigt hatte.

Europa und Asien waren sich näher gekommen.

Ganz nahe kamen sie sich in der Magadaner Gagarinstraße, als Antonina Kymytwal 1960 einen Russen heiratete. Es war Liebe auf den ersten europäisch-asiatischen Blick, da Vitali Sadorin als Redakteur einer Zeitung für Rentierzüchter unterwegs in der Tundra, der Lehrerin Antonina Kymytwal begegnete. Sie riskierte den Bruch mit der Familie, als sie sich an den zweiundzwanzig Jahre zuvor für sie Bestimmten nicht gebunden fühlte. Nur schwer fanden sich ihre Angehörigen damals mit einem Tatbestand ab, der zwei Jahrzehnte später auch im hohen Norden schon Alltag ist: Jede siebente Ehe wird in sowjetischen Zeiten zwischen Personen verschiedener Nationalität geschlossen, auf den Komsomol-Großbaustellen ist sogar jede zweite Ehe national gemischt. Da die Kinder aus diesen Ehen mit sechzehn Jahren selbst bestimmen, ob sie die Nationalität des Vaters oder die der Mutter annehmen wollen, frage ich die beiden Töchter der Familie Kymytwal-Sadorin – die Bestschülerin Ljuba und den Wildfang Nastja – ob sie einmal Russinnen oder Tschuktschinnen sein wollen. Es ist für beide keine Frage, sie werden Tschuktschinnen sein. Und Vater Sadorin sagt dazu lachend: `Ich bin auch schon ein richtiger Tschuktsche geworden, nur sieht man es mir äußerlich nicht an.´

1963 erschien Antoninas erster Lyrikband „Lieder des Herzens“, zweisprachig – tschuktschisch und russisch – in einer Auflage von vierzigtausend Exemplaren. Es folgten Bücher mit Versen für Kinder und weitere Lyrikbände für Erwachsene; sie schrieb auch Theaterstücke. Wir bitten Antonina Kymytwal, uns einige Gedichte vorzulesen – geschrieben in der Tschuktschensprache. Ein Professor Egli hatte diese Sprache 1882 geringschätzig als ein `Mittelding zwischen Entengeschnatter, Rentierröcheln und Hundegebell´ beschrieben. Wir lauschen der kehligen Tschuktschensprache mit Vergnügen – bei geräuchertem Rentierfleisch und schwarzem Tee (für den die Tschuktschen einst ihre letzte Kuchljanka – die durchgehende Fellbekleidung – hergaben). Bei vielen Worten machen die Tschuktschen einen phonetischen Unterschied, je nachdem, ob die Worte ein Mann oder eine Frau spricht. Obwohl Antonina Kymytwals Gedichte in einer ganz fremden, ungewöhnlichen Sprache an mein Ohr dringen, erscheinen sie mir zart und weich, zum Beispiel im Gedicht:  

Die Uhr / Die Uhr blieb stehen. Kein Zustand! / Einen Ausweg finde ich schnell, / Vorwärts, zurück – wie´s kommt – / Wird der Zeiger gestellt. // Meine Uhr bleibt nicht müßig, / An die Arbeit macht sie sich neu. / Sekunden knacken wie Nüsse / Wird sie eifrig im Einerlei. // Mutter, deines Lebens Zeiger / möchte ich zurückdrehen sacht, / Dass langsam, behutsam, leise / Sie neu gehen übers Zifferblatt.// Heiterer würdest du blicken… / Fester würde der Rücken und grad, / Und die Netze der Falten dünner, / Und das graue Haar wieder schwarz. // Doch das Jahrhundert mahlt Tage wie Körner. / Irgendwohin treibt die Jahre die Zeit. / Nur die Liebe ist imstande, anzuhalten / Ihren Gang bis zur Unendlichkeit…//

Nachdichtung: Jeremias Weinstock 

Die tschuktschische Lyrikerin Antonina Kymytwal mit ihrem russischen Mann Vitali und den beiden Töchtern Ljuba und Nastja.

Foto: Detlev Steinberg

 

Antonina Kymytwal besingt die Tundra, ihre Bewohner, die `Wärme und Licht ausstrahlen´, Tschukotka, `wo jede Begegnung ein Glücksfall´ und die Luft Freude spendend und `rein wie ein Puschkinscher Vers´ ist.

Jahrhunderte lang wurden die Tschuktschen von Forschungsreisenden, Pelzhändlern, Schiffbrüchigen… als `roh´ und `wild´ charakterisiert. Die mandeläugige Asiatin Antonina Kymytwal ist mir in den wenigen Stunden unserer Bekanntschaft so vertraut geworden, dass ich keine Hemmungen habe, ihr auch unangenehme Fragen zu stellen.

Ja, bestätigt sie, die Tschuktschen haben früher ihre alten, kranken Eltern umgebracht – `damit sie zu den ´oberen Menschen´ gehen konnten, ohne sich lange quälen zu müssen´.

Ja, so Antonina Kymytwal, es entspricht durchaus der Wahrheit, dass die Tschuktschen oft ihre neugeborenen Töchter erwürgten - `wenn unweit kein gleichaltriger Knabe lebte, schon gleich zu ihrem Ernährer bestimmt.´.

Ja, so Antonina Kymytwal, die Tschuktschen wuschen sich fast nie – religiöse Riten verboten das, `vielleicht, weil es bei unserer Lebensweise in dieser unbeschreiblichen Kälte zu lebensgefährlichen Erkrankungen und Erfrierungen hätte kommen können.´

Ja, so Antonina Kymytwal, die Tschuktschen bevorzugten wie die asiatischen Eskimos rohes Fleisch und rohen Fisch – `weil es – über eine Moosfunzel gekocht – viele Stunden gedauert hätte, bis es endlich gar gewesen wäre´.

Hatten die Fremden ihren Abscheu vor dem Unbekannten überwunden, fanden sie oft sogar Gefallen daran. So schreibt der amerikanische Publizist George Kennan, der im Auftrag der Russisch-Amerikanischen Telegraphen-Gesellschaft (sie sollte von Alaska nach Sibirien Telegraphendrähte spannen) von 1865 bis 1868 Nordostasien bereiste: `Was ich für Hobelspäne gehalten hatte, waren rohe, gefrorene Fische, die geraspelt eine Delikatesse sind, mit der ich später sehr vertraut wurde…´

"Gegenwärtig gibt es auf Tschukotka außer der Dichterin Antonina Kumytwal leider keine weiteren bemerkenswerten literarischen Erscheinungen."

Juri Rytchëu(tschuktschischer Schriftsteller, 1930 bis 2008;

in über 30 Sprachen übersetzt), 1995

Besonders hart stimmt aus zivilisierter Welt der einstige Vorwurf, dass die Tschuktschen teilnahmslos zusehen können, wenn ihre Stammesbrüder verhungern – `dann nämlich´, so Antonina Kymytwal, `wenn sie bereits selbst vom Hungertode gezeichnet waren´.

Und das waren die `wilden´ (sprich: auf niedriger Kulturstufe stehenden) Tschuktschen oft, in fast jedem Frühjahr, wenn die Vorräte zur Neige gingen, aber der ‚Winter kein Ende nehmen wollte´.

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts starben ganze Niederlassungen auf Tschukotka aus, als die auf unbestritten höherer Kulturstufe stehenden Niederländer, Deutschen, Engländer, Franzosen, Amerikaner… den Wal `wie die Wilden´ nahezu ausgerottet hatten.

Die `wilden´ Tschuktschen – die mindestens vier verschiedene Worte für `Freundschaft´ besitzen, kein Wort aber, das unserem Wort `Krieg´ entspräche – töteten nie mehr Tiere, als sie für sich und die Ihren benötigten.

Die erste Flasche mit dem `Getränk aus der goldenen Wurzel*´ sei leer geworden beim Gespräch über die Tschuktschen, sagt Witali Sadorin, die zweite mögen wir bitte gemeinsam leeren bei einem Gespräch über die Deutschen. (…) Aus der dritten Flasche nehmen Antonina Kymytwal und ich – es ist nun schon weit nach Mitternacht nur noch einen symbolischen Schluck. Wir trinken vor Freude darüber, in allerletzter Minute noch von einander erfahren zu haben, das `meine erste leibhaftige Tschuktschin´ dem gleichen Hobby frönt wie ich: Wir sammeln beide Sprichwörter der Völker der Sowjetunion.

 

Diese zehn noch unveröffentlichten tschuktschischen Sprichwörter, schnell noch von mir notiert, sind ein Geschenk an mich, denn auch der Tschuktschin Antonina saßen heute Deutsche erstmalig leibhaftig gegenüber.

 

Das Glück kommt nur zu dem, der ihm entgegengeht.

Schlecht der Alte, der keinen Jungen auf seinen Pfad führt.

Die Not fragt nicht danach, was für Wetter ist.

Fürchte die Schande mehr als den Frost.

Gute Nachrichten sind keine Last für den Schlitten.

Nur den Einsamen macht unser Wind frieren.

Mach dir nichts Überflüssiges zu Eigen.

Ohne Licht und Wärme ist der Mensch wie ein Seehund ohne Luft.

Zu frohen Menschen kommt der Erfolg eher.

Jeder Schneesturm hat seine Eigentümlichkeiten, ebenso wie die Menschen.“

 

* Was bedeutet die "goldene Wurzel“? Berühmt für ihre Kräuter sind das Tunka-Tal und das Sajan-Gebirge in Ostsibirien. Geradezu berühmt ist hier ein Verwandter der Ginseng-Wurzel: die Goldwurzel, ihr wird aphrodisische Wirkung zugeschrieben.

 

"Bekenntnisse" des hohen Nordens (LESEPROBE aus "Diesseits und jenseits des Polarkreises")

 

"Am Pädagogischen Hochschulinstitut Magadans sind Aufnahmeprüfungen. An vier Fakultäten (eine physikalisch-mathematische, eine historische, eine philologische und eine pädagogisch-mathematische Fakultät für die Unterstufe) studieren jährlich zweihundertfünfzig junge Leute, vorrangig Vertreter der Völker des hohen Nordens, die im Gebiet Magadan ansässig sind, von alters her Tschuktschen und asiatische Eskimos.

Die Tschuktschen unterschieden sich entsprechend ihren Erwerbszweigen in Küsten-Tschuktschen - die am Meer wohnten und sich von der Meerestierjagd ernähren - und in Rentier-Tschuktschen - die in der Tundra leben und Rentiere züchten. Die Rentier-Tschuktschen waren zum Nomadenleben gezwungen, sommers und winters zogen sie mit ihren Rentieren und ihrem ganzen Hausrat von Weideplatz zu Weideplatz. Die Küsten-Tschuktschen waren sesshaft wie die asiatischen Eskimos, die sich etwa im 17./18. Jahrhundert mit den Küsten-Tschuktschen, mit denen sie sich denselben Lebensraum teilten, zu vermischen begannen; allerdings bewahrten die Eskimos viele ihrer Bräuche und auch ihre Sprache. Mitte des 19. Jahrhunderts begannen auch sie in Jarangas - einem Kuppelzelt aus Rentierfellen - zu leben. Bis dahin wohnten sie in Erdhütten, die in ihrer Sprache `Mytygak´ heißen; Iglus bauten die asiatischen Eskimos im Gegensatz zu den amerikanischen Eskimos nie. Die Eskimos erhielten ihren Namen (`Rohfleischesser´) von den Indianern; die Eigenbezeichnung der asiatischen Eskimos ist seit alters `yigyt´ (`wahrer Mensch´). Kein einziges zahlenmäßig so kleines Volk ist geographisch so weit verbreitet wie das Volk der Eskimos; 25 000 Eskimos leben in Kanada, 20 000 auf Alaska, 4 000 auf Grönland, 1 500 in der Sowjetunion. Man nimmt an, dass alle Eskimos einst Stammesbrüder waren, bis sie durch das Entstehen der Beringstraße getrennt wurden. Sprachforscher entdecken noch heute viele Ähnlichkeiten in den Sprachen aller Eskimos.

Doch zurück in den Prüfungsraum des Magadaner Hochschulinstituts. Gesetz des hohen Nordens ist, dass stets der angestammte Nordbewohner bevorzugt wird, wenn für einen Studienplatz mehrere Bewerber vorhanden sind. Für sie finden die Aufnahmeprüfungen ohne Konkurrenz statt, egal, wie sie bestehen, sie werden grundsätzlich immatrikuliert. An allen Fach- und Hochschulen stehen die Türen sperrangelweit offen für die Vertreter der Völker, die noch vor einem halben Jahrhundert glaubten, dass die Schrift nur `eine stumme Botschaft der Weißen´ sei.

Als in Anadyr der erste Sowjetkongress abgehalten werden sollte, war es ein Problem, alle Delegierten von Tschukotka an ein und demselben Tag zu versammeln; denn ein Kalender war den Einheimischen unbekannt. Und so fuhren die Veranstalter des Kongresses fast ein ganzes Jahr vorher zu allen Ortschaften, Niederlassungen und Rastplätzen, um den Delegierten zu erklären, wie sie den Tag des Kongresses berechnen konnten. Man schnitt gemeinsam Kerben in Stöcke und legte fest, wie viele Kerben `abgehakt´ sein mussten, bis man zum `Redefest´ aufzubrechen habe. Der gekerbte Stock war eine große Neuheit, denn Tschuktschen und Eskimos waren es gewohnt, alles an Händen und Füßen zu berechnen. Bei großen Zahlen holte man die Nachbarn um auch deren Finger und Zehen wie Rechenstäbchen zu gebrauchen. Allerdings gab es nur selten große Zahlen. Sogar für den Tauschhandel mit den Amerikanern reichten gewöhnlich die Finger einer Hand aus: ein Kupferkessel für zwei Fuchsfelle oder vier Rentierhäute; ein Beil für drei Fuchsfelle. Erstaunlich, dass die Rentierhirten, ohne je ihre Rentiere zu zählen, sofort bemerkten wenn auch nur ein einziges Tier fehlte.

Das alles ist noch kein halbes Jahrhundert her. Deshalb wollen wir von Raissa Ragschyschwal, verantwortlicher Sekretär für die Aufnahmeprüfungen, wissen, inwiefern sich tschuktschische und eskimoische Studienbewerber von den zugereisten Bewerbern unterscheiden. Raissa Ragschyschwal, seit acht Jahren am Institut´, sagt: `Die meisten unterscheiden sich nicht voneinander durch Kenntnisse und Leistungen, der Unterschied besteht im Charakter. Die Mädchen und Jungen der kleinen Nordvölker sind verschlossener, schweigsamer, bescheidener und sehr empfindsam. Die einen sind in der Stille der Tundra aufgewachsen, fernab von vielen Menschen, die anderen waren von klein auf in Internaten, nur selten bei ihrer Familie. Sie brauchen viel Zuneigung und wir viel Fingerspitzengefühl.´

Wir müssen leider `auf die Schnelle´ versuchen, einen Blick in ihre Seelen zu werfen. Bei einem Gesellschaftsspiel legte sich die Familie (Karl) Marx gegenseitig einen Fragebogen vor; die Beantwortung der Fragen sollte eine Art `Bekenntnis´ darstellen. Wir haben nur jenen Fragebogen ins Russische übertragen und ihn - die Aufnahmeprüfungen im Magadaner Hochschulinstitut nutzend - zwanzig Tschuktschinnen im Alter von 16 bis 18 Jahren vorgelegt. Die Antworten der zukünftigen Lehrerinnen:

Ihre (eigene) Lieblingstugend: Fröhlichkeit (15), Gerechtigkeitssinn (3), Fleiß (2); bei Karl Marx: Einfachheit.

Ihre Lieblingstugend beim Mann: Tapferkeit (12), Willensstärke (2), Standhaftigkeit (2), Frohsinn (2), Feingefühl (1), Optimismus (1); bei Karl Marx: Kraft.

Ihre Lieblingstugend bei der Frau: Güte (14), Zärtlichkeit (4), Bescheidenheit (1), Strenge (1); bei Karl Marx: Schwäche.

Ihre Haupteigenschaft: Schüchternheit (6), Unnachgiebigkeit (3), jedem die Wahrheit sagen (3), sich auf andere Menschen einstellen können (2), andere Menschen achten (2), Nachgiebigkeit (2), Beharrungsvermögen (1) Ehrgeiz (1); bei Karl Marx: Beharrlichkeit des Strebens.

Ihre Auffassung vom Glück: verstanden zu werden (9), anderen Nutzen zu bringen (4), seinen Platz im Leben zu finden (3), einen geliebten Menschen neben sich zu haben (3), zu leben (1); bei Karl Marx: zu kämpfen.

Ihre Auffassung vom Unglück: in der Not allein zu sein (8), von einem Freund verraten zu werden (3), einen geliebten Menschen zu verlieren (4), Misserfolg zu haben (2), eine schlechte Zensur zu bekommen (1), glauben, sich ducken zu müssen (1), der Umwelt gleichgültig zu sein (1); bei Karl Marx: Unterwerfung.

Das Laster, das Sie am ehesten entschuldigen: irren (15), Dummheit (2), Jähzorn (1), Neugierde (1), Zerstreutheit (1); bei Karl Marx: Leichtgläubigkeit.

Das Laster, das Sie am ehesten verabscheuen: Verlogenheit (10), Egoismus (4), Grausamkeit (4), Überheblichkeit (1), Feigheit (1); bei Karl Marx: Kriecherei.

Ihre Abneigung: Hat niemand beantwortet, wahrscheinlich war die Fragestellung nicht eindeutig genug formuliert; bei Karl Marx: Martin Tupper (ein zeitgenössischer Schriftsteller).

Ihre Lieblingsbeschäftigung: nähen, stricken, sticken (6), Sport (3), Beeren sammeln (3), Gedichte lesen (3), fotografieren (2), singen (2), fernsehen (1); bei Karl Marx: herumstöbern in Büchern.

Ihr Dichter: Alexander Puschkin (5), Antonina Kymytwal (5), Sergej Jessenin (3) Viktor Keulkut (2), Viktor Nekrassow (2), Rassul Gamsatow(1), Wladimir Majakowski (1), Soja Neuljumkina (1); bei Karl Marx: Shakespeare, Äschylus, Goethe.

Ihr Schriftsteller in Prosa: Juri Rytchëu (12), Boris Wassiljew (2), Maxim Gorki (1), Pjotr Proskurin (1) Wassili Schukschin (1), Tschingis Aitmatow (1), Nikolai Ostrowski (1), Alexander Fadejew (1); bei Karl Marx: Diderot.

Ihr Held: Pawel Kortschagin (8), Alexander Matrossow (5) Rachmetow (3), John Lennon (2), Eugen Onegin (2); bei Karl Marx: Spartakus, Kepler.

Ihre Heldin: Soja Kosmodemjanskaja (10), Natascha Rostowa (3), Gestalten aus tschuktschischen Märchen und Sagen (7); bei Karl Marx: Gretchen.

Ihre Blume: Vergissmeinnicht (5), Kamille (5), Rose (4), Schneeglöckchen (2), Kornblume (1), Gladiole (1), Nelke (1), Aster (1); bei Karl Marx: Lorbeer.

Ihre Farbe: Blau (18), Grün (1), Rot (1); bei Karl Marx: Rot.

Ihr Lieblingsname: Alexander (3), Wladimir (3), Irina (3), Olympiada (2), Swetlana (1), Sergej (1) Wassili (1)Tatjana (1), Aljoscha (1) Valentina (1) Kostja (1), Shenja (1), Igor (1); bei Karl Marx: Laura, Jenny.

Ihr Lieblingsgericht: Rentierfleisch (7), Fischsuppe (2), Pelmeni (2), alle Tschuktschenspeisen (4), Bratkartoffeln (1), Kartoffelbrei (1), Kartoffeln mit Spiegelei (1), eingelegte Pilze (1), Eier in Mayonnaise (1); bei Karl Marx: Fisch.

Ihre Lieblingsmaxime: Einer für alle, alle für einen! (5), Nicht glimmen, sondern brennen (2), Dort sein, wo es schwierig ist! (2), Lieber weniger aber besser! (2) Ein gestecktes Ziel niemals aufgeben! (2) Gesagt - getan" (1), Nicht weichen! (1), Kein Blatt vor den Mund nehmen! (1), Der Wahrheit ins Auge sehen! (1), Lernen, lernen und nochmals lernen! (1), Nie auf der Stelle treten! (1), Vorwärts, immer nur vorwärts! (1); Bei Karl Marx: Nicht Menschliches ist mir fremd.

Ihr Lieblingsmotto: Auch bei Sturm fest auf den Beinen stehen! (2) , Kämpfen, suchen, finden und nicht aufgeben! (2) Lerne, dich zu beherrschen! (2), Hast du ein Werk begonnen, führe es tapfer zu Ende! (2), Keinen Schritt zurück! (1), Nie auf der Stelle treten! (1), Verzweifle niemals! (1) Bei Karl Marx: An allem ist zu zweifeln.

Sind diese zwanzig Antworten auch nicht repräsentativ für 14 000 Tschuktschen, so sind sie doch ein interessantes Spiegelbild: ausschließlich russische Lieblingsnamen... Blau die Farbe des Himmels und des offenen Meeres, die Lieblingsfarbe im weiten, meist weißen Tschuktschenland! Beeren sammeln - eine bei uns (leider) nahezu ausgestorbene Lieblingsbeschäftigung! Als Lieblingsspeisen auch Eier und Kartoffeln - Lebensmittel, die die Tschuktschen früher nicht einmal vom Hörensagen kannten. Bemerkenswert auch, dass die jungen Tschuktschinnen die Verse der einheimischen Lyrikerin Antonina Kymytwal und die des russischen Poeten Alexander Puschkin gleichermaßen lieben."

 

Alphabetisierung mit Problemen: Bereits in den zwanziger Jahren wurde intensiv daran gearbeitet, Schriftsprachen für die meisten indigenen Völker der Sowjetunion zu schaffen. Mancherorts wurde der Analphabetismus innerhalb kurzer Zeit beträchtlich verringert. Dann fiel auch das Bildungssystem dem Stalinismus zum Opfer. Ab 1937 mussten per Dekret alle Sprachen mit kyrillischem Alphabet geschrieben werden, auch solche, deren Phonetik diesem Alphabet nicht entsprach. Sprachwissenschaftler, die mit eigens den Sprachen angepasstenAlphabeten gearbeitet hatten, wurden als Volksfeinde verhaftet. Ab 1957 konnten Lehrer bestraft werden, wenn sie außerhalb des muttersprachlichen Unterrichts an Schulen in der Sprache des einheimischen Volkes redeten. Um 1970 wurde als einzige der 26 Minderheitensprachen nur noch die Sprache der Nenzen im Schulunterricht verwendet. - Auch das System der Internatsschulen - gut gedacht ! - hatte stark negative Konsequenzen. Ursprünglich dafürgedacht, Nomadenkindern die Möglichkeit des Schulunterrichts zu bieten, wurde es nach und nach leider auf alle Kinder angewendet, auch auf die sesshaften. Mit 16 Jahren kamen diese Kinder dann wie Fremde und ohne kulturelle Bindung an ihr Volk zu ihren Familien zurück. Dieses System wird heute nicht mehr praktiziert, aber der angerichtete Schaden ist groß; denn nicht mehr viele Tschuktschen wollen den außerordentlich schweren Beruf des Rentierzüchters ausüben.

 

Kartoffeln auf ewigem Frostboden (LESEPROBE aus "Diesseits und jenseits des Polarkreises")

 

"Nachdem wir von Magadan aus etwa zwanzig Kilometer mit dem Auto über kargen Tundraboden geholpert sind, stehen wir plötzlich vor einem unübersehbar großen Feld: Pflanzen mit kräftigen dunkelgrünen Blättern, hier und dort durchbricht eine weiße oder hellviolette Blüte mit gelbem Kelch das tiefe Grün. Ein lieblicher Anblick inmitten scheinbarer Trostlosigkeit. Ich erfreue mich daran, bis mich Grigori Kumbadse darauf aufmerksam macht, dass es sich bei den von mir so andächtig betrachteten Pflanzen um Kartoffeln handelt.

(Klein-)Laut erwidere ich, dass die Kartoffel immerhin eine alte Kulturpflanze ist und auch einmal als Zierpflanze verbreitet war. Insgeheim nehme ich mir vor, nie mehr achtlos vorüberzugehen an den Kornblumen am Feldrain, den Gänseblümchen auf der Wiese, den Butterblumen am Wegesrand...

Mark Tatarstschanow, Wissenschaftler des Landwirtschaftlichen Forschungsinstituts in Ola, hat indes einen Kartoffelstrauß für mich gepflückt und überreicht ihn mir mit Handkuss und einer Geste, als würde er mir im Smoking langstielige Rosen verehren. Alle lachen, und ich darf das nördliche Nachtschattengewächs auch weiterhin schön finden. Und wie schön, denn Mark Tatarstschanow lässt gleich eine Kartoffellektion folgen: `In Ihrem Land können Sie ja dieser Pflanze auf Schritt und Tritt begegnen. Aber bei uns? Noch bis vor etwa fünfzehn Jahren hielt man den Anbau der Kartoffel im Magadaner Gebiet für unmöglich. Die angestammten Völker des hohen Nordens kannten dieses Nahrungsmittel überhaupt nicht, und wir `Zugereisten´ mussten uns mit eingeführten Trockenkartoffeln begnügen. Nun hat unser Institut nach vielen Probejahren Sorten entwickelt, die in der kurzen Vegetationsperiode - von Juni bis maximal 20. September - reifen. Das hier ist ein Versuchsfeld. Sie sehen, dass alle paar Meter eine andere Sorte gepflanzt ist. Bis jetzt kann nur 0,01 Prozent des Magadaner Gebietes landwirtschaftlich genutzt werden. Trotzdem decken wir bereits 35 Prozent des Kartoffel- und 80 Prozent des Kohlbedarfs unserer Bevölkerung.´

Wir wünschen Mark Tatarstschanow, dass auch der Norden bald ausreichend Kartoffeln haben möge, `die wichtigste Frucht für hoch und niedrig, reich und arm (`Der Ratgeber´, 1907)

Als wir zum landwirtschaftlichen Ausbildungssowchos `Technikum´ weiterfahren, denke ich darüber nach, was eigentlich `Norden´ ist. Kaukasus, Mittelasien..., da weißt du, woran du bist. Aber Norden? Gar hoher Norden?

Zu Beginn seiner Erschließung betrachtete man den Norden lediglich als eine Himmelsrichtung, die besonders dicke Kleidung erfordert. doch schon bald löste der Begriff Norden hitzige wissenschaftliche Diskussionen aus. Die erste Lehre, dass der Norden nicht nur schlechthin geographisch Norden ist, erteilte der ewige Frostboden den Menschen - indem er im Sommer, wenn der Boden ein bis zwei Meter auftaut, die Straßen regelrecht in die Erde versinken und die konventionell gebauten Gebäude wie Kartenhäuser zusammenstürzen ließ. Wirtschaftsgeographen machten sich damals daran, eine Definition für `Norden´ zu suchen. Nachdem sie sich die Köpfe heiß geredet hatten, bezeichneten sie als Norden die Ödflächen nördlich und östlich der wirtschaftlich entwickelten Gebiete. Doch da waren inzwischen schon weitere Flächen längst kein Ödland mehr...

Eine neue Definition musste her. Man einigte sich, solche Regionen Norden zu nennen, deren Klima weder Weizen, Roggen noch Hafer gedeihen lässt. Doch da experimentierte man im Kolymagebiet bereits mit besonderen Hafersorten, und auf der Tschuktschen-Halbinsel gedieh schon der erste nördliche Kohl.

Indem die Menschen unentwegt Unmögliches möglich machten, wurde Definition um Definition verworfen. Mir scheint die Überlegung meines Journalistenkollegen Murad Adshijew richtig zu sein. `Als Norden´, schreibt er, `ist jene Region anzusehen, wo für Menschen und Maschinen ein höherer Energieaufwand erforderlich ist als in anderen Landesteilen. Um leben zu können, verbrauchen die Menschen Energie. Je kalorienreicher die Nahrung, desto mehr Energie: Treibstoff und Elektroenergie. Geht man von Moskau aus langsam nach Norden und vergleicht dabei die einzelnen Gebiete miteinander, so kann man eine Grenze ermitteln, hinter der ein deutlichrer Anstieg des Energiebedarfs von Mensch und Maschine zu erkennen ist. Ab hier also beginnt der Norden, beginnen jene eigenartigen und ungewohnten Gebiete, in denen alles anders ist.´

Die sechsundzwanzig angestammten Völkerschaften des hohen Nordens - die Alëuten, Chanten, Dolganen, Enzen, Eskimos, Ewenen, Ewenken, Itelmenen, Jakuten, Jukagiren, Keten, Korjaken, Mansen, Nanaier, Negidalen, Nenzen, Niwchen, Nganassanen, Oroken, Orotschen, Saamen, Selkupen, Tofalaren, Tschuktschen, Tschuwanzen, Ultschen - wissen das schon Jahrhunderte lang, denn ihre Nahrung bestand eh und je aus großen Mengen Fleisch und Fett.

Im landwirtschaftlichen Ausbildungssowchos `Technikum´ betreten wir gerade das Zimmer des Direktors, um über Funk mitzuhören, dass Rentiere und Rentierzüchter wohlauf seien, dass es keine besonderen Vorkommnisse gäbe, aber - dass man sich über neue Filme freuen würde. `Schickt was Lustiges und was mit Liebeskummer´, sagt eine fröhliche Jungenstimme.

Eintausendeinhundert Lehrlinge erlernen im Ausbildungssowchos `Technikum´ den Beruf des Rentierzüchters, Zootechnikers, Veterinärs oder landwirtschaftlichen Buchhalters - zweieinhalb Jahre bei 10-Klassen-Abschluss. Wir fragen zehn Lehrlinge, warum sie den außerordentlich anstrengenden Beruf des Rentierzüchters gewählt haben. Hier ihre Antworten:

`Ich komme aus der Tundra und möchte dahin zurück.´

Mein Vater ist es, meine vier Brüder sind es, ich möchte es auch werden.´

`In unserer Schule hat mich der Komsomol dafür geworben.´

`Rentierzüchter werden gebraucht.´

`Vater und Mutter zuliebe. Sie wollen unbedingt, dass ich in die Tundra zurückkehre, damit die Familie wieder zusammen ist.´

`Mich hat die Zeitung geworben. Rentierzüchter ist heute ein Mangelberuf.´

`Ich trau´s mir zu.´

`Meine Freundin wird Tierärztin. Wir wollen zusammen in eine Rentierzüchterbrigade gehen.´

`Aus Einsicht in die Notwendigkeit.´

`Es können doch nicht alle Tschuktschen Lehrer, Ärzte, Piloten oder (Jewgeni schmunzelt) Journalisten werden.´"

 

Als ich Juri Rytchëu, den ersten Schriftsteller der Tschuktschen 1983  in Leningrad besuchte, erzählte er mir von seinem ersten Kartoffelbrei, dem ersten Biss in einen Apfel und  - seiner ersten Melone: "Es war 1948 in Leningrad. Auf meinen Streifzügen durch die Stadt geriet ich auch auf den Basar. Und da sah ich sie, eine Melone, die ich aus dem Schulbuch kannte. Für mein letztes Geld kaufte ich mir eine und schnitt von der grünen Oberfläche eine dünne Scheibe ab. Ich hatte etwas Ungewöhnliches erwartet, einen zauberhaften, ungeahnten Geschmack, eine besondere Zartheit, Süße, kurz ein wundervolles Aroma... Aber ich empfand gar nichts... Die Melone schmeckte wie das gewöhnlichste Tundragras, das an einem See oder am Ufer eines Baches bei uns zu Hause wuchs. Ärgerlich trat ich gegen die Melone, die Frucht zersprang in zwei Teile: rot und feucht mit komischen schwarzen Dingern... Ich schmiss sie in einen Mülleimer und drehte mich nach dem komischen Ding nicht mal mehr um."

 

Endlich in Tschukotkas Hauptstadt (LESEPROBE aus "Diesseits und jenseits des Polarkreises")

 

"Hurra, wir sind im Autonomen Bezirk der Tschuktschen. Hurra - was heißt hurra? Zu Hause hatte ich geglaubt, ich würde bei der Ankunft vor Freude bis ans tschuktschische Himmelsblau springen. Aber ich tu´s nicht. Ich kann es wohl nicht fassen, nach fast dreißig sehnsuchtsvollen Jahren wirklich und wahrhaftig auf Tschukotka zu sein. Ganz sachlich nehme ich den Flugplatz zur Kenntnis, auf dem wir von Magadan aus mit erster (unvorhergesehener) Zwischenlandung in Jenissejsk und zweitem (vorgesehenem) Zwischenaufenthalt in Krasnojarsk mit einer IL 18 gelandet sind. Unbeeindruckt besteige ich dann auch ein Schiff, das uns über den Fluss Anadyr in die Stadt Anadyr bringen wird. Raissa Netschajewa, Dolmetscherin aus Moskau, weiß seit mehr als zehn Jahren von meinem Tschukotka-Traum. Jetzt schaut sie mich immer wieder an - auch sie enttäuscht, dass ich keinen Freudentanz aufführe.

Ist der Mensch endlich am Ziel seiner Wünsche, reicht die Kraft zu überschäumender Freude wohl nicht mehr aus.

Da hilft das Schicksal meinen scheinbar abgestumpften Gefühlen nach. Ich stolpere beim Aussteigen über eine Schiffsplanke und - liege Tschukotka, meinem Tschukotka, zu Füßen.

 

    

 

Auf Tschukotka: Text-Reporterin Gisela Reller; Dolmetscherin Raissa Netschajewa  aus Moskau, Bild-Reporter Detlev Steinberg -  vorgestellt in der Zeitung Советсҝая Чукотка (Sowjetisches Tschukotka) vom 25. August 1980.

 

Im Hotel erhalten die `weitgereisten Mädchen´ ein Appartement (Wohnzimmer und Schlafzimmer, Bad und Toilette). Müden Auges, aber leichten Herzens verzichte ich darauf, das Gepäck auszupacken, um Tschukotkas Hauptstadt Anadyr, erst einmal für mich allein zu erobern.

Augenfällig, dass du dich hier jenseits der Baumgrenze befindest. Weit und breit weder Baum noch Strauch, nur kleine Vorgärten, wenn diese Bezeichnung für das bisschen Grün mit den winzigen Margeritenköpfen, die eher Kamillenblüten ähneln, gestattet, ist. Sommersaubere Straßen mit Omnibusverkehr, vielen Lastkraftwagen, wenigen Pkws.

Anadyr hat fünfzehntausend Einwohner, die einunddreißig Nationalitäten angehören. Da lässt es sich denken, dass hier keiner neugierig auf den anderen blickt, mag er nun Hosen aus Rentierfell tragen oder einen seidenen Rock, eine Kuchljanka oder einen schwarzen Anzug.

Es ist gerade 12 Uhr mittags, keiner jedoch, der gemütlich schlendert, alle streben eilig einem bestimmten Ziele zu. Man scheint es eilig zu haben in Anadyr.

Ich entdecke zwei Häuser mit Balkon, einen Pionierpalast, das Parteikomitee Tschukotkas, ein Filmtheater, eine Buchhandlung, ein Heimatkundemuseum. Dann schaue ich mich in einem großen Lebensmittelgeschäft um. Außer bei frischem Obst und Gemüse (statt dessen viele in- und ausländische Konserven) wüsste ich im Augenblick nicht zu sagen, welche Lebens- und Genussmittel sowohl für einen alltäglich gedeckten als auch für einen festlich gedeckten Tisch nicht ausreichend vorhanden wären. Frische Milch und Eier, so sagt mir eine Verkäuferin, seien Zuteilungsware, aber, so fügt sie hinzu, dass sei hier im hohen Norden wohl nicht so erstaunlich. Dafür gäbe es Milch und Eipulver in ausreichender Menge. Und ich entdecke viele Fischkonserven, für die nicht nur die Moskauer durchaus längere Anstehzeiten in Kauf nehmen würden: Krabben, Dorschleber, Thunfisch...

Die Sauberkeit des Ladens ist - so will mir scheinen - kaum zu übertreffen. `Nordehre´, Ljuba aus Leningrad lacht, `wenn wir schon nichts gegen das Klima ausrichten können, so muss alles Drumherum lecker sein.´ Übrigens ist eine jede Ware trotz des weiten Transportweges für den gleichen Preis zu haben wie in allen anderen sowjetischen Landesteilen (was im arktischen Alaska oder in Kanada durchaus nicht selbstverständlich ist).

Als ich am Fluss Anadyr ein Denkmal betrachte, sagt eine junge Frau zu mir: `Hier an dieser Stelle, wo jetzt moderne Steinhäuser stehen, habe ich als Kind noch Pilze gesucht.´ Swetlana ist Ukrainerin, kam 1965 mit ihren Eltern hierher (sie sind inzwischen als Rentner nach Minsk zurückgekehrt) und blieb, mit einem Tschuktschen verheiratet, in Anadyr. Swetlana erzählt mir auch, was es mit diesem Denkmal auf sich hat: Es erinnert an die Mitglieder des Ersten Revolutionskomitees von Tschukotka. Im Februar 1920 waren alle elf Mitglieder von Koltschakleuten erschossen worden, darunter ein Russe (Matrose der Baltischen Flotte), ein Tschuwanze, ein Tatar (Soldaten der Roten Armee)...

Anadyr, so hatte ich zu Hause meinen Aufzeichnungen entnommen, ist über dreihundert Jahre alt. Es wurde begründet von dem seefahrenden Kosaken Semjon Deshnjew, der hier 1652 die erste Hütte errichtet hatte. Er nannte diesen Ort Nowomarinsk. Im April 1655 schrieb der längst Totgeglaubte an den Woiwoden von Jakutsk, in dessen Namen er im Land der Tschuktschen Tribute eintreiben sollte: `Wir fuhren von der Kowyma [Kolyma] nach unserem Lager, und der Handelsmann Fedot Alexejew [Popow] wurde in einem Handgemenge mit Tschuktschen verwundet, und Fedot und ich, Semeika, wurde auf dem Meer auseinandergetrieben und vor der Mündung an einem Küstenvorsprung jenseits des Anadyr an Land geworfen... Das große Kap habe ich, Semeika, mit meinem Gefährten kennengelernt...´

Mit seiner unfreiwilligen Driftfahrt hatte Deshnjew den nordöstlichsten Punkt des asiatischen Kontinents umrundet (heute: Kap Deshnjew) und bewiesen, dass es dort eine Meeresstraße gibt. Die Bezahlung seiner Dienste erreichte Deshnjew erst nach sieben Jahren durch ein Bittgesuch an den Zaren. Er erhielt einhundertvierundsechzig Rubel und vierundachtzig Kopeken sowie siebenundneunzig Arschin [altes russisches Längenmaß, 1 Arschin = 71,2 Zentimeter] Tuch von kirschroter und grüner Farbe und wurde in den Atamanstand erhoben. Doch sein Bericht lag ungelesen im Stadtarchiv von Jakutsk, und niemand erfuhr etwas von einer Meeresstraße zwischen der Tschuktschen-Halbinsel und Alaska. Erst der deutsche Historiker Gerhard Friedrich Müller - Teilnehmer der zweiten Bering-Expedition - fand ihn 1736, fast einhundert Jahre später. Der dänische Seeoffizier Vitus Bering war also nur der Wiederentdecker der nach ihm benannten Meeresstraße.

An der Stelle des russischen Nowomarinsk entstand dann 1889 Anadyr, heute eine Stadt, die sich sehen lassen kann.

 

 

Blick auf Tschukotkas Hauptstadt Anadyr (1981).

Foto aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

Als ich endlich im Bett liege, ist es schon Mitternacht, bei uns zu Hause isst man bereits Mittag. Um einschlafen zu können, zähle ich keine Schafe, auch keine Rentiere, sondern Möbelstücke... Ich versuche mir auszurechnen, wie viel Schränke, Sessel, Liegen... von weither gebracht werden müssen, damit es die Menschen hier wohnlich haben. Bei 990 000 Stuhlbeinen endlich ist mein durch den großen Zeitunterschied völlig durcheinandergeratener Biorhythmus überlistet..."

 

 

Vater der sibirischen Geschichts-schreibung, Gerhard Friedrich Müller (auch Fjodor Iwanowitsch Miller, 1705 bis 1783), war ein deutscher Historiker, Geograph, Russlandforscher und Forschungsreisender. Müller besuchte zunächst das Friedrichs-Gymnasium Herford, an dem sein Vater Rektor war. Er studierte an der Universität Rinteln und der Universität Leipzig Philosophie und Geschichte. 1725 ging er nach Sankt Petersburg und war dort an der 1724/25 gegründeten Russischen Akademie der Wissenschaften als Geschichts- und Lateinlehrer tätig. Im Alter von 25 Jahren wurde er 1730 zum ordentlichen Professor an der Akademie der Wissenschaften ernannt, wie zuvor 1725 nur sein Landsmann, der Universalgelehrte Johann Peter Kohl. Im Forschungsauftrag der Russischen Akademie bereiste er Holland und England. Nach seiner Rückkehr wurde er zusammen mit Johann Georg Gmelin von der Zarin Anna Iwanowna mit der Leitung der historischen und ethnographischen Arbeitsgruppe der Zweiten Kamtschatkaexpedition (1733 bis 1743) beauftragt. 1736 fand Professor Müller im Archiv der Jakutsker Kanzlei Beweise, dass nicht Vitus Bering 1728 als erster die Beringstraße durchfuhr, sondern schon Jahre zuvor der russische Pelztierhändler Semjon Deshnjew (1605 bis 1673).

 

Zwei Menschenschicksale (LESEPROBE aus "Diesseits und jenseits des Polarkreises")

"Mehr als zehntausend Kilometer vom Schauplatz der revolutionären Ereignisse entfernt, dazumal winters nahezu unerreichbar, ging auf Tschukotka noch mehr als ein Jahrzehnt lang vieles im alten Schritt und Tritt. Und so musst du in Anadyr nicht mühevoll Ausschau nach Menschen halten, die die ersten nachrevolutionären Jahre noch selbst miterlebt haben.

Da ist der Tschuktsche Iwtek Berjoskin, Lehrer am Pädagogischen Institut von Anadyr. Er wäre als Fünfzehnjähriger fast verhungert.

`Das war 1934´, erzählt er uns. ´Ich wurde in der Familie eines Amguemer, eines Rentier-Tschuktschen, geboren. Wir waren neun Geschwister und besaßen zweihundert Rentiere. Das ist sehr wenig, wenn man bedenkt, dass wir Tag für Tag von Rentierfleisch lebten und dass sich elf Menschen von Kopf bis Fuß in Rentierfell kleideten. Es war ein unvorstellbar schweres Leben. Täglich waren wir Dutzende Kilometer auf Wanderschaft, Vater und die älteren Brüder oft Tag und Nacht ohne Schlaf - die Rentiere durften ja keine Minute aus den Augen gelassen werden. Und dann geschah 1934 ein Wetterdrama. Sozusagen über Nacht wurden wir - wie auch viele andere Rentierzüchterfamilien - die ganze Herde los.

Damals gab es noch keine Kolchose, mit denen die heutigen Rentierhirten von der Tundra aus per Funk verbunden sind. Es gab keine Flugzeuge oder Hubschrauber, die bei einem Unglück heute sofort zur Stelle sind. Damals waren die Rentier-Tschuktschen in der Tundra genauso auf sich selbst gestellt wie die Küsten-Tschuktschen oder Eskimos, wenn sie auf einer Eisscholle ins offene Meer hinausgetrieben wurden.

`Wir kauten auf unserem düsteren Hungermarsch Seehundriemen, brieten die Felle unserer Jaranga, ich aß den halben Ärmel meiner Kuchljanka auf... Nach Wochen endlich trafen Mutter und wir Kinder mehr tot als lebendig im eben gegründeten Kolchos `Heller Weg´ ein.

Vater hatten wir unterwegs begraben.´

Ende 1973 spielte sich auf der Tschuktschen-Halbinsel ein ähnliches Wetterdrama ab. Doch die neue Zeit ließ keinen Menschen mehr Hungers sterben... Ein Zyklon, verbunden mit starken Regengüssen, hatte die Tundra bei plus fünf Grad in einen Sumpf verwandelt. Ein nachfolgender Kälteeinbruch überzog etwa die Hälfte der Halbinsel mit einem Eispanzer. Binnen weniger Stunden wurde das Rentiermoos für dreihundertsiebzigtausend Rentiere unzugänglich. Doch neununddreißig Jahre später, nachdem der schon nach der Revolution geborene kleine Tschuktschenjunge Iwtek seinen Vater verhungern sah, ging es so weiter: Flugzeuge, Hubschrauber, von Traktoren gezogene Schlittenzüge und Hundegespanne machten sich mit Medikamenten, Mischfutter und Robbenfett auf den Weg, die Tiere der zwanzig Rentierkolchosen vor dem sicheren Tod zu bewahren. Und eilig gebildete Gruppen von Zootechnikern und Kolchosmitgliedern suchten fieberhaft nach eisfreien Weideflächen. Mit vereinter Kraft fand man sie an den Nordhängen erloschener Vulkane."

 

Letzte Nachricht: Als ich diese Zeilen schreibe (am 24.05.2013) erschütterte  im Ochotskischen Meer ein Erdbeben der Stärke 8,2 den russischen Fernen Osten. Die Erdstöße waren auf dem ganzen Territorium des Fernen Ostens, Sibiriens und sogar in Moskau zu spüren.

 

Weiter: Zwei Menschenschicksale (LESEPROBE aus "Diesseits und jenseits des Polarkreises")

 

"Da ist die Tschuktschien Lina Tynel, die wir im Parteikomitee kennenlernen.

Lina Tynel ist Vorsitzende des Exekutivkomitees des Autonomen Bezirks der Tschuktschen, Deputierte des Obersten Sowjets und Mitglied des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR. Den Namen Tynel (vor der Oktoberrevolution war dies ihr Vor- und Zuname zugleich) gab ihr der Vater, weil sie zur Welt kam, als die Weidefläche gerade von einem todbringenden Eispanzer überzogen war. Der Vater, Rentiernomade, starb, als Tynel noch ein kleines Mädchen war. Und so wurde die Halbwaise "Vereister Schnee" von russischen Erziehern im Schulinternat erzogen, danach von russischen Lehrern zum Studium nach Leningrad delegiert, wo sie am Herzen-Institut von russischen Pädagogen den Vornamen Lina bekam und als Lehrerin ausgebildet wurde. Nach Beendigung des Studiums arbeitete sie zuerst an einer allgemeinbildenden Schule für einheimische Kinder, dann fast ein Jahrzehnt lang beim Magadaner Verlag als Redakteur für Bücher in der Tschuktschensprache.

Lina Tynel spricht über den Tod des Vaters und über ihr erbärmliches Leben in der Tundra sehr stockend, sehr leise. Sie, die heute `mächtigste Tschuktschin´, unterdrückt nicht ihre Tränen. `Wissen sie´, sagte sie entschuldigend, `in den Köpfen unserer Generation ist das Alte unauslöschlich geblieben. Erst die Kinder unserer Kinder werden neue Menschen sein - glücklichere, reichere... Hoffentlich nicht gleichzeitig auch ärmere. Eine meiner Sogen ist, dass Tschuktschen und Eskimos einmal ihre Muttersprache vergessen könnten. Eine Gefahr, der jedes Volk ausgesetzt ist, wenn es so stark in der Minderheit ist.´

Lina Tynel, fünfzigjährig, ist Witwe. Ihr Mann starb an Tuberkulose, einst Krankheitsgeißel Nummer eins bei Tschuktschen und Eskimos. Heute ist die Tuberkulose hier ausgerottet.

Und Lina Tynel ist Mutter erwachsener Kinder. Die beiden Töchter fühlen sich als künftige Pädagoginnen mehr der Zukunft verpflichtet, der Sohn als zukünftiger Historiker mehr der Vergangenheit.

`Wie dankbar bin ich, dass die Sowjetmacht zu uns gekommen ist. Was wäre sonst aus meinen drei Kindern geworden? Früher starben ja die meisten, kaum dass sie das Sonnenlicht erblickt hatten´, sagt sie."

 

 

Buch heißt auf Tschuktschisch kniky: "Solange ich zurückdenken kann, gab es in unserer Jaranga Bücher. Anfangs war es eine ziemlich zerfledderte Bibel in russischer Sprache... Sie hatte meinem Großvater, dem großen Schamanen Mletkin, gehört... Dann tauchten bei meiner älteren Tante Lehrbücher auf, und das Erstaunlichste war, darunter gab es auch Bücher in tschuktschischer Sprache. Einige waren mit lateinischen Buchstaben gedruckt und die erste Fibel hieß CELGYRALEKAL, was `Rotes Lesebuch´ bedeutet. Diese Fibel war von den ersten Studenten des Instituts der Völker des Nordens in Leningrad zusammengestellt worden, unter ihnen auch Landsleute von uns, Uëlener... Keine einzige Erfindung der Tangitan (der Fremden) konnte meine Neugier so stark erwecken wie das Buch, das für mich ein Zauberbrunnen war... In den ersten Klassen wurde der Unterricht vor allem in Tschuktschisch durchgeführt. Ich beherrschte die Schrift ziemlich schnell. Allerdings gab es nur wenige Bücher in meiner Muttersprache. Ich erinnere mich bis heute ganz genau an sie. Das war vor allem die prächtige Ausgabe der Verfassung der UdSSR im Taschenformat... Viele Wörter, die aussahen wie tschuktschische, waren in Wirklichkeit russische, tschuktschisch waren nur die Suffixe, die Endungen. Die tschuktschischen Wörter sahen sehr merkwürdig aus... Dafür las ich mit großem Vergnügen und nicht nur ein Mal den Band mit tschuktschischen Nomadenmärchen. Für mich war das wie ein Wunder - meine Muttersprache erklang von den Papierseiten.... Immer öfter richtete ich meinen hungrigen Blick auf die Reihen der eng aneinander stehenden Bücher in der Schulbibliothek und in den Regalen der Kantine auf der Polarstation. Aber das Russische beherrschte ich noch nicht, obwohl die Buchstaben die gleichen waren, die auch in der  tschuktschischen Schrift benutzt wurden.... Das erste, was ich Russisch lernte, waren Schimpfwörter... Außerdem spielten wir häufig "Russen", vor allem "betrunkene Russen"... Wann ich endlich perfekt Russisch gelernt habe, sodass ich Bücher lesen konnten, weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich war das im Alter von neun, zehn Jahren... Der Lesehunger verschlang fast meine gesamte Freizeit. Ich begann, mich vor meinen häuslichen Pflichten zu drücken. Anstatt die Hunde zu füttern oder Treibholz am Strand und Wurzeln auf den Hügeln für das Feuer zu sammeln, aus unserem Bach Wasser zu holen und die Hausaufgaben rechtzeitig zu erledigen, ging ich zu meinem Versteck und versank... in eine andere Welt... Dann kam die Zeit, wo ich mich für die Verfasser interessierte. Anfangs war ich fest davon überzeugt, dass alle Schriftsteller zu einer ausgestorbenen Gattung Mensch gehörten... Mit einem gewissen Misstrauen fasste ich die Nachricht auf, dass viele Schriftsteller noch am Leben waren und immer neue Bücher schrieben. Meine Einbildungskraft reichte nicht aus, um mir wenigstens annähernd die Gestalt eines Romanschöpfers vorzustellen..."

Juri Rytchëu (tschuktschischer Schriftsteller, 1930 bis 2008) in: Alphabet meines Lebens, 2010

 

Sorgen..., nichts als Sorgen? (LESEPROBE aus "Diesseits und jenseits des Polarkreises")

"Bevor wir weiter ins Tschuktschenland vordringen, empfängt uns Wjatscheslaw Iwanowitsch Kobez, Erster Sekretär des Tschuktschischen Bezirkskomitees des Magadaner Gebietes zu einem Gespräch. Seine Nationalität ist Russe, seine eigentliche Heimatstadt Moskau und seine Heimat, so sagt er, die ganze Sowjetunion. Sein ewig gefrorenes Reich ist fast siebenmal so groß wie die DDR. Wie groß sind seine Probleme?

Wjatscheslaw Iwanowitsch, ich bin ganz begeistert von Tschukotkas Hauptstadt Anadyr - mit ihren modernen Steinhäusern, dem schönen Pionierpalast, dem komfortablen Filmtheater, dem so geschmackvoll ausgestatteten Kulturklub, von den Betonstraßen, den Grünflächen mit den, wenn auch kleinen weißen Margeriten... Und all das auf ewigem Frost! Ich habe mir den `Rand der Welt´ anders vorgestellt.

So? Wie denn?

Irgendwie provisorischer...

Zehntausende Menschen kommen durchaus vorübergehend aus allen Gegenden der Sowjetunion in den hohen Norden. Ein Teil jener Nordländer ist tatsächlich nicht sehr daran interessiert, `für die Ewigkeit´ zu bauen, Grünanlagen zu errichten, die Umwelt zu erhalten und - sauber zu halten.

Wir sind aber inzwischen einigen `Zugereisten´ begegnet, die sich hier seit Jahrzehnten häuslich niedergelassen haben.

Ja, in den Städten, in Magadan, in Anadyr, in Pewek. In vielen Siedlungen sieht es aber nicht so rosig aus.

Warum nicht?

Das Hauptproblem für den ganzen Nordosten ist der Wohnungsbau. Wir brauchen nicht alle paar Jahre neue Anfänger hier, sondern Menschen, die mit komplizierter Arbeit und enormen Kältegraden bestens vertraut sind. Leider sind aber im letzten Planjahrfünft vierzig Prozent weniger Kader als im gleichlangen vorangegangenen Zeitraum ins Magadaner Gebiet gekommen. Hochqualifizierte Arbeiter, die jahrzehntelang bei uns bleiben sollen, wollen in Siedlungen mit städtischem Komfort wohnen. Und sie haben ein Recht darauf, obwohl jedes in unserem Landstrich gebaute Haus fünfmal teurer ist als in Mittelrussland.

Wer sich entschließt, am Nördlichen Polarkreis zu leben, sollte der nicht auf den einen oder anderen Komfort verzichten können?

Auf Luxus ja, auf Komfort nicht. Menschen, die sich hier ansiedeln, reisen doch mit ihren Familien an oder gründen hier Familien, Kinder kommen. Sollen sie benachteiligt sein?

Was ist für Sie Luxus, was Komfort?

Komfort? Nun, das heißt Strom, moderne Heizung, schöne Möbel, Kühlschrank, Fernsehanschluss erst einmal, dann Fernseher... Und Luxus? Das wäre zum Beispiel ein Farbfernseher - sozusagen als Zweitgerät. Sollen sie zusätzlich auch noch in großer Zahl hergebracht werden? Über den Nördlichen Seeweg? Auf dem Luftweg? Bei Frost über die vereisten Flüsse? Auf diesen Wegen muss massenweise Lebensnotwendiges zu uns in die Arktis gebracht werden - angefangen von Trockenmilch... Besonders problematisch, dass es ausgerechnet hier im Norden - wo die Menschen über hundert Prozent mehr verdienen als in klimatisch günstigeren Gegenden - natürlich niemanden gibt, der nicht auch genug Geld für Luxusgegenstände hätte.

Wjatscheslaw Iwanowitsch, welche Sorgen haben Sie mit Tschukotka?

Uns fehlen stabile Autostraßen; wir brauchen mehr, viel mehr Fahrzeuge in `nördlicher Ausführung´, also Motorschlitten, Luftkissenfahrzeuge; es müssen komfortable fahrbare Rentierzüchterhäuschen mit individueller Energieversorgung konstruiert werden - statt der Felljarangas mit den offenen Feuerstellen. Erforderlich ist die sofortige Einführung jeder für den Norden geeigneten neuen Errungenschaft von Wissenschaft und Technik. Beispielsweise bringt die Freisetzung eines einzigen Facharbeiters im Bergbau durch Einführung neuer Technik einen volkswirtschaftlichen Nutzen von etwa neunzehntausend Rubeln jährlich!

Es gibt doch hochleistungsfähige Geländewagen, mit denen man durch die sumpfige Tundra, durch flache Seen, über steinige Hügel sicher fahren kann.

Die schweren Raupenfahrzeuge, von denen Sie so angetan scheinen, entsprechen sehr gut unseren Bodenbedingungen, aber sie zerstören die Vegetationsdecke der Tundra erbarmungslos. Die Moose und Flechten - die einzige Nahrung der Rentiere - wachsen jährlich einen einzigen Millimeter. Verstehen Sie, einen Millimeter. Unsere Tundra - und mag sie auch noch so groß sein - ist jedoch im wesentlichen erschlossen. Es gibt so gut wie keine freien Weideflächen mehr. Die vorhandenen müssen gehegt und gepflegt werden! In Alaska beispielsweise zählte man noch vor etwa dreißig Jahren eine Million Rentiere. Der Raubbau an den Weiden führte dazu, dass heute nur noch etwa fünfzigtausend Tiere Nahrung finden. Eine glückliche Zukunft der Polargebiete ist aber ohne Rentier, das dem Menschen Fleisch, Milch, Leder liefert und auch als Last- und Reittier dient, unmöglich!

Zurück also zum Hundeschlitten?

Der Hundeschlitten ist ein über Jahrhunderte bewährtes Transportfahrzeug. Jedenfalls kommt es darauf an, eine vernünftige Verbindung zu finden zwischen technischen Neuerungen und althergebrachten Lebensformen.

Haben sie Nachwuchssorgen bei der Rentierzucht?

Auch das. Viele junge Tschuktschen, Eskimos, Ewenen, Ewenken, Tschuwanzen, Jukagiren wollen sich in anderen als den traditionellen Wirtschaftsbereichen beweisen. Und es werden ihnen - selbstverständlich zu Recht - alle Bildungsmöglichkeiten gegeben. Andererseits wird die einheimische Bevölkerung unbedingt in diesem uralten, unsagbar komplizierten Wirtschaftszweig, der Rentierzucht gebraucht.

Früher wurden die `Geheimnisse´ der Rentierzucht von Generation zu Generation sorgsam überliefert: wie man einen Schlitten baut und ein junges Ren zureitet, wie man eine Raststelle für die Herde wählt und die Hunde anlernt. Heute muss ein Rentierzüchter aber auch noch verstehen, ein Funkgerät zu bedienen, ein Geländefahrzeug zu lenken und mit der Impfkanüle umzugehen. Doch verlieren viele Jugendliche, die unter den Bedingungen des Internats erzogen werden, das Interesse an den traditionellen Berufen. Deshalb wurden schon an vielen Schulen Zirkel für Pelztierzüchter und Zirkel für die Anfertigung von Kleidungsstücken aus Fellen eingerichtet. In Prowidenija gibt es eine Berufsschule, an der Fahrer für Traktoren und geländegängige Fahrzeuge sowie Funker ausgebildet werden, in Ola haben Sie den landwirtschaftlichen Sowchos ja selbst besucht.

Wjatscheslaw Iwanowitsch, welche Freuden haben Sie mit Tschukotka?

Unsere Geologen entdecken Bodenschatz um Bodenschatz, kürzlich erst bei Anadyr Erdöl und Erdgas; wir lernen, die vielen heißen Quellen zu nutzen, so dass wir schon einheimische Vitamine - grüne Gurken, Tomaten, Radieschen; Eier - zu uns nehmen können; wir decken einen Teil unseres Kartoffelbedarfs und Kohlverbrauchs von Feldern auf ewigem Frostboden; Hunderte Kühe haben sich bei uns im letzten Jahrzehnt akklimatisiert, in vielen Kindergärten und Krankenhäusern gibt es schon frische Milch. Für all die Waren, die wir selbst produzieren, können andere Güter zu uns transportiert werden. Es klappt immer besser mit der Schichtarbeit der Rentierzüchter im Zwanzigtagerhythmus, wir haben nur noch fünf Prozent echte Nomaden; ein ganz neuer Wirtschaftszweig ist die Pelztierzucht, besonders geeignet für die einheimischen Frauen, die ja heute durchaus nicht mehr unbedingt ihre Männer in die Tundra begleiten; na, und dass `meine Margeriten´ blühen... Den Samen hatte ich im Gepäck aus Moskau als `Antrittsgeschenk´ mitgebracht; die Erde musste allerdings aus Wladiwostok eingeflogen werden.

Sie haben also nicht nur Sorgen mit Tschukotka?

Wo denken Sie hin? Innerhalb von fünf Jahrzehnten hat Tschukotka einen Weg zurückgelegt, der vergangene tschuktschische Jahrtausende zu einem Schritt werden lässt. Aber wir hier oben `am Rande der Welt´ müssen ungeduldig sein; denn die so unvorstellbar grimmigen Schneestürme, die unbeschreiblich eisige Kälte, die rauben uns unerbittlich viel produktive Zeit. ´

Auf dem Weg vom Parteikomitee zum Hotel betrachte ich die `Vorgärten´ mit ganz anderen Augen: viel größer erscheinen mir jetzt die weißen Blütenköpfe, viel frischer das Grün der Stängel und Blätter."

 

Ein Witz aus Tschukotka, erzählt vom damaligen Ersten Sekretär des Bezirksparteikomitees: Anfrage an den Sender Jerewan: `Was ist eine Sprotte?´ - Antwort: `Ein Wal, der im Kommunismus angekommen ist.´

 

Wal in Sicht (LESEPROBE aus "Diesseits und jenseits des Polarkreises")

 

"Auf der Tschuktschen-Halbinsel von Ort zu Ort zu gelangen, das erfordert schon ein gerüttelt Maß an Organisationstalent, Wetterglück und Wagemut. Organisationsgenie Anatoli Fjodorowitsch Frolow – Persönlicher Referent des Ersten Sekretärs des Bezirksparteikomitees Tschukotkas – setzt eines Tages unseren abenteuerlichen Transportmitteln das i-Tüpfelchen auf. Gelassen wie immer sagt er: `Um nach Kap Lorino – eurem nächsten Reiseziel – zu gelangen, müssen wir entweder Stunden um Stunden mit einem Fischkutter auf See zubringen oder in einem Geländefahrzeug über Geröll und durch Sumpf quer durch die Tundra fahren. Entscheidet euch!

Nach heftiger Debatte sind wir für den Landweg, da er wenigsten eins, die Gefahr des Ertrinkens, ausschließt. Da aber hat Anatoli Frolow, im weiteren Verlauf des Buches liebevoll Tolja genannt, eine ganz neue Idee. `Kinder´, so sagt er, `lasst mich mal telefonieren.´

Das Ergebnis seines Anrufs: Heute Abend sticht der Walfänger `Swjosdny´ in See. Sein Freund, der Kapitän (jedermann auf Tschukotka ist Toljas Freund, und er selbst ist jedermanns Freund auf Tschukotka), ist bereit, uns an Bord zu nehmen. Nach Art des hohen Nordens ist es kein Problem, den achtzigsten Wal dieser Fangsaison statt nach Tschaplino nach Kap Lorino zu bringen; die Eskimos von Tschaplino – über Funk befragt – haben nichts dagegen, sich am einundachtzigsten Wal gütlich zu tun. `Womit wir´, so Tolja glücklich, `sowohl ausgeschlafen als auch um ein tolles Erlebnis reicher, gleichzeitig am Reiseziel wären.´

(…) Als einziger Kapitän hoch oben im Norden darf Leonard Maximowitsch Wotrogow, wenn ein Wal bläst, auch heute noch befehlen: Die Jagd beginnt! Wir – so beteuert uns Tolja – werden die allerersten ausländischen Journalisten auf dem Walfänger `Swjosdny´ sein.

Nachts um zwei Uhr gehen wir in der Bucht Prowidenija tatsächlich an Bord. Trotz der späten (oder frühen) Stunde empfängt uns Kapitän Wotrogow mit seiner einunddreißig Mann starken Besatzung so feierlich, als würde ein Admiral mit seinem Gefolge das Schiff betreten.

Dann ganz schnell noch ein Häppchen und ein Schlückchen in der Kapitänskajüte, und ab in die Koje – mit den eindringlichen Kapitänsworten im Ohr: „Fest zuschließen, Mädchen*, Seeleute sind Seeleute.´

Anderntags in aller Herrgottsfrühe stehen wir (sofern wir nicht grün und käsebleich über der Reling hängen) zusammen mit Kapitän Wotrogow auf der Kommandobrücke des Walfängers. (…) Noch sind die Walgründe nicht erreicht, und Leonard Maximowitsch ist bei mäßiger Brise (Windstärke 4) zum Interview auf hoher See bereit.

Leonid Maximowitsch, die von Ihnen gejagten Wale werden nur zu Orten gebracht, in denen Küsten-Tschuktschen und Eskimos leben…

Ja, das sind neun Siedlungen an der Küste Tschukotkas.

Arbeiten auch Tschuktschen und Eskimos auf Ihrem Schiff?

Leider nicht, weil die gesamte Mannschaft unseres Walfängers aus dem Heimathafen Wladiwostok stammen muss. Bedauerlicherweise gibt es dort keine Vertreter dieser Völkerschaften, die die nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten besitzen. Dass der örtlichen Bevölkerung der Walfang erlaubt ist, heißt ja nicht gleichzeitig, dass sie den Walfang auch selbst ausüben muss. Unser Schiff ist sozusagen das `Dienstleistungsschiff´ für die Versorgung der örtlichen Bevölkerung mit Walfleisch.

Sind die Küsten-Tschuktschen und Eskimos nicht daran interessiert – eventuell mit ihren herkömmlichen Fangmethoden - , selbst Wale zu jagen?

Es liegt ein Antrag der sowjetischen Eskimos vor, ihnen – mit ihren althergebrachten – Methoden den Fang von Grönlandwalen zu gestatten, wie es den Eskimos von Alaska und Kanada erlaubt ist.

Was behagt den Eskimos denn am Grauwal nicht?

Der Grauwal heißt in ihrer Sprache `Teufel´. Er ist zu schnell, zu gefährlich. Ihn kann man nur mit moderner Technik jagen.

Drei lange Signaltöne bei inzwischen frischer Brise (Windstärke 5) unterbrechen augenblicklich unser Gespräch: Wal in Sicht!

Blitzschnell ist jeder an seinem Platz, auch der jetzt wichtigste Mann, der Harpunier. Doch der Kapitän winkt lässig ab, zehn Tonnen Gewicht, schätzt er, zu mager. Die Jagd wird abgeblasen.

Über uns Kraniche und Kormorane, Schwärme von Wildenten, Wildgänsen und anderen Seevögeln, hier und da und dort guckt aus dem Wasser der Kopf eines Walrosses, manches Tier so nah, dass wir einander neugierig in die Augen blicken.

Dann, nach knapp einer Stunde, ganz dicht bei unserem Schiff zwei Walfontänen. Wieder ertönt  das Kampfsignal. Mit Rücksicht auf das jugendliche Alter des Liebespaares befiehlt der Kapitän jedoch, sie weiterziehen zu lassen, bald in Richtung Südkalifornien, wo sie sich – auch Wale lieben´s warm – paaren werden.

Die Lufttemperatur von plus drei Grad, der inzwischen schon starke Wind (Stärke 6 der zwölfteiligen Beautortskala) und auch die vier Grad kalten Meeresschwapper sind nicht gerade dazu angetan, dass wir uns nun schon fünf Stunden auf schwankenden Planken wohlig warm wähnen. Doch erst nach zwei Stunden ertönt wieder das Kampfsignal. Die Jagd endet – mit einem Fehlschuss.

Rings um uns bläst kein Wal, dafür aber der Wind nun schon mit Stärke 7, die mittlere Wellenhöhe beträgt an die sechs Meter. Wir fühlen uns dem Tode näher als dem Leben, was man heute noch von keinem Grauwal sagen kann.

Da Leonid Maximowitsch – seit dreißig Jahren Walfänger, seit siebzehn Jahren Kapitän eines Walfangbootes – als sicher annimmt, dass sehr bald mit Windstärke 8 (stürmischer Wind, bis zu neun Meter Wellenhöhe) zu rechnen ist, beschließt er schweren Kapitänsherzens, für heute seinen Plan unerfüllt zu lassen. Schweren Journalistenherzens hören wir seine Anweisung, geraden Kurs auf Lorino zu nehmen.

Kurz vor Lorinos Küste eine Funkspruch: `Delegation muss an Bord übernachten, Ausschicken des Kutters wegen zu hohen Wellenganges unmöglich.´

Ohne Grauwal und mit gänzlich leerem Magen (was natürlich nicht an mangelnder Gastfreundschaft der `Swjosdny´-Besatzung liegt) überlassen wir das mitternächtliche Schlusswort Leonard Maximowitsch Wotrogrow: "Achtundneunzig Komma fünf Prozent unserer Schüsse treffen ins Schwarze, die eins Komma fünf Prozent haben Sie heute - leider - miterlebt. Aber hier mein Wort als Kapitän: Morgen, noch bevor sie Kap Lorino wieder verlassen, sind wir mit einem Wal zur Stelle.´"

 

* Nach Tschukoka begleitete uns meine liebe russische Freundin Raissa Netschajewa, die für die FREIE WELT in unserem Moskauer Büro arbeitete.

 

 

Die Autorin Gisela Reller klettert - ohne Strickleiter - an Bord der "Swjosdny" --- mit Hackenschuhen (!).

Foto: Detlev Steinberg

 

 

Wie entsteht eine Walfontäne? Der Wal ist ein Säugetier. Er atmet nicht mit Kiemen wie ein Fisch, sondern hat eine Lunge wie jedes andere Säugetier auch, weshalb Walfisch, wie man immer wieder liest und hört, falsch ist. Die Nase

es Wals sitzt nicht im "Gesicht", sondern sie ist im Laufe der Entwicklung nach oben auf seinen Kopf gewandert. Grauwale erreichen eine Länge von 13 bis 15 Metern und ein Gewicht von 25 bis 34 Tonnen. Diese Wale sind schiefergrau bis dunkelgrau. Die Kehle des Grauwals ist in der Regel von zwei, maximal von bis zu sieben Furchen durchzogen. Auf jeder Seite des Mauls befinden sich etwa 150 Barten von 40 Zentimetern Länge. Wie kommt es, dass der Wal bläst? Wenn der Wal abtaucht, schließt er das Atemloch. Es läuft also kein Wasser hinein. Ein zweiter Verschluss am Lungeneingang, dem "Gänseschnabel" (Kehlkopf), verhindert, dass Wasser durch Maul und Speiseröhre in die Lunge dringt, wenn der Wal unter Wasser frisst. Das Wasser, das man beim Auftauchen hoch spritzen sieht, kommt gar nicht aus dem Wal: Beim Ausatmen stößt der Wal die Luft explosionsartig aus der Lunge aus. Sie kühlt durch die plötzliche Ausdehnung so stark ab, dass der in ihr enthaltende Wasserdampf zu Nebel kondensiert. Die so entstehende Fontäne ist je nach Walart unterschiedlich geformt. Der Grauwal kann den Blas bis zu vier Meter hoch ausstoßen. Das ausgestoßene Wasser-Luftgemisch steigt senkrecht nach oben und erscheint als herzförmige Nebelsäule.

 

Kap der guten Zuversicht (LESEPROBE aus " Diesseits und jenseits des Polarkreises")

"Herrlich, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Leichtfüßig bewegen wir uns durch Lorino (bewohnt von etwa 1 100 Tschuktschen, 200 Eskimos, 50 Russen), besichtigen die ersten, teilweise noch im Bau befindlichen Steinhäuser mit Bad und zentraler Heizung, sogar einen Experimentalbau mit Sommerterrasse und Balkon. Unangenehm nur die vielen frei herumlaufenden Schlittenhunde, bei denen man immer gewärtig sein muss, angefallen zu werden. Im Sommer, so hören wir, werden sie freigelassen, und müssen sich – nach dem Motto `Wer nicht arbeitet, soll auch nicht (fr)essen´- selbst versorgen.

Plötzlich tut sich was in Lorino: ein Hasten, Jagen, Rennen in Richtung Meeresküste.

Der Walfänger?

Der Walfänger!

Mit Wal?

Mit Wal!

Da hasten, jagen, rennen auch wir. Als wir atemlos am Ufer ankommen, kribbelt und krabbelt es dort schon wie in einem Ameisenhaufen. Kaum ist der aus tiefer Wunde blutende Koloss (nicht der größte seiner Art) an Land, da stürzen sich Lorinos Tschuktschen und Eskimos auch schon über ihn. Die Männer beginnen augenblicklich, den Grauwal mit langgriffigen Messern zu zerteilen, genauso wie dereinst ihre Vorväter. Die Kinder säbeln (mundgerechte) Stückchen aus seiner Haut heraus und verspeisen sie roh an Ort und Stelle mit Wohlbehagen. Überall am Ufer liegen Walskelette, ich habe es mir  - wie weiland Martin Luther auf der Wartburg – auf einem Walwirbel bequem gemacht.

Da bietet sich meinen Augen ein gar eigentümlich vertraut-fremdes Bild: Die Frauen haben größere recheckige oder quadratische Stücke Walhaut herausgeschnitten, sie oben eingekerbt und gehen mit diesen Exemplaren davon wie unsereins mit Plastiktüten.

Itgylgyn – so heißt die Haut mit dem hellrosa Speck – gilt bei Tschuktschen und Eskimos seit alters als besonderer Leckebissen. Bei mir regt sich keinerlei Appetit beim Anblick der schrundig und grob aussehenden grau gefleckten Walhaut – bis eine Tschuktschenhand die meine zwingt, den Wal `zu streicheln´. Verblüfft stelle ich fest, dass hier der Augenschein wieder einmal trügt; die Haut ist ungeheuer glatt, zart – und da versuch auch ich´s mit einem Stückchen Itgylgyn. Im ersten Augenblick scheint es, als habe man Gummi im Mund, nach intensivem Kauen jedoch wird der Walspeck ein wenig süßlich und zergeht auf der Zunge.

Ab Morgen wird es in Lorinos Lebensmittelgeschäft zentnerweise Walfleisch und Itgylgyn zu kaufen geben: dreißig Kopeken das Kilo."

 

 

Der Grauwal wird - nur von Männern - mit langen Messern geschlachtet; seine Fettschicht beträgt

bis zu 50 Zentimeter.

Foto: Detlev Steinberg

 

Der Urvater von Juri Rytchëu: "... Ich war völlig davon überzeugt, dass ich vom Wal abstammte, bis ich in der Schule hörte, dass der Mensch, wie sich herausstellte, vom Affen abstammt. Das erzählte uns, ohne einen Zweifel daran zu lassen, unser Lehrer Dunajewski. Er berief sich dabei auf den englischen Gelehrten Charles Darwin. Der Affe war auf einer Seite des Lehrbuchs für Naturwissenschaften abgebildet. Je mehr ich das Porträt meines angeblichen Ahnen betrachtete, desto mehr packte mich Widerwillen. Es war unfassbar, dass er unser Verwandter sein sollte, wenn auch ein entfernter... - In diesem aufgelösten Zustand kam ich nach Hause... Ich erzählte alles meiner Großmutter. Und sie sagte: "Dieser Darwin ist Engländer, sagst du? Dann stammen die Engländer offenbar vom Affen ab. Aber du weißt doch, dass dein wahrer Urvater der Wal ist."

Juri Rytchëu (tschuktschicher Schriftsteller, 1930 bis 2008) in:

Alphabet meines Lebens, 2010

 

Vom Wal zum Hahn (LESEPROBE aus " Diesseits und jenseits des Polarkreises")

 

"Ging der Mann im Winter zur Seetierjagd, so stand seine Frau - auch bei strengem Frost - Stunden um Stunden am Eingang der Jaranga; ging er im Sommer, so verharrte sie viele Stunden des Tages unbeweglich wie eine Statue am Ufer, den Blick in die weite Ferne gerichtet. Sah sie ihn dann nach Tagen endlich kommen, eilte sie ihm - so war es Tschuktschenbrauch - mit einer Kelle Wasser entgegen, in der ein Eisstückchen schwamm. Hatte die Frau die Schnauze des erlegten Seetieres benetzt, reichte sie die Kelle dem Mann an die Lippen. Doch bevor dieser den ersten erfrischenden Schluck zu sich nahm, versprühte er einige Tropfen zur See hin. Dank an die Götter, die ihm die Beute, meist einen Seehund, beschert hatten. Und Dank auch an die Götter, dass er heimgekehrt war. Wie viele kamen von der Jagd nicht zurück...

Die Jagd auf See war Sache des Mannes, alles, was in der Jaranga und um diese herum geschah, Sache der Frau: das haltbare Aufbewahren des Fleisches, das Nähen der Pelzbekleidung, das Füttern der Schlittenhunde, das Umsorgen der Kinder. Bei den Rentier-Tschuktschen kam noch hinzu, dass die Frau des Rentiernomaden auch denselben beschwerlichen Weg wie ihr Mann zurückzulegen hatte, oft Dutzende Kilometer am Tag durch die wegelose Tundra - immer auf der Spur der Rentierherde.

Heute haben auch die Rentierzüchter ein festes Zuhause, ihre Ehefrauen bleiben meist daheim. Somit haben die Kinder, wenn sie aus der Schule kommen, und der Ehemann, zurückgekehrt von der Zwanzig-Tage-Schicht aus der Tundra, ein Daheim mit Komfort. Viele Frauen arbeiten auch deshalb in für Tschukotka ganz neuen Wirtschaftszweigen: der Pelztierzucht (dreißig Sowchose) und der Hühnerzucht - dem Schichtrhythmus ihrer Männer angepasst.

`Wenn mein Mann aus der Tundra nach Hause kommt´, sagt die Geflügelzüchterin Nutewji Jettegina, `empfange ich ihn - so ist es heute in Lorino Tschuktschenbrauch - mit russischem Schwarzbrot und einer Pfanne Rühreier.´

Hühner? Eier? Rühreier? Wir sagten es schon: Unentwegt wird im hohen Norden Unmögliches möglich gemacht. Die Geflügelhaltung beispielsweise durch Nutzung von Thermalquellen.

Als der Forschungsreisende Stepan Kraschenninikow (1711 bis 1755) vor über zweihundert Jahren in den äußersten Nordosten der Sowjetunion kam, weigerten sich die Einheimischen zunächst, dem Besucher die heißen Quellen zu zeigen. Sie hielten diese für Heimstätten von Göttern und Geistern. Endlich wiesen sie Kraschenninikow doch den Weg, blieben aber in gebührender Entfernung zurück. `Als sie sahen, dass wir in den Quellen badeten..., glaubten sie, wir müssten sofort sterben´, berichtet Kraschenninikow. `Nachdem wir jedoch wohlbehalten wieder zurückgekehrt waren, erzählten sie in den Siedlungen von unserer Vermessenheit und konnten sich nicht genug darüber wundern, was wir wohl für Leute seien, wenn uns nicht einmal die Götter schaden könnten.´

Heute baden zusammen mit uns Journalisten in der Heißwasserquelle Lorinos die Kinder eines Pionierlagers. Selbstverständlich für sie, unter freiem Himmel bei acht Grad Lufttemperatur in tropisch warmem Wasser zu baden.

Woher kommt das heiße Wasser?

Unsere Erde ist eine oberflächlich abgekühlte, im Innern noch immer glühende Kugel, die unentwegt Wärme ausstrahlt: Jeder Quadratzentimeter je Sekunde etwa eine Mikrokalorie. Geothermale Energie ist in erster Linie Energie geothermalen Wassers, das an vielen Punkten der Erde selbständig sprudelt oder durch Bohrungen freigesetzt wird. Auf Tschukotka sprudelt es an vielen Stellen selbständig, auch in Lorino. Die Temperatur des Thermalwassers beträgt auf dem Territorium der Sowjetunion durchschnittlich fünfzig Grad, auch in Tschukotka. Die von uns besuchte Quelle kommt mit neunzig Grad an die Oberfläche. Wenn dieses Wasser Wärme an die Wohnhäuser, das Pionierlage und die Ställe (achthundertvierzig Hühner) abgegeben hat, wird es mit einer Temperatur von immerhin noch fünfzig Grad dem Gewächshäusern zur Beheizung zugeleitet, danach gelangt es mit etwa fünfunddreißig Grad ins Schwimmbecken. Auf Tschukotka gibt es viele solcher Thermalquellen, deren Wärme bis jetzt noch ungenutzt ist.

Bevor wir mit einem Raupenfahrzeug nach Lawrentija weiterbefördert werden, stärkt man uns in Lorinos Pionierlager mit Bratkartoffeln, Spiegeleiern, grünen Gurken, Tomaten, Radieschen und grünem Lauch - `damit Sie sich im hohen Norden wie zu Hause fühlen´. Was wir dann auch so ausgiebig tun, als hätten wir wer weiß wie lange nichts gegessen. Igor, ein zehnjähriger Tschuktschenjunge, sagt mitfühlend zu uns: `Sie können sich ruhig ein paar Radieschen mitnehmen, wenn es doch bei Ihnen zu Hause keine gibt.´"

 

Tschuktschen-Witze: Mit diesen Witzen wurden (werden?) in der Sowjetunion die Tschuktschen so richtig verkohlt, z. B.: "Zwei Tschuktschen schauen zum Himmel. "Eh nu, ein Flugzeug!" - "Bestimmt die Regierung!" - "Eh nu, eher unwahrscheinlich. Wenn´s die Regierung wäre, würden weiße Männer auf Motorrädern drum herum sein." Oder:  "Die Vertreter verschiedener Völker streiten darüber, welcher Nationalität Lenin war. Der Russe erklärt: `Er war Russe.´ -`Wieso?´ - `Er ist in Russland geboren, hat die russische Revolution gemacht und ist in Russland beerdigt.´ - Sagt ein Finne: `Er war Finne.´ - `Wieso?´ - `Er hat sich vor dem Zaren in Finnland versteckt, dort die russische Revolution vorbereitet und sein wichtigstes Lebenswerk in Finnland geschrieben.´ - Meldet sich ein Deutscher und sagt: `Er war Deutscher.´ - `Wie das?´ - `Er ist in Simbirsk geboren, nicht weit vom Gebiet der Wolgadeutschen, hat in Berlin gearbeitet und fühlte sich schon immer zu Deutschland hingezogen.´ Sagt der Tschuktsche: `Lenin war Tschuktsche.´  - `Und weshalb?´ - `Er war sehr klug.´ Ich gestehe, dass ich die Tschuktschen-Witze, in denen das kleine Volk der Tschuktschen so schlecht wegkommt, nicht besonders mag. Aber - schließlich amüsieren wir uns ja auch über die Ostfriesen-Witze. Juri Rytchëu in seinem Buch "Alphabet meines Lebens": "In der tschuktschischen Folklore gibt es humoristische Erzählungen, die einem Witz oder einer Anekdote ähnlich sind,  in ihnen sind meist Tiere die Akteure. In russischen Witzen dagegen Menschen. Am liebsten sind die anonymen Witze, die sich vor allem über ethnische Besonderheiten lustig machen. So gab es beispielsweise eine Zeit der armenischen Witze, und mit wundersamer Beständigkeit werden jüdische Witze erzählt. Doch nie hätte ich mir träumen lassen, dass mein kleines tschuktschisches Volk Held zahlloser Witze werden würde, in denen mein Landsmann als naiver Idiot dargestellt wird, der in die unterschiedlichsten komischen Situationen gerät. (...) Einmal, in einem kleinen Kurort  wo wir im Sommer einen Bungalow des Literaturfonds gemietet hatten, hörte ich durchs Fenster folgenden Dialog meiner Frau mit einem Nachbarjungen: `Stimmt es, dass es in Eurer Familie Tschuktschen gibt?´, fragte der Junge. - `Ja, das stimmt´, antwortete meine Frau. Guck mal durchs Fenster! Da sitzt einer am Computer.´ Der Junge blickte mich lange Zeit mit unverhohlener Verwunderung an und sagte dann wie zu sich selbst: `Und ich dachte, Tschuktschen gibt es nur in Witzen.´"

 

 

Andre Länder, andre Wohlgerüche (LESEPROBE aus " Diesseits und jenseits des Polarkreises")

 

"Wir fliegen mit einem Hubschrauber des Typs Mi 4 zusammen mit Gorki, Ostrowski, Shakespeare, Aitmatow, Rasputin, Strittmatter und vielen anderen Freunden (in Buchform mit Bibliothekseinband) über endlos anmutende unbewohnte Tundra. Immer wieder glänzen kristallklare Seen zu uns herauf, in einigen tummeln sich von keinerlei Anglern gefährdete Fische, aus hundert Meter Höhe mit dem bloßen Auge zu besichtigen. Der Himmel ist strahlendblau, die Sonne bescheint graue, rote, schwarze Kegelberge vulkanischen Ursprungs, auf einigen glitzert schon Neuschnee.

Nach zwanzig Minuten siehst du eine große Jaranga, es ist das zentrale Zelt der von uns gesuchten Rentierhirten. Über Funk hatten wir ihren Aufenthaltsort ausgekundschaftet. Wir sind neugierig auf die Rentier-Tschuktschen, die sich oft Hunderte Kilometer von ihren komfortablen Siedlungen entfernt, einer so überaus rauen Natur stellen. Und den Wölfen. Und den Bären.

Äußeres und Wesen der ehemals durchweg nomadisierenden Tschuktschen (gemeint sind die Rentier-Tschuktschen im Gegensatz zu den sesshaften Küsten-Tschuktschen) werden von verschiedenen Autoren verschieden ausgelegt. Nicht immer verbirgt sich Bösartigkeit hinter Abfälligkeit, oft ist es wohl einfach nur das Messen von Menschen anderer Nationalität und Mentalität mit der eigenen Elle.

Im `Geographischen Handbuch´ des Verlages Velhagen & Klasing von 1882 werden die Rentier-Tschuktschen so beschrieben: `Kurz, mit enggeschlitzten, ausdruckslosen Augen. Ihr Wesen ist düster und dumpf. Es ist, als ob ihre leibliche und geistige Entwicklung durch Klima und Hunger gehemmt wäre. Unbekannt mit den Lebensgenüssen, vegetieren sie in einer ertötenden Eintönigkeit. Der Blutumlauf ist langsam, der Herzschlag schwach, der Geruchssinn fast erstickt.´

Ich habe mir nun mal die Mühe gemacht, Aussagen von Autoren herauszufinden, die genau das Gegenteil feststellen:

Kurz? Georg Kennan, 1867: `Viele von den nomadisierenden Tschuktschen zählen zu den größten und stärksten Männern, die mir je zu Gesicht gekommen sind.´

Enggeschlitzte, ausdruckslose Augen? Gustav A. Ritter, um 1900: `Alle haben ziemlich große Augen, der Blick ist frei.´

Düsteres, dumpfes Wesen? Adolf Erik Freiherr von Nordenskiöld, 1879: `Sie besitzen stark ausgeprägten Kunstsinn, ihre Erscheinung ist angenehm, die Haltung stolz.´

Gehemmte Entwicklung? `Die Völker der Erde´, begründet von Bonifacius Platz, um 1900: `Die Tschuktschen sind sehr bildungsfähig, arbeitsam und so gastfrei, dass sie dem Gast oft den letzten Vorrat vorsetzen.´

Ertötende Eintönigkeit? `Länderbuch´ der Verlagsdruckerei `Merkur´, um 1900: `Bei den Tschuktschen sind Belustigungen, wie Kampfspiele, Wettläufe, Wettfahrten üblich.´

Ich sah hünenhafte und kleine Tschuktschen; bescheiden gesenkte Augen und hellwache; von der Jagd auf Wölfe völlig übermüdete Tschuktschen und quicklebendige, zu jedem Spaß bereit; in sich zurückgezogene Menschen, eins mit der Weite der Tundra, und bildungshungrige, in der Schule schon unzufrieden mit einer Zwei.

Wenige Meter von der Jaranga entfernt klettern wir aus unserem Hubschrauber. `Jetti, jetti!´ (wörtlich: `Bist du gekommen?´) rufen uns zwei Frauen zur Begrüßung zu. `I-i!´ (`Ja!´) rufen wir gelehrig zurück.

Rultive Ankam gehört zu den Frauen, die auch heute noch mit ihrem Mann das harte Leben in der Tundra teilen. Tanja Kymytwal wird nach den Sommerferien zur Fachschule für Rentierzüchter gehen. Hier, bei Rultive Anklam, ist sie nach Abschluss der 10. Klasse im Praktikum, um zu lernen, eine Jaranga aufzubauen und einzurichten, über offenem Feuer Tschuktschengerichte zu kochen, Rentierfleisch zu trocknen und zu räuchern, nach althergebrachtem Schnitt (aber doch schon mit der Nähmaschine) die Sommer- und Winterbekleidung der Hirten zu nähen, die Hüte- und Schlittenhunde zu versorgen. Mich kann Rultive Ankam gerade noch vor einer zähnefletschenden Hundeschnauze retten; die arbeitsgewohnten Eskimohunde langweilen sich im Sommer so, dass sie nichts dagegen haben, sozusagen mal zur Abwechslung in ein Gästebein zu beißen.

Bei unserer Ankunft waren die beiden Frauen gerade dabei, die Narten - die Hundeschlitten - kunstgerecht zu beladen; denn die Herde ist äsend schon weit weggelaufen, so dass die beiden Frauen mit dem ganzen Hausrat schnellstens hintereilen müssen.

Rultive Ankam hat fünf Söhne, `leider´ bedauert sie, `fühlt sich nur einer der Tundra verpflichtet...´

Die Fünfzigjährige und die Sechzehnjährige sind Tschuktschinnen. Auf Tschukotka besteht eine Rentierzüchterbrigade aus elf Personen, durchschnittlich 40 Prozent davon sind Frauen. Und so sieht die nationale Zusammensetzung der Brigaden aus: Die größte Gruppe bilden mit 80,1 Prozent die Tschuktschen, es folgen mit 10,7 Prozent die Ewenen (10 Prozent sind Frauen), dann mit 3,2 Prozent die Tschuwanzen (2,4 Prozent sind Frauen), auch 0,4 Prozent Russen und 0,4 Prozent Ukrainer versuchen sich in der Rentierzucht; denn gegenwärtig herrscht bei Rentierhirten und -züchtern beängstigender Personalmangel. Bei den Eskimos stoßen alle Werbefeldzüge auf taube Ohren. Die Meerestierjäger ziehen es vor, da ja heute die Meerestierjagd sehr eingeschränkt ist, Fischer zu werden oder - Pelztiere zu züchten, `die man wenigsten mit Meeresgetier füttern kann´.

Rultive Ankam fragt zweifelnd, so scheint es uns, ob sie die von fernher gekommenen Gäste in die Jaranga bitten dürfe.

Auf den ersten Blick bietet das Innenlegen dieses Wohnzeltes ein wüstes Durcheinander: in einer Ecke ein aufdringlich riechender Haufen noch unbearbeiteter Rentierfelle, in einer anderen ein zum Räuchern bestimmter blutiger Fleischberg; hier eine Menge rohe Rentierlungen und eine Masse getrockneter Fisch, Nahrung für die Hunde; da ein Haufen frisch abgezogener Rentierläufe und hier große Fleischstücke, vorbereitet für das Abendessen; auf Leinen hängen zum Trocknen Rentiersehnen, mit denen die Torbasen (Fellstiefel) genäht werden sollen, und schon bearbeitete Felle, aus denen an Ort und Stelle die Winterkleidung - ein Fell mit dem Haarkleid nach außen, eins mit den Haaren nach innen - gefertigt wird; an den Wänden Säcke aus Rentierleder zum Aufbewahren von Nahrungsmitteln; nahe dem Eingang das offene Feuer mit dem rußgeschwärzten brodelnden Kochkessel.

Die Nase, das lässt sich denken, möchtest du dir am liebsten zuhalten.

Von Rultive Ankam erfahren wir jedoch sogleich, dass das Innere einer Jarana - Stillleben nur für europäische Augen - ganz und gar sinnvoll untergliedert ist: in den Schatjor, den Wohnraum der Brigade; in dem alle Brigademitglieder - sich gegenseitig wärmend - eng beieinander liegen; in den Tschottagin, den ungeheizten Teil der Jaranga für die Hüte- und Schlittenhunde, die äußerlich Wölfen ähnlich, nur ihrem Herrn gehorchen.

Und was den Geruchssinn angeht - er ist bei den Einheimischen durchaus nicht erstickt, sondern im im Gegenteil `ungewöhnlich gut entwickelt´ (Nikolai Schundik in: `Der weiße Schamane´).

Mit Aufgeschlossenheit dem fremdem Unbekannten gegenüber wäre zu sagen: Andre Länder, andre Wohlgerüche!

Dann gehen wir noch einmal in die Luft, um die Rentierhirten und -züchter mit ihrer Herde zu suchen. Nach wenigen Minuten sind sie schon in Sicht. Wir landen zwei Kilometer entfernt, um die halbwilden scheuen Tiere nicht aufzuschrecken. Auf den zwei Kilometern zu Fuß staunen wir nicht schlecht über die Artenfülle der arktischen Vegetation. Wir bewundern schneeweißes Wollgras, das sich im - ausnahmsweise - hauchzarten Winde wiegt, blaue Glockenblumen, violettes Sedum, rote Preiselbeeren; gelbe, lila, orange, braune, hellblaue Blüten; ich erfreue mich noch an den zwischen den Seiten meines Notizbuches getrockneten Pflanzen beim Schreiben dieser Zeilen. Unser Begleiter Tolja weiß, dass siebenhundertzweiundsechzig Arten arktischer Blütenpflanzen bekannt sind, dreihundertzweiunddreißig Moos- und zweihundertfünfzig Flechtenarten. Die Baumvegetation besteht hier, jenseits des geschlossenen arktischen Waldes, immerhin noch aus etwa kniehohen Zwergbirken und Weiden. Der Brigadeleiter ist Nikolai Änuk. Seit fast dreißig Jahren ist er im ständigen Weidewechsel hinter den Rentieren her. Das sind mehr als dreißigtausend Kilometer, meist zu Fuß.

Im Tschuktschenland weidet die größte Rentierherde der Welt, eine dreiviertel Million Tiere. Das Rentier, auch Ren, gehört zu den wenigen Säugetieren, die unter den extremen Bedingungen des hohen Nordens von dem Vorhandenen leben können. Über das Ren hat Nikolai Änuk viel Interessantes, ja Außergewöhnliches zu erzählen. Und so erfahren wir, dass das Ren die einzige Hirschart ist, bei der beide Geschlechter ein Geweih tragen. Dann hat das Ren die ungewöhnliche Fähigkeit, lange ohne Salz auszukommen. Den lieben langen Polarwinter über lebt das anspruchslose Ren nur von Schnee und Rentiermoos, das es mit Hufen, Muffel und Geweih ausgräbt. Wodurch das Fleisch vom Rentier dreimal weniger kostet als das von den anderen in den gleichen Gebieten aufgezogenen Fleischtieren.

Im winterlichen Hungerdasein zehrt das Rentier oft alle Reserven, dabei auch bis zu ein Fünftel der Muskeln auf. Typisch für die Tundrarentiere ist, dass sie je nach der Jahreszeit ihre Wohngebiete wechseln, wobei sie teilweise große Wanderungen über Land und eisbedecktes Meer antreten.

Zu Beginn des Sommers führt der Zug der Rentiere weit nach Norden, im dunklen Polarwinter dagegen suchen sie die an die Tundra grenzenden lockeren Waldbestände auf, die ihnen Schutz vor dem eisigen Sturm bieten. Noch vor Eintritt des Frühlings verlassen die Rene diesen Schutzstreifen wieder, um zurück in die offene Tundra zu eilen. Hier sind sie einigermaßen sicher vor den gefürchteten Stechmücken, Dasselfliegen, Rachenbremsen und anderen Insekten, aber auch vor der sommerlichen Wärme, da die extreme Anpassung an das arktische Klima - auch im Sommerfell - den Wärmeausgleich behindert. Und auch Rätsel gibt uns das Ren auf: Haben alle Paarhufer zwei Lungenflügel, hat das Rentier drei. Früher vermutete man, dass es sie braucht, um beim schnellen Lauf nicht außer Atem zu kommen. Heute weiß man aber, dass das Ren bei wildem Lauf nur siebenmal mehr Sauerstoff braucht als im Ruhezustand, während der Mensch das Zehn- und Vierzehnfache benötigt. Demnach müssten dem Rentier zwei Lungenflügel durchaus genügen.

Auch einen anderen Umstand weiß man bis heute nicht zu deuten. Wenn die Rentiere durch die Tundra laufen, hört man ein Geräusch wie elektrisches Knistern. Die Rentierzüchter nennen es `Geläut´. Was bedeutet, es, wie kommt es zustande? Das weiß auch Nikoali Änuk nicht zu erklären, trotz seiner jahrzehntelangen Berufserfahrung.

Ein tschuktschisches Sprichwort lautet: `In der Herde braucht´s Beine statt Arme.´ Wie wichtig jedoch auch die Arme des Rentierhirten sind, zeigt uns Nikoali Änuk, als er mit dem zwanzig Meter langen Schajut, dem Lasso, auf Anhieb das zum Schlachten bestimmte Ren einfängt. `Ja´, nickt er, `auch Köpfchen muss ein Rentierzüchter haben, Kombinationsgabe zuzusagen, geboren aus Überlieferung, eigener Erfahrung, wissen um die Rentierpsyche und plötzlich wechselnde Wetterbedingungen. Zur rechten Zeit muss der Rentierzüchter wissen, was zu tun und was zu unterlassen ist. Verzögert er eine Entscheidung, so kann es Hunderte von Tieren das Leben kosten.´ Heute muss auch jedes Mitglied einer Rentierzüchterbrigade mit neuer Technik umgehen können und veterinärmedizinische Grundkenntnisse besitzen.

Aber trotz kettengetriebener Geländefahrzeuge, trotz ständiger Funkverbindung zum Sowchos, trotz Schichtarbeit - damit die Hirten in bestimmtem Rhythmus mit ihren Familien zusammen sein können - ist der Beruf des Rentierzüchters noch immer einer der beschwerlichsten. So erzählt Nikolai Änuk, der mittelgroße wettergehärtete Mann: `Einmal wurden die Tiere von Myriaden von Stechmücken so gepeinigt, dass sie panikartig einem aufgekommenen erfrischenden Nordwind entgegen rannten. Nach drei Tagen ununterbrochener Jagd hatte ich das Leittier endlich eingeholt und konnte die Herde zum Stehen bringen. Wäre mir das nicht gelungen, hätten sich die Tiere in alle Himmelsrichtungen zerstreut, dem Tode geweiht. Unsere Herde besteht aus zweitausend Tieren, wovon jedes Ren im Jahr fünfzig Hektar Weideland beansprucht. Tag und Nacht muss die Herde bewacht werden, auch bei Schneesturm und klirrendem Frost. Und im Winter, da werden wir fast jede Nacht von Wölfen heimgesucht.´ Nach Angaben des Jagdoberinspektors von Tschukotka sind innerhalb der letzten sechs Jahre 29 500 Rentiere von Raubtieren, meist Wölfen, getötet worden.

Was Wunder, wenn ein Teil der Jugend - da Komfort auch in die arktischen Breiten eingezogen ist - nach nicht ganz so rauen Berufen Ausschau hält."

 

 

 Das Neueste vom Rentier: 2011 berichteten Forscher in einer Studie im "Journal of Experimental Biology", dass Rentiere UV-Licht wahrnehmen. Ultraviolettes Licht können die meisten Säugetiere nicht sehen; denn ihre Linsen filtern dieses sehr kurzwellige Licht aus dem Gesamtspektrum des Sonnenlichts heraus, wodurch besonders empfindliche Teile des Auges wie die Netzhaut vor möglichen Schäden durch die energiereiche Strahlung geschützt bleiben. Rentieren hilft die UV-Sicht, in den weiten Schneelandschaften ihres Lebensraumes überlebensnotwendige Futterquellen oder Fressfeinde leichter auszumachen. Die Sicht der Tiere reicht in Wellenlängenbereiche, die für das menschliche Auge nur durch technische Hilfsmittel sichtbar gemacht werden können. "Es bleibt die Frage, warum UV-Licht die Augen von Rentieren nicht zu schädigen scheint", rätselt Glem Jeffery vom University College London, Hauptautor der Studie. "Vielleicht ist es nicht so schädlich für die Augen, wie wir bisher dachten? Oder die Rentiere haben einen einzigartigen Weg gefunden, sich zu schützen. Davon könnte man lernen, neue Strategien zum Schutz vor oder für die Behandlung von UV-Schäden am menschlichen Auge zu entwickeln, wie sie etwa bei Schneeblindheit entstehen."

 

 

Warten auf Flugwetter (LESEPROBE aus " Diesseits und jenseits des Polarkreises")

 

"Im fernab gelegenen Lawrentija ist das Hotel `Norden´ bis unters Dach besetzt. Ich staune darüber so, dass ich den erstbesten Hotelgast nach Woher und Wohin befrage. Es ist der Pelztierjäger Roman Armaritschin, ein Tschuktsche aus Uëlen. Er hatte Urlaub, wollte sich `auf dem Festland´ die Stadt Uëlen ansehen, einen Abstecher in den Kaukasus machen und mal in Mittelasien `vorbeigucken´. Ein Nordbewohner bekommt nur alle drei Jahre Urlaub, dann aber gleich ein halbes Jahr, denn bei den weiten Wegstrecken würden die wenigen europäischen Urlaubswochen im wahrsten Sinne des Wortes nicht hin und nicht her reichen. Doch ohne Mittelasien erblickt zu haben, war Roman Armaritschin vorzeitig zurückgekehrt. `Heimweh hatte ich, oh, was für ein schreckliches Heimweh.´ Überall sei es interessant gewesen, beeilt er sich zu versichern..., aber Tundra bleibe Tundra, für ihn jedenfalls. Er könne es kaum erwarten, bis die Zeit der Jagd auf Polarfüchse wieder heran sei. Jetzt allerdings warte er, wie die meisten anderen Hotelgäste auch, schon den neunzehnten Tag auf Flugwetter. Mal seien dichter Nebel und Sturm in Lawrentija, mal in Uëlen, mal auf der durchweg gebirgigen Flugstrecke. Mit so ein bisschen Verspätung müsse man im hohen Norden immer rechnen, denn die Sicherheit der Fluggäste, das sagt er sehr stolz, gehe hier über alles. Bei dem Gedanken, was unser Chefredakteur dazu sagen würde, wenn wir mit `so ein bisschen Verspätung´ wieder in Berlin einträfen, läuft es mir kalt den Rüchen hinunter.

Während des Mittagessens informiert uns unser Betreuer Tolja, dass in dreißig Minuten ein Hubschrauber nach Uëlen starte und wir mit ebendiesem Hubschrauber fliegen würden. Obwohl der `tolle Tolja´ das so sagt, als wäre dies das Selbstverständlichste der Nordhalbkugel, bleibt uns vor Überraschung fast der Rentierbissen im Halse stecken. Ganz ruhig fügt Tolja dann noch hinzu, dass er uns rate, Kleidung zum Wechseln mitzunehmen, denn er habe in Uëlen schon einmal achtundzwanzig Tage auf Rückflugwetter warten müssen. (Als wir in Berlin mit dem Finger auf der Landkarte unsere Konzeption erarbeiteten, hatten wir für den Katzensprung von Lawrentija nach Uëlen einen halben Tag eingeplant.)

Nun nicken wir (scheinbar) nördlich ruhig wie Tolja mit dem Kopf, so als fänden wir es ganz selbstverständlich, mehr als einen Jahresurlaub in Uëlen auf einen Rückflug zu warten. Dann stürze ich ins Zimmer und weiß nicht, was ich für einen Ausflug, der Stunden dauern soll und Wochen währen kann, mitnehmen soll.

In Lawrentija gab es ab Mitte der neunziger Jahre lange überhaupt kein Gehalt, "stattdessen wurden Lebensmittel zugeteilt wie im Krieg. (...) So gab es zum Beispiel 500 Gramm Zucker im Monat. Butter hätten sie vor ein paar Monaten nach knapp fünf Jahren wieder zum ersten mal gesehen und gegessen. Ein Feiertag sei das gewesen. (...) Ein Blick in den kleinen, nicht gerade opulent bestückten Laden von Lawrentija lässt mich ungläubig staunen. Eine Flasche Cola kostet hier fast zehn Mark. Auch sonst ist alles rund 200 Prozent teurer als zum Beispiel in Moskau, und Moskau ist ein teures Pflaster verglichen mit dem übrigen Russland. Alles muss mit dem Schiff oder einem Flugzeug hierher transportiert werden; das macht sich bei den Preisen bemerkbar. Wer heutzutage hier wohnt, sitzt in der Falle." (Zu Sowjetzeiten kosteten die Waren im hohen Norden genau soviel wie im übrigen Russland!)

Thomas Roth in: Russisches Tagebuch, 2002

Auf dem Flugplatz von Lawrentija steht Hubschrauber an Hubschrauber, beliebtestes Luftverkehrsmittel des hohen Nordens. Es wimmelt hier von Menschen wie auf einem orientalischen Basar. Beim besten Willen kann ich mir nicht vorstellen, was all die Leute ausgerechnet im äußersten Nordosten der Sowjetunion zu suchen haben.

Nun, da sind Meteorologen, Geologen, Glaziologen, Archäologen; Urlauber, Studenten, Ferienlagerkinder; Töchter, Söhne, Eltern, Verwandte, Bekannte... Und - unglaublich - alle lächeln verständnisvoll-freundlich, da wir - als letzte die ersten - in den Hubschrauber klettern.

Als wir nach zweiundzwanzig Minuten am nordöstlichsten Ziel unserer Träume angekommen sind, hören wir von German Petrowitsch Wolkow, einem der russischen Piloten, dass die Geschwindigkeit einhundertsechzig Kilometer je Stunde betragen hatte, die Höhe zwischen achtzig und zweihundert Metern schwankte, um den noch immer starken Nebel- und Wolkenfeldern auszuweichen. Und streng fügt er hinzu: `Wenn ich Sie durch irgend jemanden zurückholen lasse, säumen Sie nicht, kommen Sie sofort, dann ist das Wetter wieder schlechter geworden.´"

 

Vor und nach dem Zerfall der Sowjetunion: Der "Spiegel" vom Dezember 2000 zitiert den Dorf- und Kolchosvorsteher Arkadij Makuschkin mit den Worten, wenn er zwischen dem Milliardär Roman Abramowitsch und dem Sowjetsystem wählen könnte, würde er das Sowjetsystem zurückhaben wollen, "jedenfalls in der Wirtschaft: Anders kann der Norden nicht überleben." Diese "jungen Burschen wie Abramowitsch", fürchtet er, würden "den ungeheuren Reichtum Tschukotkas unter sich aufteilen". Kein Wirtschaftszweig auf Tschukotka, der nicht Not leidend ist. Selbst die Goldgewinnung, seit 1998 um fast die Hälfte im Jahr gesunken, ist inzwischen unrentabel. Tuberkulose, Trunksucht, hohe Selbstmordraten, 70 Prozent Arbeitslosigkeit. "Tschukotka", schreibt die "Wersija", "droht der Tod". Wozu braucht Roman Abramowitsch das seit dem Zerfall der Sowjetunion von der russischen Regierung im Stich gelassene Land? Der "Spiegel" vermutet, dass eine einflussreiche Kreml-Fraktion Abramowitsch stützt. "Wladimir Putin lässt sie mit Verve verbreiten, sei entzückt vom praktischen Patriotismus des angeblich langjährigen Kämmerers der Jelzin-Familie. Um Gnade zu finden beim neuen Zuchtmeister der russischen Nation sei es für neureiche Reformgewinnler durchaus der rechte, vielleicht sogar der einzige Weg, sich heruntergewirtschafteter Regionen anzunehmen. Schon den Einzug ins russische Zentralparlament hatte sich der bis dahin öffentlichkeitsscheue Geldmann mit Wohltaten für die auf Notration gesetzte Bevölkerung gepflastert. Pro Kopf ließ Abramowitsch 120 Kilogramm Lebensmittel verteilen. Vor der Gouverneurswahl, die er dann 2000 auch tatsächlich gewann, waren es sogar 150 Kilogramm, die der Dampfer "Wassilij Glawnik" aus Wladiwostok heranschaffte.

 

Im nordöstlichsten Wohnort Russlands (LESEPROBE aus "Diesseits und jenseits des Polarkreises")

 

"Die Siedlung Uëlen steht auf einer steinigen Landzunge zwischen Meerenge und Lagune, ganze vier Kilometer breit und fünfzehn Kilometer lang. Achthundertsiebzig Menschen wohnen hier, vorrangig Tschuktschen, wenige Eskimos, etwa fünfzig Russen - Spezialisten von Ausbildungsstätten, der Polarstation, der Grenzsicherung.

Jenseits der Beringstraße liegt - bei günstigem Wetter von Uëlen mit dem Fernglas auszumachen - Alaska, der 49. Bundesstaat der USA.

 

"Als Ende 1954 in Moskau der zweite Volkskongress des sowjetischen Schriftstellerverbandes beginnt, hat sich äußerlich noch nicht viel verändert. Das Volk hat im März 1953 aufrichtig um Stalin getrauert. Der geliebte Vater der Nation ist neben Lenin im Mausoleum beigesetzt worden. Bis jetzt weist nichts auf die bevorstehende Enthüllung der Gräueltaten hin, obwohl Stalins treuester Adjutant, NKWD-Chef Lawrenti Berija noch im selben Jahr hingerichtet und aus der Großen Sowjetenzyklopädie der Sowjetunion gestrichen worden ist. (Abonnenten im In- und Ausland sandte man ein lose eingelegtes Blatt über die Beringstraße zu und wies sie an, dieses über das Stichwort `Berija´ zu kleben.)

Frank Westerman in: Ingenieure der Seele, 2003

 

1867 hatte Zar Alexander II. das seit seiner Entdeckung 1741 durch Bering und Tschirikow in russischem Besitz befindliche Land verschachert: 1 518 800 Quadratkilometer für 7,2 Millionen Rubel. Auf diese lächerlich geringe Summe hatten sich Russlands Beauftragter Stoeckl und Amerikas Außenminister Seward verständigt. Der Zar brauchte Geld, und den Amerikanern lag an dem Wohlwollen der Russen. Zwei Jahre zog sich dennoch die Tilgung der vereinbarten Summe hin, denn der amerikanische Kongress konnte und konnte sich nicht entschließen, dieser - wie man gemeinhin meinte - Fehlinvestition Sewards zuzustimmen. Als man in St. Petersburg bereits erwog, die Amerikaner in einer gleichermaßen zynischen wie stolzen Note aufzufordern, entweder sofort zu zahlen oder Alaska als Geschenk anzunehmen, traf endlich der telegraphisch übermittelte Vertrag ein, von Seward auf eigene Kosten für neuntausend Dollar nach St. Petersburg durchgegeben. Für die Amerikaner war Alaska fortan `Sewards Kühlschrank´ oder `Sewards Unfug´. Doch schon dreißig Jahre später brach der Klondike-Goldrausch aus, und man entdeckte außerdem reiche Vorkommen an Erdöl, Kupfer, Zinn, Chrom, Platin. Ein Jahrhundert nach dem Verkauf Alaskas - 1968 - fand man im arktischen Gebiet der Prudhoe-Bai riesige Mengen Erdöl und Erdgas. Reiche Konzerne sicherten sich jenes Gebiet für neunzig Millionen Dollar - zwölf mal mehr, als der russische Zar für ganz Alaska einst erhalten hatte. `Sewards Unfug´ war zum großen Geschäft der USA geworden.

Überhaupt haben die Amerikaner von Alaska aus noch bis in die zwanziger Jahre ihre einträglichen Geschäfte mit den Ureinwohnern Tschukotkas betrieben. Die alten Einwohner Uëlens wissen noch zu bestätigen, dass zum Beispiel der Preis für ein einziges Pud Tabak der amerikanischen Firma Hudson - die eine Niederlassung im so nahe gelegenen Uëlen hatte - achtzig (!) Walrossstoßzähne betrug.

Die Stoßzähne eines ausgewachsenen Walrosses werden bis zu fünfundsiebzig Zentimeter lang, ein Zahn wiegt etwa zwei Kilogramm. Sie dienen zur Nahrungssuche, zur Verteidigung, zum Klettern auf Eisschollen und dazu, Löcher in das Eis zu schlagen. Solange die Walrosse von den Ureinwohnern mit Pfeil und Handharpune gejagt wurden, war ihr Bestand durch nichts bedroht. Doch dann kamen Anfang des 19. Jahrhunderts die ausländischen Elfenbeinjäger mit ihren Feuerwaffen. Heute, da nur noch einigen wenigen Völkern des hohen Nordens die Jagd auf Walrosse gestattet ist, wuchs ihre Zahl in den sowjetischen Küstergewässern in den vergangenen zwei Jahrzehnten auf das Dreieinhalbfache an. Allein im Beringmeer, in der Tschuktschensee und in der Ostsibirischen See zählte man kürzlich wieder einhundertachtzigtausend Tiere.

Vom Hubschrauberlandeplatz laufen wir etwa einen Kilometer durch Uëlen, vorbei an schmucken Holzhäusern - wo noch vor wenigen Jahrzehnten nur Jarangas standen. Schnee und Sturm wüten hier, dass uns Hören und Sehen vergeht. Es scheint, als seien die beiden Ozeane um des winzigen Stückchen Landes wegen in bitterbösen Streit geraten. Unser Ziel ist eins der wenigen zweigeschossigen Steinhäuser Uëlens, die Uëlener Knochenschnitzwerkstatt.

Seit alters schnitzen und gravieren Küsten-Tschuktschen und Eskimos in die Elfenbeinhauer des Walrosses Szenen ihres arktischen Lebens. Einst taten sie es ohne Wissen um künstlerische Ausdrucksmittel, heute wirken sie als bewusste Künstler.

In der Graveurwerkstatt arbeitet seit 1948 Jelena Janku, weit älter als sechzig, Gesicht und Hände voller Runzeln, unscheinbar im blauen Arbeitskittel. Doch ihre Hände, die Hände einer Verdienten Künstlerin der RSFSR, zaubern märchenhaft schöne Motive auf die Walrosshauer, zum Beispiel `Die Jagd auf Walrosse an ihrem Liegeplatz´: Dicht an dicht lagern die tonnenschweren Tiere bei- und aufeinander - eine Masse von individuell verschieden abgestuften braunen Körpern. Mit unterschiedlich grauen Steinen ist das Meeresufer übersät, am Horizont Kegelberg an Kegelberg. Die ausgesparten Flächen sind nicht einfach hell, sondern bieten sich als unendliche Schneefläche dar.

Ein solches Sujet komme zustande, sagt Jelena Janku, wie ein alttschuktschisches Lied entstand. Da sei es üblich gewesen, in eine bestimmte Melodie einfach Worte einzuflechten, Worte vom Jagderfolg, vom Wetter, von Eis und Schnee... In einem Tschuktschenlied singt man etwa so: `Ich freue mich sehr, dass ich eine Walrosshaut besitze, lass mich ein Lied über die erlegte Walrosshaut ersinnen. Ein Walross liegt auf einer Eisscholle. Jetzt bereite ich die Harpune vor. Harpuniere. Zerre das Walross herbei. Ich freue mich, dass ich eine Walrosshaut besitze...´

Jelena Jankus Lieblingsfarbe ist verhaltenes Graublau, die grellen Farben, so sagt sie, überlasse sie der Jugend. Die Farbgravur gibt es erst seit den vierziger Jahren, davor kannte man keinen bunten Graphit auf Tschukotka; man färbte die mit einem Stichel in Elfenbein eingeritzten Vertiefungen mit schwarzem Ruß.

Jelena Janku bildet an ihrem Arbeitsplatz immer vier Lehrlinge gleichzeitig aus, ihr Gehalt beträgt etwa vierhundert Rubel. Mehr wert als Geld seien ihr, so versichert sie, die warmherzigen Worte des bekannten amerikanischen Malers und Grafikers Rockwell Kent (1882 bis 1971), der ihr 1962 in einem langen Brief aus New York u. a. schrieb: `Die Grafik der Tschuktschen und asiatischen Eskimos auf Walrossstoßzahn ist ein Wunder Ihres Landes. Ihre Kunst, liebe Jelena Janku, ist Lebenswahrheit, durch die die Seele Ihres Volkes erkennbar wird.´

In der Schnitzwerkstatt arbeitet seit 1945 Wassili Kumukai. Anfang der zwanziger Jahre war er einer von denen, die in Uëlen halfen, die Sowjetmacht zu festigen. Jahrelang Komsomolsekretär, dann Mitglied der KPdSU, ist er mit über siebzig noch lange nicht willens, so sagt er, sich zur Ruhe zu setzen. Tut er es irgendwann, so werden viele junge Leute enttäuscht sein. Aus allen möglichen Siedlungen Tschukotkas nämlich kommen sie seinetwegen hierher ins Uëlener Internat. Pawel Numunkal zum Beispiel möchte einmal auf einer Kunstschule studieren. Aber erst will er sich alle Fertigkeiten bei Kumukai abgucken, von dessen Schnitzwundern er schon als kleiner Junge begeistert war. (Mir schenkt Wassili Kumukai einen Walrossstoßzahn, den ich mir seit damals immer mal wieder mit Freude und Hochachtung ansehe.)

 

 

Wassili Kumukai in der Schnitzwerkstatt in Uelen - mit einem seiner Elfenbein-Meisterwerke.

Foto: Detlev Steinberg

 

Das Schnitzen in Elfenbein ist neben der Gravur die zweite Richtung der Elfenbeinkunst der Tschuktschen und Eskimos. Man schnitzt einzelne Tiere und ganze Gruppen. Gerade aalen sich in der Schnitzwerkstatt drei schwerfällige Walrosse in der Sonne, neckt ein Eisbärjunges einen kleinen Seehund, kämpft ein Wolf mit einem Rentier. Aber nicht nur Tiergruppen werden dargestellt, sondern auch Szenen mit Mensch und Tier - es sind regelrechte bildhauerische Kunstwerke. Wassili Kumukai ist Spezialist für Messergriffe. Auf ihnen tummelt sich alles, was im arktischen Norden kreucht und fleucht.

Auffällig ist die Bescheidenheit aller Graveure und Schnitzer - so als ahnten sie gar nicht, was für große Künstler die meisten von ihnen sind.

Alexander Sergejewitsch Jakowtschuk, den jungen Direktor der Uelener Knochenschnitzwerkstatt, fragen wir nach vielen Einzelheiten:

Alexander Segejewitsch, wahrlich, wir haben rare Kunst zu sehen bekommen.

Schön, dass Ihnen unsere Produkte gefallen. Zwischenzeitlich war es gar nicht so einfach, das Niveau dieser mehr als zweitausend Jahre alten Kunst auf diesem hohen Niveau zu halten.

Weil die Meister ausstarben?

Ja, aber es gab auch andere Gründe. Obwohl Uëlen sozusagen am Rande der Welt liegt, dringt über Rundfunk und Presse auch die kleinste Neuigkeit zu uns. Nun, und unsere Meister hatten natürlich den Ehrgeiz, auch die Veränderungen darzustellen. Da aber haperte es damals leider oft noch mit der künstlerischen Ausdruckskraft. Was aber wohl das wichtigste war, alle fertigen Arbeiten gingen früher sofort in den freien Verkauf. Wir hatten keine Möglichkeiten, unsere Lehrlinge an praktischen Beispielen zu schulen. Seit etwa zwanzig Jahren fotografieren wir alle künstlerisch gelungenen Gegenstände und sammeln sie in Alben; sie sind sozusagen unsre Lehrbücher.

Außerdem haben Sie Anfang der sechziger Jahre, so hörten wir, ein Museum eingerichtet...

... in das jedes Original geht. In den Verkauf gelangen heute nur noch Kopien.

Seit wann existieren diese Werkstätten?

Sie wurden 1931 von Wukwutagin gegründet, mit einer Belegschaft von - drei Personen. Der Elfenbeinkünstler Wukwutagin wurde als einer der ersten Tschuktschen mit dem Leninorden ausgezeichnet. Heute arbeiten hier sechzig Menschen, vierzehn davon sind Mitglieder des Verbandes Bildender Künstler der UdSSR.

Aber Ihre Werkstätten tragen nicht den Namen des Begründers...

... sondern den Namen eines anderen Elfenbeinkünstlers aus Uëlen, den Namen des Wukwol. Er wurde 1913 in der Familie eines armen Meerestierjägers geboren. Er war einer der ersten auf Tschukotka, der in die Pionierorganisation eintrat. Wukwol studierte in Moskau und Leningrad. Alle seine Lehrer hielten ihn für ungewöhnlich begabt und talentiert. Er träumte von der Schaffung einer eigenschöpferischen tschuktschischen und eskimoischen Kunst. Aber - Wukwol fiel im Großen Vaterländischen Krieg. Auch die Menschen in der letzten nordöstlichen bewohnten Siedlung der Sowjetunion hat dieser blutige Krieg nicht verschont! Von Wukwol stammt die Gravur auf Walrosselfenbein `Legende um Lenin´. [Wukwol hat 1932 die erste Fibel illustriert.]

Im Magadaner Heimatkundemuseum sahen wir eine Kopie des Walrosszahns `Legende um Lenin´. Was ist das für eine Legende?

Das Original befindet sich im Lenin-Mausoleum in Moskau. Die Legende? An den Lagerfeuern der Tschuktschen erzählte man sich in den zwanziger Jahren, es habe sich ein gerechter Russe zu Fuß nach Tschukotka aufgemacht, um eine immer scheinende Sonne zu bringen. Der Name dieses Russen war Lenin. Von Tschukotka sagt man, es sei die Heimat des Winters. Da wünschen sich die Menschen nichts so sehnlich wie die Sonne...

Sie bezeichnen Ihren Betrieb als Souvenirwerkstatt...

Früher war die Elfenbeinkunst ja nur ein Nebenprodukt. In den grimmigen Wintermonaten, wenn keine Jagd möglich war, vertrieb man sich die Zeit, Gebrauchsgegenstände aus Walrosselfenbein zu schnitzen und zu verzieren, zum Beispiel Harpunenspitzen, Haken zum Abschleppen der erlegten Meerestiere, Schneebrillen, Pfeifen, Eimerhenkel, Tröge, Messer, auch Amulette wurden geschnitzt. Kein Jäger ging früher aufs Meer ohne den aus Fischbein geschnitzten Peliken, den lustigen weisen Gott der Meerestierjäger. Inzwischen wird die Kunst des Schnitzens in Elfenbein hauptberuflich betrieben. Statt Haushaltsgegenstände und Erzeugnisse mit Kultcharakter fertigen wir Kunsterzeugnisse als Andenken und Geschenkartikel. Seit einigen Jahren gravieren wir das steinharte Material nicht mehr mit einem einfachen Stichel, sondern mit Zahnarztbohrern.

Welche Themen werden bevorzugt?

Traditionelle Sujets, die das Leben auf dem Meer und in der Tundra zeigen, neuzeitliche Themen, die wir inzwischen darzustellen gelernt haben, vorrangig Märchen und Legenden. Die Gravuren und Schnitzereien in Walross-Elfenbein sind eine besonders schöne Möglichkeit, die reiche folkloristische Vergangenheit der Tschuktschen und Eskimos zu bewahren. Arbeiten aus Uëlen wurden im Ausland schon auf vielen Ausstellungen gezeigt: in Paris, Brüssel, Montreal, Osaka, Tokio...

Früher beschäftigten sich mit der Elfenbeinkunst ausschließlich Männer...

Das lag an der traditionellen Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau. Die Frau versah alle Arbeiten in der Jaranga. Die Männer aber hatten witterungsbedingt Freizeit. Heute stehen die Frauen den Männern auch in der Schnitzkunst nicht nach. Bei uns arbeiten inzwischen mehr Frauen als Männer. Es gibt bis jetzt aber nur wenige Meisterinnen ihres Fachs.

Wir sahen auch Gegenstände aus Walknochen...

Da wir nicht mehr nur saisonbedingt arbeiten, haben wir Materialmangel. Sie wissen, dass eine bestimmte Anzahl Walrosse gejagt werden darf. Deshalb erschließen wir uns seit 1975 auch andere Materialien: Walknochen und Rentiergeweihe. Obwohl als Material nicht wertvoll ist, haben die daraus geschnitzten Tierfiguren als nördliche Souvenirs doch auch ihren Reiz.

Welchen Wert hat Ihre Jahresproduktion?

1970 produzierten wir Gegenstände im Wert von hunderttausend Rubel, zehn Jahre später betrug die Summe zweihundertdreißigtausend Rubel.

Der bekannte französische Meeresforscher Cousteau beklagt in einem seiner Bücher, dass sich keiner um die traditionelle Elfenbeinkunst der amerikanischen Eskimos sorgt. `Schon das windigste Gekritzel, ein paar ungelenk angedeutete Linien´, so schreibt Cousteau, ´wird von amerikanischen Aufkäufern als wertvolle Ritzzeichnung teuer verkauft.´ Wer bestimmt denn bei Ihnen, was künstlerisch wertvoll ist?

Jedes Sujet muss als Zeichnung eingereicht werden. Ein künstlerischer Rat, dem unsere besten Elfenbeinkünstler angehören, entscheidet dann über die Ausführung. Diesem Urteil beuge auch ich mich, kein Künstler, sondern `nur´ ein Ökonom.

Jedenfalls sehen wir, dass die uralte tschuktschische und eskimoische Elfenbeinkunst bei Ihnen, Direktor Jakowtschuk, in guten (russischen) Händen liegt.

Im Museum der Knochenschnitzwerkstatt zeigt man uns viele, alles einmalige Exponate. Jelena Janku erzählt uns zu einigen Motiven den Inhalt der Märchen. So ist auf einer Brosche das Märchen dargestellt

 

Wie eine Menschenmutter zu einem Walrosskind kam:

*

Vor langer Zeit, da hatten ein Mann und eine Frau einen Sohn. Einmal war es dann so weit, dass der Sohn das erste mal mit seinem Vater zur Jagd gehen durfte. Als sie schon genug Tiere gejagt hatten, beugte sich der Sohn zu weit über den Rand einer Eisscholle, fiel ins Meer und ertrank. Der Mann weinte viele Tränen. Wie fürchtete er sich, nach Hause zu gehen.

Da kam ihm eine Idee. Oft schon hatte er beobachtet, wie sehr eine Walrossmutter ihr Junges liebt. Mindestens zwei Jahre behütet sie es, nimmt es auf den Rücken, wenn es müde ist vom Schwimmen, tätschelt und verhätschelt es.

Er machte sich also auf die Suche nach einem Walrosskind, dessen Mutter gestorben war. Er irrte langer umher, dann fand er auf einer Eisscholle ein verlassenes Walrosskind, das schon ganz schwach war. Er nahm es auf und ging den langen Weg zurück.

Zu seiner Frau sagte er, dies sei ihr Sohn, der böse Geist Kele habe in verzaubert. Sie solle immer nur zärtlich zu ihm sein, vielleicht würde er dann wieder zu einem Menschen werden.

Die Frau war froh, ihr Kind endlich wieder bei sich zu haben - in welcher Gestalt auch immer. Sie behütete es, hätschelte und verhätschelte es - bis sie gar nicht mehr traurig darüber war, dass ihr vermeintlicher Sohn wie ein Walross aussah.

*

So phantasievoll die Motive auch sind, so bewahrt doch fast jeder Elfenbeinkünstler auf der Tschuktschen-Halbinsel die uralte Tradition, auf der einen Seite des Walrosshauers das Leben der Meerestierjäger darzustellen und auf der anderen Seite das Leben der Rentierzüchter in der Tundra. So ist auf der Meerestierseite eines Walrosselfenbeinzahnes das Märchen dargestellt

 

 Wie ein Walkind und ein Küstensohn Brüder wurden.

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Es ist lange her, da bat ein Wal eine schöne Küstenfrau, sie möge mit ihm aufs Meer hinausgehen. Der Küstenfrau gefiel der stattliche Wal sehr. Aber da sie zu Hause einen Mann und einen Sohn hatte, musste der Wal sie sehr lange bitten. Nach einem Jahr brachte die Frau ein Walkind zur Welt. Irgendwann aber bekam sie Sehnsucht nach ihrem Menschenkind. Da erlaubte der Walmann ihr, nach Hause zurückzukehren. Mann und Sohn der Küste waren sehr froh über ihre Rückkehr. In jedem Frühjahr und Sommer kam das Walkind ganz nah an die Küstensiedlung. Da immer viele Meerestiere bei ihm waren, kehrten die Küstenmenschen nie mehr ohne Beute heim. Jedes mal, wenn sich das Walkind dem Ufer näherte, ging der Küstensohn zu ihm. Einer zeigte dem anderen viele Spiele. Beide wussten, dass sie Brüder waren. Eines Tages töteten neidische Menschen der Nachbarsiedlung den Waljungen. Die Küstentschuktschen trauerten sehr lange um den getöteten Waljungen, der eine Menschenfrau zur Mutter gehabt hatte.

*

 

Auffallend viele tschuktschische und eskimoische Märchen erzählen vom innigen Zusammenleben von Mensch und Tier. So ist auf einer Tabakpfeife das Märchen dargestellt

 

Wie sich ein Eisbärenmädchen in einen Jägermenschen verliebt.

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Einst lebte eine Mutter mit ihrem Sohn zusammen, der ein Jäger war. Eines Tages ging der Sohn zur Jagd. Eine Bärin, die am Meer umherstreifte, sah ihn schon von weitem. Um ihn nicht zu erschrecken, schlüpfte sie aus ihrer Bärenhaut. Von diesem Tag an trafen sich die Mädchen- Bärin und der junge Jäger jeden Tag. Schon bald nahm der Jäger die Mädchen-Bärin mit nach Hause, und alle drei lebten friedlich miteinander. Schließlich aber fiel der Mutter auf, dass die Frau ihres Sohnes kein Fleisch aß, sondern nur Fett und Speck. Da ahnte sie, dass diese Frau eine Bärin war. Als der Sohn einmal das Haus verließ, jagte die Mutter die Bärin fort. Der Sohn war sehr traurig, als er hörte, dass seine Frau und die beiden Kinder nicht mehr da waren. Sogleich ging er sie suchen. Er fand sie alle bei den Brüdern seiner Frau. Die Bärenbrüder wussten schon, dass der Mann ihrer Schwester ein Mensch war. Weil ihre Schwester diesen Mann so gern hatte, erlaubten sie ihm, für immer bei ihnen zu leben.

 

*

 Übersetzung der drei Märchen aus dem Russischen von Raisssa Netschajewa,

gesammelt von Gisela Reller

 

Von der Knochenschnitzwerkstatt aus wollen wir noch die Polarstation besuchen. Auf dem Weg dorthin kriegen uns zwei Grenzsoldaten am Rockzipfel zu fassen. Ganz außer Atem bitten sie um unsere sofortige Umkehr. Der Hubschrauber stehe schon startbereit, Nebel in Sicht! Da machen wir eine zackige Kehrwendung und flitzen durch Uëlen, als sei Kele, der legendäre böse Geist der Tschuktschen und Eskimos, hinter uns her. Sofern mir Atem und Beine versagen wollen, stelle ich mir flugs die Leidensmiene unseres Chefredakteurs vor wegen `so einer kleinen Verspätung´ von, sagen wir achtundzwanzig Tagen."

 

 

"Der Tschuktsche achtet körperliche Dienst-leistungen, wenn er nur genug zu essen bekommt, für gering und in seiner Freude über den kargen Lohn an Tabak, Messern und anderem vergißt er, daß er den ganzen Sommer verloren hat, in dem er für den kommenden Winter hätte sorgen können."

Aurel (deutscher Naturforscher und Ethnologe, 1848 bis 1908) und

Arthur Krause (deutscher Naturforscher und

Entdeckungsreisender, 1851 bis 1920)

in: Zur Tschuktschen-Halbinsel und zu den Tlinkit-Indianern, 1881/1882

 

 

Nördlichste russische Hafenstadt (LESEPROBE aus: "Diesseits und jenseits des Polarkreises")

 

"Von Lawrentija fliegen wir mit einer IL 14 nach Anadyr. Hier haben wir nur auf dem Flugplatz Zeit, von unserem lieben Tolja Abschied zu nehmen (der uns wie ihm gleichermaßen schwerfällt). Schon eine Stunde später fliegen wir weiter nach Pewek - Moskau schon eintausend Kilometer und eine Zeitzonenstunde näher.

Seit 1981 gibt es in der Sowjetunion neue Zeitzonengrenzen. Wegen ihres riesigen Territoriums ist die Festlegung einer Zeitrechnung nach Zeitzonen für die Sowjetunion besonders wichtig.

Unser Erdball ist in 24 Zeitzonen eingeteilt, über elf davon erstreckt sich das Sowjetland. Bereits 1919 waren auf der Grundlage der damals bestehenden Verwaltungsstruktur sowie des Weltzeitzonensystems Zeitzonen festegelegt worden; in den unerschlossenen Gebieten des Fernen Ostens und hohen Nordens richteten sie sich nach dem Verlauf von Flüssen, Wasserscheiden oder Längengraden.

Diese Einteilung von 1919 (mit einer Verschiebung von 193 Grad) entspräche nun nicht mehr den - vornehmlich ökonomischen - Erfordernissen. Große sozialökonomische Veränderungen waren unter der Sowjetmacht vor sich gegangen, neue territoriale Produktionskomplexe hatten sich herausgebildet, die Bevölkerung Sibiriens hatte beträchtlich zugenommen, neue Städte waren entstanden. Dadurch veränderten sich auch die ökonomischen, sozialen und kulturellen Beziehungen zwischen den einzelnen Landesteilen. Und so erwies es sich als unzureichend, weiterhin formal nur von dem internationalen Zeitzonensystem und von der Geographie auszugehen. Wichtig war, auch die Arbeitsbedingungen des Verkehrs- und Nachrichtenwesens zu berücksichtigen und den günstigsten Empfang von Rundfunk- und Fernsehsendungen. Besondere Bedeutung haben die Zeitzonen für das einheitliche Energiesystem der UdSSR. Sie ermöglichen es, die Höchstbelastungen landesweit zu steuern.

Auch weiterhin bildet das internationale System die Grundlage für die Einteilung des Landes in Zeitzonen - nach Möglichkeit sind die bestehenden erhalten geblieben. Veränderungen machen sich in erster Linie dort nötig, wo neue Gebiete erschlossen worden sind, neues Leben entstanden ist - zum Beispiel auf Tschukotka, das seit 1981 von einer zusätzlichen Zeitzone durchschnitten wird. In der Hafenstadt Pewek ist es nunmehr eine Stunde früher als auf der Tschuktschen-Halbinsel.

Die arktische Siedlung Pewek wurde 1930 gegründet, 1969 erhielt sie Stadtrecht. Die erste Zinngrube in Pewek (inzwischen gibt es fünf) leitete die industrielle Erschließung Tschukotkas ein.

In Pewek - der Hafenstadt hinter dem Polarkreis - herrscht zweiundvierzig Tag lang ununterbrochen Polarnacht, fünfzig Tage lang ununterbrochen Polartag, der nächste Baum wächst erst dreihundert Kilometer südlich. Nach Pewek führen weder Eisenbahnschienen noch Autostraßen. Die einzige (eisige) Lebensader dieses Gebietes ist die Schiffsverbindung durch das Nördliche Eismeer - der Nördliche Seeweg.

Als Nordöstliche Durchfahrt oder Nordostpassage, in den letzten Jahrzehnten als Nördlichen Seeweg bezeichnet man den Seeweg vom Europäischen Nordmeer zum Stillen Ozean längs der Nordküsten Europas und Asiens nach dem Beringmeer. Er misst von Archangelsk bis zur Beringstraße rund 6 500 Kilometer, bis Wladiwostok 11 250 Kilometer (während der Seeweg von Archangelsk nach Wladiwostok durch den Suezkanal rund 24 800 Kilometer lang ist).

Mit der Erschließung des Nördlichen Seeweges ist ein Jahrtausende währendes gewaltiges Forschungswerk verbunden.

Hunger und Durst, totale Erschöpfung, ständiger ermüdender Kampf gegen die grausame Kälte der arktischen Nacht, das monotone Leben an Bord monatelang im Eis festliegender Schiffe, die ständige Ungewissheit, ob man je die Heimat wiedersehen würde, brachten so manchen Arktisforscher um Verstand und Leben, machten ihn zum Mörder oder trieben ihn zum Selbstmord. In vielen Fällen wird das Schicksal ganzer Expeditionen, die sich hartnäckig den Weg nach Norden bahnten, für immer ein unlösbares Rätsel bleiben.

Schon dreitausend Jahre vor unserer Zeitrechnung machte sich der griechische Astronom, Geograph und Mathematiker Pytheas auf den Weg nach Norden. Irgendwo im Ozean - bis auf den heutigen Tag weiß niemand, wie weit nach Norden die Griechen damals vorgedrungen sind - wird er mit seinen Gefährten vom Treibeis eingeschlossen. `Dort, wo es die uns bekannten drei Grundelemente Erde - Luft - Wasser nicht gibt, sondern nur ein wunderliches Gemisch, worauf der Mensch weder gehen noch mit einem Schiff segeln kann, dort muss die dem Menschen erkennbare Welt enden.´ Die Wikinger, Erich der Rote, Marco Polo, John und Sebastian Cabot (der um 1500 schon den Wal als Quelle des Reichtums entdeckte), Willoughby, Chancelor, Davis, Barents, Hudson, Baffin, Moskwitin, Deshnjew, Bering, Tschitschagow, Franklin, Wrangel, Cook, Stefansson... Namen, von denen viele zu geographischen Begriffen wurden. Namenlos blieben die vielen Tschuktschen und Eskimos, Jakuten, Nenzen, Jukagiren, Ewenken, die so manchem Forscher (oder Abenteurer) den Weg wiesen oder durch Unterkunft und Essen das Leben retteten.

Die eigentliche Geschichte der Jahrhunderte lang unbezwungenen, gefahrenreichste Schiffsroute der Welt beginnt mit dem schwedischen Forscher Nordenskiöld:

1878-1879 Fahrt der `Vega´ mit Adolf Erik Freiherr von Nordenskiöld - mit einer Überwinterung an der Eismeerküste; oft kommen Tschuktschen an Bord.

 

 

Nachdem Adolf Erik Nordenskiölds „Vega“ unter vielen Gefahren die Nordküste Sibiriens umfahren hatte, fror sie Ende September 1878 nordwestlich der Beringstraße

 ein und konnte erst am 18. Juli 1879 ihre Reise fortsetzen.

Zeichnung aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

1893-1896 Fridjof Nansen driftet mit der `Fram´ über das Polbecken.

1899-1901 Der russische Eisbrecher `Jermak´, das erste Schiff der Welt, das zum Durchbrechen dicker Eisschichten in der Lage war, erreicht unter Admiral Makarow Spitzbergen und Nowaja Semlja.

 

 

1914 Der russische Flieger Nagurski unternimmt die ersten erfolgreichen Arktisflüge.

1928 Durch einen Beschluss des Rates der Volkskommissare der UdSSR wird die `Hauptverwaltung Nördlicher Seeweg´ gegründet. Ihre Aufgabe: den Nördlichen Seeweg vom Weißen Meer bis zur Beringstraße endgültig festzulegen, ihn in möglichst einwandfreiem Zustand zu halten und die Sicherheit der Schifffahrt zu gewährleisten. - Der sowjetische Eisbrecher `Sibirjakow´ meistert die Nordöstliche Durchfahrt ohne Überwinterung.

1933-1934 `Die Tscheljuskin´ wird an abgelegener Stelle vom Eis zerdrückt, die gesamte Besatzung durch Flugzeuge gerettet; Eskimos mit Hundeschlitten weisen den Weg.

1934 Der Eisbrecher `Litke´ meistert die Durchfahrt ohne Überwinterung. An Bord befinden sich Exemplare der ersten tschuktschischen Fibel.

1937 Erste Flugzeuglandung am Pol. Errichtung der Station `Nordpol 1´ durch den sowjetischen Forscher Papanin.

1941-1945 Überführung von Kriegsschiffen von Ost nach West und umgekehrt.

1953 Beginn des regelmäßigen Passagierschiffsverkehrs.

1959 Der erste Atomeisbrecher, die `Lenin´, wird in Dienst gestellt.

1975 Der zweite Atomeisbrecher, die `Arktika´, beginnt mit dem Geleit von Frachtern während der Polarnacht.

1977 Am 17. August erreicht die `Arktika´ als erstes Überwasserschiff den geographischen Nordpol.

1978 Der dritte Atomeisbrecher, `Sibir´, wird in Dienst gestellt; auf einigen Abschnitten des Nördlichen Seeweges kann so die Schifffahrtsperiode bereits auf zehn Monate im Jahr ausgedehnt werden.

1982 Operation `Arktis 82´ - es werden 136 000 Tonnen mehr Güter nach Tschukotka geliefert als 1981.

1983 Es kommen Spezialfrachter eines neuen Typs der `verstärkten Eisklasse´ zum Einsatz. Das erste Schiff dieser Serie, die `Igarka´, absolviert im Frühsommer ohne Eisbrecherbegleitung eine Nonstopreise von Leningrad bis Pewek.

Oktober 1983 Drei Wochen lang wird bei extremen Wetterbedingungen im Ostabschnitt des Nördlichen Seeweges ein äußerst schwerer Kampf um siebzig im arktischen Eis eingeschlossene Schiffe geführt. Mit Hilfe des Krisenstabes in Pewek und durch konzentrierten Einsatz der gesamten Eisbrecherflotte, vor allem der atomar angetriebenen Schiffe `Sibir´ und `Leonid Breshnew´ mit je 75 000 PS sowie der `Lenin´ mit 44 000 PS, kann eine Katastrophe abgewendet werden. - Die Arktisflotte erhält einen völlig neuen Schiffstyp: Leichtertransporter. Der erste nimmt 82 Leichter mit je 380 Tonnen Tragfähigkeit an Bord, die am jeweiligen Bestimmungsort zu Wasser gelassen werden und dann selbständig ihre Reise, zum Beispiel auf kleinen Flüssen, fortsetzen. - In Kertsch beginnt inzwischen der Bau eines atomgetriebenen Leichterschiffes.

Anfang des 21. Jahrhunderts Der Nördliche Seeweg soll die Baikal-Amur-Magistrale (BAM) beim Güterumschlag noch übertreffen!

 

Das Nordpolarmeer ist mit 14 Millionen Quadratkiolometern zwar der kleinste Ozean, aber immer noch fast so groß wie Russland oder anderthalbmal so groß sie die USA. Seine Festlandsockel nehmen im Verhältnis mehr Raum ein als bei jedem anderen Ozean, was einer der Gründe ist, warum es schwer ist, sich auf Hoheitsgewässer zu einigen.

 

Routen, die früher von wagehalsigen Expeditionen erkundet wurden, werden heute von Schiffen im Linienverkehr befahren - wenn auch noch immer nicht ganz gefahrlos, wie die dramatischen Wochen im Jahre 1983 erneut bewiesen. Der Hafen von Pewek, unser Ziel, wird von Schiffen angelaufen, die entweder in ostwestlicher Richtung von Wladiwostok nach Tiksi oder von Murmansk im europäischen Teil der Sowjetunion nach Wladiwostok fahren.

Vor zwanzig Jahren war Boris Fedorowitsch Abakumow in Pewek eingetroffen, seit fünfzehn Jahren arbeitet er im Hafen, heute als Direktor. Dies hier sein Monolog während der Hafenbesichtigung: `Von hier aus werden die Güter auf Flussschiffe verladen und die Kolyma aufwärts weit ins Landesinnere transportiert, wo sie immer schon sehnsüchtig erwartet werden. Anfangs gab es hier nur eine einzige Reede, später noch provisorische Anlagen aus Holz. Von einem eigentlichen Hafen kann man erst seit 1968 sprechen, als der Bau einer Anlegestelle aus Eisenteilen begann. Auf ewigem Frostboden erbaut, ist sie auf der Welt ohne Beispiel. Zur Zeit können wir mit Hilfe großer Portalkrane Frachtschiffe bis zu zehntausend Bruttoregistertonnen innerhalb eines Tages be- oder entladen. Wir erwarten schließlich nicht nur Güter, sondern wir haben auch einiges mitzuschicken: Zinn, Gold, Quecksilber...

Während der Navigationsperiode wiegt ein Tag viele Tage auf, da geht es hier rund im Hafen. Vor zwei Tagen - genau am 19. August - hatten wir schon minus sechs Grad; seitdem haben die Mückeninvasionen aufgehört. In einer Woche sind wir weiß! Es gibt Tage, an denen die Geräte nichts mehr registrieren, zum Beispiel wenn unser Südwind, der `Jushak´, mit sechzig Metern in der Sekunde durch Pewek stürmt. Wer an solchen Tagen unbedingt eine Straße überqueren muss, hangelt sich an einem eigens zu diesem Zweck angebrachten Seil hinüber.

Die Wetterereignisse zweier Jahre sind in meinem Gedächtnis eingegraben: 1973 - im schönen Sommermonat August - trieb Nordwind das Wasser einen Meter hoch über die Befestigungen. Dazu krachten große Eisschollen an unsere Schiffe und Krane. Es war ein unbeschreiblicher Kampf mit einer wild gewordenen Natur. Und 1980 - im polardunklen Dezember - stürmte unser `Jushak´ so, dass unsere Krane buchstäblich durch die Luft flogen.

Trotzdem: Ich habe mir vorgenommen, noch zehn Jahre mit dabei zu sein bei der Erschließung des wahrlich rauen hohen Nordens. Dann allerdings werden wir - meine Frau arbeitet als Chefingenieur für Normierung im Hafen - zurück in unsere klimatisch gemäßigtere Heimat reisen. Der hohe Norden braucht junge Leute - keine Rentner. Nicht umsonst erhalten die männlichen Nordländer schon mit fünfundfünfzig Jahren und die weiblichen mit fünfzig Jahren ihr Ruhegeld.

Außer den Früchten unserer Arbeit werden dann unsere hier geborenen Kinder zurückbleiben. Ihre Heimat ist Tschukotka.´".

 

Die erste Durchquerung der Nord-Ost-Passage:  Die waghalsige Expedition in arktische Gefilde war hervorragend geplant, und beinahe wäre der Schwede Adolf Erik Nordenskiöld als erstem Menschen in der Entdeckergeschichte die Durchquerung der Nord-Ost-Passage gelungen. Doch nur wenige Kilometer vor den eisfreien Gewässern der Beringstraße werden die "Vega" und ihre Mannschaft vom arktischen Winter überrascht und stecken im meterdicken Eis fest. Erst ein gutes Jahr später, am 18. Juli 1879, gelingt den Finnen nach der lebensbedrohlichen Überwinterung die erfolgreiche Beendigung der Expedition, die dem Schweden Nordenskiöld zahlreiche Ehrungen einträgt.

 

Goldene Siedlung hinter dem Polarkreis (LESEPROBE aus: "Diesseits und jenseits des Polarkreises")

"Nun sind wir mit einer AN 24 dreihundert Kilometer gen Süden geflogen - und tatsächlich - Bäume: Waldtundra.

Die Waldtrundra, Grenzbereich zwischen Wald und Tundra, ist ein Vegetationstyp, der in manchen Gebieten nur eine verhältnismäßig schmale Zone einnimmt, sich oft aber auch in Nordsüdrichtung über Hunderte von Kilometern erstreckt.

Den Eindruck, den die Waldtrundra auf Reisende macht, hat der russische Naturforscher Seroschewski so geschildert: `Der Wald ist kümmerlich. Vorzeitig gealtert, bedeckt mit bärtigen Flechten, mit spärlichem gelblichem Grün auf wenigen lebenden Sprösslingen, mit vertrockneten, oft abgebrochenen Spitzen zieht er sich in einem breiten trostlosen Streifen längs der nördlichen Waldgrenze hin. Schwächliche Bäume, vier bis sechs Meter hoch, mit einem Durchmesser von zehn bis fünfzehn Zentimeter sind mit einer Unzahl von kleinen Ästen, Zweigen und vertrockneten einjährigen Trieben bedeckt, die längs des Stammes gleichsam wie Dornen hervorstehen. Die Bäume geben nahezu keinen Schatten und bieten keinen Schutz. In einem derartigen Wald sieht man überall den Himmel über sich und ringsherum Lichtungen.´

Wie recht Seroschewski hat. Und doch: Auf uns machen die Bäume Bilibinos einen heimatlichen Eindruck, hatten wir doch lange genug überhaupt nichts Hochstämmiges mehr zu Gesicht bekommen.

Bilibino (25 000 Einwohner), gegründet 1958, ist benannt nach Juri Alexandrowitsch Bilibin, der auf dem Gebiet der Lagerstättenlehre arbeitete. Allen anderen Voraussagen zum Trotz vermutete er im hohen Norden große Goldvorkommen und - entdeckte sie.

Im Magadaner Akademiezentrum hatte uns der Chefgeologe Mari Jewgenjewitsch Gorodinski eine geologische Karte von 1922 gezeigt. Der gesamte Nordosten der UdSSR ist da eine unerschlossene weiße Fläche. Erst 1928 wurde hier unter Leitung des siebenundzwanzigjährigen Bilibin mit geologischen Erkundungen begonnen. Juri Bilibin schrieb damals begeistert von den zu erwartenden riesigen Bodenschätzen des Nordostens. Mehr als ein Jahrzehnt wurde er dafür ausgelacht. Wie recht der unbeirrbare Mann hatte! Er strafte dazumal auch die Meinung Lügen, dass niemals Gold und Zinn in einer Nachbarschaft zu finden seien.

Bis heute sind Magadan und Bilibino die goldträchtigsten Gebiete der Sowjetunion. `Tschukotka braucht seine Goldvorkommen´, sagt Magadans Chefgeologe, `noch lange nicht unter den Scheffel zu stellen.´

Im Lexikon lese ich unter dem Stichwort `Gold´: Zeichen Au (lat. Aurum); gelb glänzendes Edelmetall, Ordnungszahl 79; Atomgewicht 196,967; Wertigkeiten III und I, Dichte 19,3 g/cm3; F 1063 Grad C; Kp etwa 2700 Grad C.

Und bei Kolumbus: `Gold - das erstaunlich Ding! Wer es besitzt, ist Herr von allem, was er wünschen kann.´

Wir halten in Bilibinos Goldgrube `Sewerowostoksoloto´ (`Nordostgold´) das gelb glänzende Edelmetall für einige Minuten in Händen - es liegt in kleinen und großen Stücken in einer unansehnlichen weißen Emailleschüssel. Wir werden bei unserer handgreiflichen Besichtigung streng beäugt von Männern, die ihre Schießeisen durchaus griffbereit haben.

Wegen der paar Klunkerchen...

Gold gibt es überall: in jedem Boden, jedem Gestein und im Meereswasser. Aber seine Konzentration ist in den weitaus meisten Fällen verschwindend gering. Im Durchschnitt enthält eine Tonne Erdrindenstoff etwa vier Milligramm Gold. Das ist nur ein Tausendstel des Gehalts an Kupfer, Zink und Blei. Und wie mühsam ist die Goldgewinnung! Noch heute. Trotz Goldbaggers, Hydromonitoren, Saug- und Greifbaggers, Planierraupen und anderen Maschinen.

Andrej Anikin, Professor am Moskauer Institut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen, schreibt in seinem Buch `Gold´: `Alles bisher gewonnene Gold würde in einem Würfel von siebzehn Meter Seitenlänge oder im Zuschauerraum eines mittleren Filmtheaters Platz haben.´

In der Grube `Sewerowostoksoloto´ wird das Gold durch das älteste Verfahren, durch Auswaschen, gewonnen. Die Waschperiode für die Goldgewinnung beträgt auf Tschukotka nur etwa dreieinhalb Monate, weil ja nur gewaschen werden kann, wenn Wasser fließt. `Unser goldener Tagebau ist bereits zwanzig Jahre alt´, sagt der Oberingenieur Gennadi Wladimirowitsch Nagul, `er wird langsam ärmer. Aber unsere Geologen haben schon ein neues Vorkommen entdeckt: Berggold, das uns sommerunabhängig macht.´

Übrigens: `Die paar Klunkerchen´ in der unansehnlichen weißen Emailleschüssel repräsentierten einen Wert von - einer Million Mark! Nicht auszudenken, was man sich dafür alles kaufen könnte. Doch ich halte es lieber ganz schnell mit Cervantes: `Gold bringt immer Sorgen, ganz gleich, ob wir es haben oder ob es uns fehlt.´ Oder mit Pablo Neruda: `Wo es Gold gibt, gibt es auch Streit...´ Oder mit Puschkin: `Es sieht so wenig aus. / Doch wie viel Mühe, Sorge, Not der Menschen, / Gebete, Flüche, Tränen und Betrug...´"

 

Es gibt noch genug Gold auf Tschukotka! Das Gold- und Kupferfeld Pestschanka auf der Tschuktschen-Halbinsel im äußersten Nordosten Russlands dürfte zum weltweit fünftgrößten Vorkommen dieser Art werden. Das behauptete der Gouverneur des Gebiets Tschukotka, Roman Kopin, im Februar 2011 bei einem Treffen mit Regierungschef Wladimir Putin in dessen Vorstadtresidenz Nowo-Ogarjowo. "Die Lagerstätte, in der Experten bis zu 1 600 Tonnen Gold und etwa 27 Millionen Tonnen Kupfer vermuten, wird seit zwei Jahren erkundet. Einige Investoren finanzieren diese Arbeiten." - Der Gouverneur teilte mit, dass auf der Tschuktschen-Halbinsel durchschnittlich 25 Tonnen Gold im Jahr gewonnen werden. Das bislang beste Resultat - 30 Tonnen - sei 2009 registriert worden. In der Region sei Russlands größter Goldförderer "Polus Soloto" aktiv.

 

Von der Fettschüssel zum Atomkraftwerk (LESEPROBE aus: "Diesseits und jenseits des Polarkreises")

"Im Wohnzelt der Tschuktschen und Eskimos war Jahrhunderte lang einzige Licht-, Wärme- und Kochquelle eine Schüssel aus Stein, funktionstüchtig mit Feuerstein und Tundramoos, getränkt mit Rentiertalg oder Seehundstran. Die Sorge um diese Fettschüsseln oder Tranlampen oblag ausschließlich den Frauen. Jede verheiratete Frau musste ihre eigene `Nanek´ sogar dann haben, wenn einige Familien in einem Fellzelt zusammen wohnten. Neben den Gebrauchslampen existierte noch eine sehr kleine Lampenart, die zu Begräbniszeremonien benutzt wurde. Einer Toten lege man neben anderen Haushaltsgegenständen unbedingt auch eine Tranlampe mit ins Grab.

`Wie eine Frau ohne Lampe...´ ist heute noch eine gebräuchliche Redewendung für einen Menschen, der zu nichts nütze scheint. Ursprünglich, so behauptete der russische Erforscher der Kulturen des Nordens Wladimir Bogoras (1865 bis1936) diente die Lampe nur Beleuchtungszwecken; denn die Jarangas [Wohnzelte] der Tschuktschen und Eskimos hatten keine Fenster. Licht, so meinte er, galt bei Tschuktschen und Eskimos mehr denn Nahrung oder Wärme. Wurden nicht genügend Tiere erlegt, herrschten Hunger, Kälte und Dunkelheit. Trotzdem sprachen Tschuktschen und Eskimos nie davon, dass eine Hungersnot geherrscht habe, sondern sie sagten grundsätzlich, dass es furchtbar dunkel gewesen sei. Auch in vielen Märchen gibt es Wendungen, die die Ansicht Bogoras´ bestätigen. So heißt es in einem eskimoischen Märchen: `Es gab keine Meerestiere, und die Lampen erloschen...´ Oder in einem tschuktschischen Märchen: `Seehunde wurden erlegt, und das Feuer in den Lampen stieg wieder empor...´

Mit der Sowjetunion erst kam `Kergytschyn´ - `Lichtheit´ - auch ans `Ende der Welt´.

Heute gibt Tschuktschen, Eskimos und Zugereisten Licht und Wärme das erste Atomkraftwerk hinter dem Polarkreis. Auf ewigem Frostboden erbaut, befindet es sich in Bilibino, dem Ort auf Tschukotka, der von den Brennstoffquellen am weitesten entfernt ist. Mit sechs Etagen ist das Atomkraftwerk das höchste Gebäude Tschukotkas und das einzige mit einem Lift. Du wirst hier in einen weißen Kittel gehüllt, bekommst eine weiße `Bäcker´mütze verpasst und musst in Hausschuhe schlüpfen. Das Atomkraftwerk von Bilibino - das wird dir unmissverständlich klargemacht - gilt als das sauberste der ganzen Sowjetunion; es gehört zur jüngsten Generation.

Durch das Kernkraftwerk führt uns German Jefimowitsch Soldatow. Er stammt aus Moskau, begann hier als Meister, wurde dann Werkstattleiter, später Chefingenieur und ist jetzt der Direktor des nördlichsten Kraftwerkes der UdSSR. `Und wenn auch nicht als Tschuktsche oder Eskimo´, sagt er, `so fühle ich mich nach elf Polarwintern doch schon als echter Nordländer.´

Ein zaristischer Inspektor hatte 1916 geschrieben, dass er eine wirtschaftliche Entwicklung der Tschuktschen-Halbinsel für unmöglich halte, da unter den Bedingungen des hohen Nordens keine `gebildete Menschenseele´ freiwillig aus Russland herkommen würde. German Soldatow ist einer von Hunderttausenden `hoch gebildeter Freiwilliger´, die aus dem ganzen Sowjetland hierhergekommen sind. `Unser Atomkraftwerk war Komsomolgroßbaustelle. Allein zweitausend Jugendliche kamen 1974 freiwillig aus allen Teilen der Sowjetunion.´

Das Kernkraftwerk gewährleistet die Energieversorgung der Tschuktschen-Halbinsel und Kolymas, gibt also Tausenden Familien Licht und Wärme in `atombeheizten´ Wohnungen, Elektroenergie für die Industrie, vor allem für die Förderung im Goldtagebau des jüngsten Industriezentrums Bilibino. Darüber hinaus ist es aber das erste Kernkraftwerk, das Industrie- und Haushaltsstrom liefert. Bald wird die Bevölkerung das ganze Jahr über mit frischem Gemüse versorgt werden können, weil das Kernkraftwerk auch die nötige Wärme für die schon projektierten Treibhäuser spenden wird.

Ich frage German Soldatow, wie denn die Bevölkerung zu dem Atomkraftwerk stehe. `Man nennt unser Kernkraftwerk, das auch mit Anlagen aus der ČSSR, Ungarn und der DDR ausgestattet ist, hier liebevoll `Atomkamin´. Keiner, der `in der Heimat des Winters´ heute noch in frostklirrenden Unterkünften hausen möchte. Sogar die Kinder in Bilibino freuen sich - sie haben ihre Schwimmhalle! Früher brachten hier sechsunddreißig Kesselhäuser Licht und Wärme. Bei ungünstigem Wind stand ein regelrechter Smog über unserer Goldgräbersiedlung. Für den hohen Norden haben Kernkraftwerke durchaus eine Perspektive. Um unsere achtundvierzig Megawatt in einem Kohlewärmekraftwerk zu erzeugen, wären 2,5 Millionen Tonnen Kohle im Jahr nötig. Der Transport einer einzigen Tonne Brennstoff in unsere entlegene Gegend kostet einhundert bis zweihundert Rubel. Den Atombrennstoff aber bringt ein einziges Flugzeug für vier Jahre`.

Wie lange wird German Soldatow - um mit dem Forschungsreisenden Amundsen zu sprechen - noch `Polaroptimist´ bleiben? - German Soldatow überlegt: `Wie lange? Solange ich mich jung und gesund genug fühle, den Polarunbilden zu trotzen.´

Während der Besichtigung der Schaltzentrale, der Reaktorhalle, der Messkontrollräume... schaue ich in viele Gesichter, aber ein tschuktschisches oder eskimoisches ist nicht dabei.

`Arbeiten denn keine Angehörigen der Urbevölkerung in Ihrem Werk?´ frage ich. - `Doch, ein Tschuktsche: Wladimir Äm. Leider können Sie ihn nicht sprechen, wir haben ihn gerade zur Weiterbildung nach Moskau delegiert.´

Als ich meine Verwunderung darüber zum Ausdruck bringe, dass nur ein Einheimischer `Kernkraftwerker´ ist, sagt German Soldatow: `Nur? Sagen Sie besser schon. Noch vor einem halben Jahrhundert hatten die angestammten Bewohner Tschukotkas urgeschichtliche Lebensgewohnheiten.´"

 

Vor und nach dem Zerfall der Sowjetunion: "Im Buch Unna (1997) von Jury Rytchëu spielen nur machtgierige Funktionäre eine Rolle und stockbesoffene Einheimische, "die sich bis zur Bewusstlosigkeit betranken, sich dann in Gräben, Hinterhöfen und Müllgruben wälzten". Nicht ohne Grund, das wird aus dem Buch klar, sondern weil viele Rentierzüchter  arbeitslos geworden sind, ehemalige Meerestierjäger selbst keine Jagd mehr auf Wale machen dürfen, traditionelle Fischer, weil zwangsumgesiedelt, nicht mehr fischen können, weil sich das Meer nicht mit umsiedeln ließ. Ich weiß, dass es zu ungezählten Selbstmorden kam, zu fürchterlichem Alkoholismus. Aber ich sah bei meinem Aufenthalt auf dem exotisch-schönen Tschukotka durchaus auch normale Einheimische, die sowohl ihrer traditionellen Arbeit als Rentierzüchter nachgingen als auch moderner Tätigkeit als Goldwäscher oder sogar als geschätzte Mitarbeiter des Atomkraftwerks von Bilibino. Aber in Unna wird alles an der Sowjetmacht verteufelt, auch die Geburt einer eigenen Schriftsprache von Tschuktschen und asiatischen Eskimos, auch die Quote, mit der Vertreter der einheimischen Bevölkerung eines Studienplatzes sicher sein konnten, auch die Versorgung über den Nördlichen Seeweg mit allem was die Bevölkerung Tschukotkas benötigte. Es ist wahr, die Rundum-Fürsorge durch den Staat zerstörte viele tschuktschische und eskimoische traditionelle Lebensgewohnheiten. Als die Sowjetunion unterging, und kein Geld mehr für die kleinen Nordvölker da war, wussten viele Einheimische schon nicht mehr, wie sie sich traditionell selbst ernähren können, hatten viele verlernt, sich mit dem zu behelfen, was das Tschuktschenland durchaus in reicher Fülle bietet..." Ich habe in Pewek selbst zugesehen, wie für die kleinen Nordvölker vom Kugelschreiber über Toilettenpapier bis zum Kühlschrank alles aus dem europäischen Teil Russlands hergeschafft wurde..."

Aus der Rezension von Gisela Reller in www.reller-rezensionen.de

 

 

Schachturnier in der Tschuktschen-Tundra.

Foto aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

Neben meinen Buchveröffentlichen habe ich viele Beiträge über die Völker der ehemaligen Sowjetunion in der Illustrierten FREIE WELT veröffentlicht bzw. in  anderen Medien. Hier einige Beiträge (Auswahl), die gute Ergänzungen zu dem bereits Dargestellten bilden:

 

Aus FREIE WELT 23/1983: Mein Besuch bei dem ersten Schriftsteller der Tschuktschen,  bei Juri Rytchëu

 

"Als wir FREIE WELT-Reporter 1980 die ersten ausländischen Journalisten waren, die zu Sowjetzeiten das Tschuktschenland bereisten, war der tschuktschische Schriftsteller Juri Rytchëu hier zwar in aller Munde, selbst aber `im Augenblick´ nicht anwesend. Im Augenblick? Juri Rytchëu wohnt seit 1948 in Leningrad, elftausend Kilometer entfernt von seinem Geburtsort Uëlen, dem allerletzten besiedelten Landzipfel der Sowjetunion. Dort besuche ich ihn drei Jahre später. Trotz der räumlichen Trennung ist der Tschuktsche Juri Rytchëu ein Landsmann geblieben. Warum? Vielleicht, weil all seine Bücher das arktische Leben Tschukotkas schildern; seine Helden haben hier ihre Vorbilder. Vielleicht, weil er all die Jahrzehnte Jahr für Jahr zu Besuch hierherkommt; im Ort Providenija - mit höchstens 40 Minusgraden die Klimaperle Tschukotkas - hat er sich ein Haus gebaut. Vielleicht weil einer seiner Söhne mit tatarischer Frau und vierjährigem Sohn hierhergezogen ist; denn `Vater erzählte so oft und so viel von Tschukotka, dass ich - meiner Nationalität nach Tschuktsche - in der angestammten Heimat des Tschuktschenvolkes leben wollte.´ Ganz sicher sehen die Tschuktschen und die asiatischen Eskimos Juri Rytchëu unabdingbar als einen der ihren an, weil es seine an Verstand und Herz appellierenden Geschichten sind, die in aller Welt Verstehen und Zuneigung weckten für zwei am `Rande der Welt´ lebende kleine Völker, deren Sitten und Bräuche Pelzhändlern, Forschungsreisenden, zufällig hierher verschlagenen Schiffbrüchigen den Atem stocken ließ. (…) Juri Rytchëus Bücher von dem allmählichen Aussterben der Tschuktschen und asiatischen Eskimos vor der Großen Revolution und von dem neuerwachten Leben danach sind in über dreißig Sprachen übersetzt: ins Deutsche, Englische, Mongolische, Tschechische, Polnische, Indische, Finnische, Japanische, Chinesische, Französische, Spanische, Dolganische, Ungarische...

Hast du das Glück, Gast Juri Rytchëus in seiner Wohnung auf dem Leningrader Suworowprospekt zu sein, so ist unverkennbar, dass aus dem richtigen Tschuktschen ein richtiger Großstädter geworden ist. Juri Rytchëu wurde am 8. Mai 1930 in einer Jaranga aus Walroßfellen geboren, in der Familie eines Meerestierjägers. `In meiner frühen Kindheit, erzählt er uns, ´erschien mir die Jaranga durchaus nicht kümmerlich. Sicher - so dachte ich - wäre es schön und aufregend, in einem hölzernen Haus zu leben mit Fenstern, einzelnen Räumen und Betten auf Beinen - dennoch verlor in meinen Augen die Jaranga nichts von ihren Vorzügen. Ich kam gar nicht darauf, das Fehlen von Wasserleitung, Wasserspülung und elektrischem Licht als Mangel anzusehen.´ Doch dann als Schüler war ihm jeden Morgen, wenn er die Jaranga verließ, als schritte er über ein Jahrtausend hinweg.

`Ich betrat eine andere Welt, die Welt des Wissens, der Bücher, die Welt der Zukunft. In jener Welt schienen mir allerdings weder eine Jaranga noch die alten Zaubergesänge Platz zu haben, die auch damals noch alljährlich vorgetragen wurden, um gutes Wetter, einen vielköpfigen Zug der Walrosse oder andere lebensnotwendige Gaben der Natur zu erbitten.´ Als sich die Piloten Timofej Jalkow und Dmitri Tymnetagin als erste Tschuktschen in den Himmel erhoben, schienen auch Juri Rytchëu Flügel gewachsen zu sein. Wie anders wäre es zu erklären, dass der Sechzehnjährige, nie vom entferntesten Punkt des asiatischen Festlandes weggewesen, bei der Vokabel Universität daran zu denken wagte, eine solche selbst zu besuchen...

`Es war am 26. Juni 1946´, sagt er, `als ich mein Uëlen verließ, um nach Leningrad zu gehen. Vom Strand weg wanderte ich einige Kilometer über festes Eis bis zum Rande des offenen Wassers, wo mich ein Eskimo-Boot erwartete. Unter Segel verließen wir das Eismeer und fuhren in den Bereich des Pazifischen Ozeans. Klar zu sehen in der Beringstraße die Inselgruppe der Großen und Kleinen Diomeden - die einen sowjetisch, die anderen US-amerikanisch.

Mehr als zwei Jahre brauchte Juri Rytchëu, um zur heißersehnten Universität nach Leningrad zu kommen. In der Eskimosiedlung Naukan war er - um seinen Lebensunterhalt zu sichern - auf Walrossjagd gegangen, im Dorf Lawrentija hatte er die Fassaden der allerersten Steinhäuser getüncht, im Hafen der Prowidenija-Bucht war er Dockarbeiter gewesen. In Tschukotkas Hauptstadt Anadyr hatte man den Lernbesessenen über ein Jahr lang festgehalten, damit er in einem Lehrerbildungsseminar notdürftig Russisch lernen konnte.

`Es ist´, glaube ich, ´beinahe unmöglich, sich in meine damaligen Gefühle und Ängste hineinzuversetzen. Was sah, machte, aß, trank ich damals alles zum ersten Mal. Nie vergesse ich, nun schon außerhalb Tschukotkas, den ersten Biss in einen Apfel, den ersten Anblick eines Zuges, die erste Straßenbahn, den ersten Baum... Leningrad, das Ziel meines Bildungstraumes, erreichte ich am 4. November 1948. Da war ich neunundzwanzig Monate von zu Hause weg!´

In Leningrad angekommen, hatte er dieses Erlebnis:` Ich machte mich beklommenen Herzens direkt auf den Weg zur Universität. Der Tag neigte sich schon dem Ende zu, irgendwo hinter den Häusern versank die Sonne. Hinter der Glastür der Universität stand ein bärtiger alter Mann, er trug eine mich beeindruckende Uniform. Das musste zumindest ein Mitglied der Akademie der Wissenschaften sein! Behutsam klopfte ich an die Tür.´ - `Sind sie ein Abiturient (in der Sowjetunion Teilnehmer der alljährlich stattfindenden Aufnahmeprüfungen)?´, fragte er in barschem Ton. - `Nein´, antwortete ich, `ich bin ein Tschuktsche.´ - `Da fiel vor meinen fassungslosen Augen die prächtige Tür mit einem Knall ins Schloss.´

Meine Begegnung mit dem Pförtner, den ich für einen Akademiker gehalten hatte, war noch oft Anlass zur Heiterkeit. Später erzählte ich meinen erwachsenen Kindern davon und von der ungemütlichen Nacht, die ich, weil ich nicht wusste, was ein Abiturient ist, auf einer Bank an den Ufern der Newa verbringen musste...´

Als Juri Rytchëu noch kein Jahr in Leningrad war, lernte er ein Mädchen kennen: die Leningraderin Galina [Galja], eine Russin, achtzehn Jahre alt. Er selbst war gerade neunzehn geworden...

Er: `Damals fühlte ich mich inmitten der lärmerfüllten großen Stadt mit ihren himmelhoch ragenden Häusern schrecklich einsam.´

Sie: `Und ich hatte während der Leningrader Blockade Mutter, Vater, ja, alle Angehörigen verloren.´

Im Dezember 1949 schon heirateten die beiden Verwaisten, die nichts rein gar nichts besaßen außer ihrer tschuktschisch-russischen Liebe.

Er: `Damals begann ich neben meinem Studium der Journalistik über mein Volk zu schreiben: Gedichte, Kurzerzählungen...´

Sie: `Juri wurde am Anfang selten gedruckt. Aber wenn er mal Honorar bekam, dann wurden alle Bekannten und Nachbarn zu Tisch geladen. Ich hatte meine liebe Mühe, Juris tschuktschische Gastfreundschaft zu bremsen, vor allem, als inzwischen unsere drei Kinder - zwei Söhne und eine Tochter - geboren waren.

Schwer, sehr schwer hatten es die beiden damals - bis ab Mitte der fünfziger Jahre Juri Rytchëu  fast Jahr für Jahr ein Buch schrieb - und gedruckt wurde."

 

 

Zum Interview in Juri Rychëus Leningrader Wohnung, schreibend: Gisela Reller,

begleitet von Raissa Netschajewa, Mitarbeiterin im Moskauer FREIE WELT-Büro.

Alle Bücher Juri Rytchëus, der 2008 verstorben ist, sind im Zürcher Unionsverlag erschienen.

Foto: Detlev Steinberg

 

"Trotzdem wir in der Nacht einen großen Teil unserer Sachen unbewacht außerhalb unseres Zeltes hatten stehenlassen müssen, fanden wir doch am nächsten Morgen zu unserer großen Befriedigung alles an seinem Platz. wir waren einigermaßen in Sorge gewesen, da man uns auf dem Schiff vor den Diebesgelüsten der Eingeborenen sehr gewarnt hatte. Aber auch späterhin haben wir uns nur selten über Mangel an Ehrlichkeit bei den Leuten zu beklagen gehabt."

 

Aurel (deutscher Naturforscher und Ethnologe, 1848 bis 1908) und Arthur Krause (deutscher Naturforscher und Entdeckungsreisender,

1851 bis 1920) in: Zur Tschuktschen-Halbinsel und zu den Tlinkit-Indianern, 1881/1882

 

 

Aus FREIE WELT 24/1981: Meine Begegnung mit dem Sohn des ersten Schriftstellers der Tschuktschen: Alexander Rytchëu

 

Wir hatten Juri Rytchëu, den berühmten tschuktschischen Schriftsteller, auf Tschukotka nicht angetroffen, weil er mit seiner Familie seit vielen Jahren nicht auf Tschukotka, sondern in Leningrad (heute Sankt Petersburg) lebte, wo er im Alexander Herzen-Institut der Völker des Nordens Vorlesungen hielt. Seinen Sohn Alexander aber trafen wir zu diesem kurzen Interview:

 

 

Alexander Rytchëu, der Sohn des tschuktschischen Schriftstellers Juri Rytchëu.

Foto: Detlev Steinberg

 

Alexander Jurjewitsch, wie kommen Sie - der in Leningrad Geborene -  nach Tschukotka?

Vater ließ niemals eine Gelegenheit aus, meiner Mutter und uns drei Kindern von Tschukotka zu erzählen. Als ich fünfzehn Jahre alt war, nahm er mich mal mit den in Urlaub, den er fast immer auf Tschukotka verbringt. Seitdem ließ mich Tschukotka nicht mehr los. Seit zwei Jahren lebe ich mit meiner Familie hier.

Ihre Mutter ist Russin... und Ihre Frau?

Meine Frau ist Tatarin. Sie hatte Angst vor all dem Unbekannten und der Kälte. Inzwischen haben wir viele Freunde gefunden, und die Einwohner ganz Uëlens, Vaters Geburtsort, halten sich für unsere Verwandten. Wir fühlen uns sehr wohl auf Tschukotka.

... als Sohn des weltberühmten Schriftstellers...

... ist es einfacher, meinen Sie? Einerseits ja, aber andererseits ist es sogar schwieriger. Die Erwartungshaltung ist sehr groß, obwohl ich "nur" bei der Zeitung arbeite. Mein Ziel ist es, ein guter Journalist zu werden.

Haben Sie Kinder?

Einen Sohn, Timur, zwei Jahre alt. Mit sechzehn Jahren - wenn er seinen Ausweis erhält - wird er selbst entscheiden, welcher Nationalität er angehören will, der seines Vaters oder der seiner Mutter. 18 Prozent aller sowjetischen Ehen sind "gemischt" . Ein Beispiel für nationale Unvoreingenommenheit...

 

 

 

Aus FREIE WELT 10 bis 15/1982: 6 Folgen Rücktitelserie "Auf Eis Erblühtes", Folge 4 in Heft 13/1982: Zwerg-Birken in der Tundra

 

"Weiß leuchten die Stämme der Hänge- und der Moor-Birke in unseren Wäldern. Das helle Grün ihres sich entfaltenden Laubes ist ein echter Frühlingsbote. Beide Birkensippen sind stattliche Bäume, die wir auch in den Taigagebieten der Sowjetunion antreffen. Sie sind es, von denen das russische Volkslied `Berjoska´ (`Birklein´) singt: `Fröstelnd harre ich aus im hohen Schnee, bis der Frühling kommt...´

Viele weitere Birkenarten gibt es auf der Nordhalbkugel - sowohl Bäume als auch Sträucher. Gehen wir etwa vom 58. Grad nördlicher Breite - auf dieser Linie liegen ungefähr Stockholm, Tallinn, Wologda, Kirow und Tobolsk - weiter nach Norden, so befinden wir uns im Wohngebiet der Zwerg-Birke (Betula nana LINNÈ). Es reicht von Island m Westen bis zur Tschuktschen-Halbinsel im Osten. Unter den Zwergsträuchern der Tundra streckt sie ihre Stämmchen etwa 80 Zentimeter in die Höhe, die kleinen von ihnen sind nur 30 Zentimeter und weniger hoch. Die Rinde ist nicht wie bei den genannten baumförmigen Verwandten weiß, sondern braun und mit dicken weißen Warzen bedeckt. Eine ähnliche Färbung tritt zum Beispiel auch bei der baumförmigen nordamerikanischen Schwarz-Birke auf. Das Blatt der Zwerg-Birke ist eigentümlich geformt. Es erscheint in seiner Gesamtgestalt rund, misst man aber nach, so stellt man fest, dass es breiter als lang ist. Der Rand des kleinen, etwa pfenniggroßen Blattes ist stumpf gekerbt. Im Herbst nimmt es eine schöne rötliche Färbung an, behält aber bis zum Abfallen seine Festigkeit. - Die Fruchtstände (Kätzchen) der Zwerg-Birke sind nur etwa einen halben Zentimeter lang und stehen aufrecht an den Zweigen. Sie enthalten kleine, rundliche Nussfrüchte, die einen schmalen Flügelsaum besitzen. Auf der winterlichen Schneedecke ausgestreut, oftmals vom Wind weit verbreitet, können sie im Frühjahr nach der Schneeschmelze keimen. (Auch die Früchte unserer baumförmigen Birke keinen nach einer Kältebehandlung am besten.)

Wirtschaftlich besitzt die Zwerg-Birke im Gegensatz zu ihren baumförmigen Schwestern keine Bedeutung. Dafür ist sie wissenschaftlich sehr interessant. Neben dem ausgedehnten Vorkommen im Norden gibt es Fundorte, im Süden der DDR zum Beispiel im Erzgebirge und auf dem Brocken, in der BRD und angrenzenden Staaten in den Alpen, wo wie auf offenen Hochmooren gedeiht. Während der Eiszeit fand sie hier und anderswo vermutlich Zuflucht vor den nach Süden drängenden Eismassen. Von hier aus wanderte sie mit Rückgang des Eises wieder nach Norden."

Text von Prof. Dr. habil Günther Nato, Redakteurin der Serie: Gisela Reller

 

 

Lied der Küstentschuktschen: Wale und Menschen

 

 (Bisher Unveröffentlicht)

Wale und Menschen - ein einzig Volk! / Als Erde und Meer sich vereinten,/ Die Menschheit geboren ward, / Zu leben in / Wasser und Wellen / Und zwischen Packeis und Winterzeit! / Wale und Menschen - ein einzig Volk! / Brüder des Meeres und der Erde, / zu ewiger Freundschaft geboren! //

Aus dem Russischen von Raissa Netschajewa, gesammelt von Gisela Reller

 

"Nicht nur die nordische Natur zieht einen in ihren Bann. Sehr einnehmend sind auch die Stammbewohner der Tundra, die Tschuktschen, gutherzige, bescheidene und weise Menschen.

Sputnik Nr. 10/1983

 

Rezensionen und Literaturhinweise (Auswahl) zu den TSCHUKTSCHEN:

 

 

Rezensionen in meiner Webseite www.reller-rezensionen.de

 

* KATEGORIE REISELITERATUR/BILDBÄNDE: Klaus Bednarz, Östlich der Sonne, Vom Baikalsee nach Alaska, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbeck bei Hamburg 2003.

"Klaus Bednarz hat auf seiner wochenlangen strapaziösen Reise viel Berichtenswertes erlebt, aber er hat auch vor und nach seiner Reise intensiv recherchiert. Trotzdem überschüttet er den Leser nicht mit Informationen, sondern lässt diese meist durch seine Gesprächspartner mitteilen, die dem sympathischen, wissbegierigen deutschen Journalisten meist sehr offen antworten. Bednarz schildert wahrheitsgetreu, was er sieht und hört, und man spürt sein warmes Gefühl, das er den sibirischen Menschen entgegenbringt."

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* KATEGORIE BELLETRISTIK: Tatjana Kuschtewskaja, Mein geheimes Russland, Reportagen, Mit 70 Fotos, Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt, Claudia Catz, Verena Flick und Alexander Nitzberg, Grupello Verlag, Düsseldorf 2000.

"Es gibt zweierlei Russland, schreibt die Kuschtewskaja. `Das eine sehen die Deutschen auf dem Bildschirm oder in Büchern deutscher Fernsehjournalisten. Das andere Russland erzählt selbst von sich. Es schreibt über sich und sieht sich von innen, und das ist sachkundiger und tiefer.´"

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* KATEGORIE REISELITERATUR/BILDBÄNDE: Thomas Roth, Russisches Tagebuch, Eine Reise von den Tschuktschen bis zum Roten Platz, List Verlag, München 2002.

"Roth hatte, bevor er dieses Buch schrieb, als ARD-Korrespondent drei Wochen lang Tag für Tag live aus vielen Orten des größten Staates der Welt berichtet. Den Buch-Leser lässt Roth nacherleben, was es organisatorisch und nervlich bedeutet, mit `berüchtigten´ eineinhalb Tonnen Fernseh-Dreh-Gepäck durch das teils chaotische Land zu reisen und auf die Minute genau die Beiträge nach Deutschland  übertragen zu müssen. Die 26 000 Kilometer lange Reise führte Roth und sein Team vom östlichsten Punkt Russlands am Eismeer in Lawrentija über die vulkanische Halbinsel Kamtschatka nach Sibirien und in den Fernen Osten und von dort über St. Petersburg und Königsberg zurück nach Moskau."

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KATEGORIE BELLETRISTIK: Juri Rytchëu, Unna, Aus dem Russischen von Charlotte und Leonhard Kossuth, Unionsverlag, Zürich 1997.

"Unna, die ihren Vater auch wegen seines ständigen Wermutgestanks angeekelt verleugnete, ihn ins Altersheim abschob, ohne sich um ihn zu kümmern, ja, ohne auch nur an ihn zu denken, beginnt aus Verzweiflung selbst zu trinken. Oft tagelang hintereinander. Zuletzt verdient sie ihr Brot als Pförtnerin. - Eine Tschuktschenfrau, die das Mitleid des Lesers verdient? Vielleicht. Meines hat sie nicht. Für mich ist sie von Rytchëu zu scheuklappengläubig und gemein angelegt. Überhaupt spielen in dem Buch nur machtgierige Funktionäre eine Rolle und stockbesoffene Einheimische, `die sich bis zur Bewusstlosigkeit betranken, sich dann in Gräben, Hinterhöfen und Müllgruben wälzten´. Nicht ohne Grund, das wird aus dem Buch klar, sondern weil viele Rentierzüchter arbeitslos sind, ehemalige Meerestierjäger selbst keine Jagd mehr auf Wale machen dürfen, traditionelle Fischer, weil zwangsumgesiedelt, nicht mehr fischen können, weil sich das Meer nicht mit umsiedeln ließ. Ich weiß, dass es zu ungezählten Selbstmorden kam, zu fürchterlichem Alkoholismus. Aber ich sah bei meinem Aufenthalt auf dem exotisch-schönen Tschukotka durchaus auch normale Einheimische, die sowohl ihrer traditionellen Arbeit als Rentierzüchter nachgingen als auch moderner Tätigkeit als Goldwäscher oder sogar als geschätzte Mitarbeiter des Atomkraftwerks von Bilibino."

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* KATEGORIE BELLETRISTIK: Juri Rytchëu, Im Spiegel des Vergessens, Aus dem Russischen von Charlotte und Leonhard Kossuth, Unionsverlag, Zürich 1999.

"Der informierte Leser wird bald merken, dass es sich bei diesem Buch um eine (kaum) chiffrierte Autobiographie handelt. Die im Buch genannten Personen sind zumeist real - ob Wissenschaftler oder Schriftsteller, Vorfahren und Verwandte Gemos (in Wahrheit Vorfahren und Verwandte des Autors) wie Mletkyn, Rytchëus Großvater, der ein Großer Schamane war und von den Bolschewiki erschossen wurde."

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* KATEGORIE BELLETRISTIK: Juri Rytchëu, Die Reise der Anna Odinzowa, Aus dem Russischen von Charlotte und Leonhard Kossuth, Unionsverlag, Zürich 2000.

"Anna Odinzowa jedenfalls lernt in der Tundra alle Bräuche von der Geburt bis zum Tode kennen, kann bald schon jedes Kleidungsstück zuschneiden und nähen, kann Felle bearbeiten, Fäden aus Rensehnen drehen, eine Jaranga errichten, Rentiere anspannen, ein geschlachtetes Ren ausweiden und Brei aus dem Inhalt der ersten Kammer eines Renmagens zubereiten. Nach einem Jahr unterscheiden sie von den tschuktschischen Tundrafrauen nur noch ihre blauen Augen und die blonden Haare."

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* KATEGORIE BELLETRISTIK: Juri Rytchëu, Der letzte Schamane, Die Tschuktschen-Saga, Aus dem Russischen von Antje Leetz, Unionsverlag, Zürich 2002.

"Rytchëu (sprich: Ryt-che-u) beginnt seine Tschuktschen-Saga mit einer Vorbemerkung: `Wo ich geboren wurde, da wachsen kein Wald und keine hohen Bäume. Aber das heißt nicht, dass es dort überhaupt keine Pflanzen gibt. Es gibt sogar Birken, Zedern, Weiden, Erlen. Allerdings ragt die Krone des größten dieser `Bäume´ nur wenige Zentimeter aus dem Erdboden.´ Juri Rytchëu ist 1930 als Sohn eines Fischers jenseits der Baumgrenze geboren worden, in Uëlen (sprich: U-e-len), dem allerletzten besiedelten nordöstlichen Landzipfel der Russischen Föderation. `Meine Ahnentafel´, schreibt Rytchëu, `gleicht dem Tundragewächs Junëu - der Goldenen Wurzel, die fest in der Muttererde verankert ist. Sie sitzt nicht tief, denn der ewige Frost macht den Boden hart. Aber kein Sturm kann sie ausreißen, keine Kälte ihre Wurzeln abtöten. Genau so stelle ich mir meine Wurzeln vor, die ich in diesem Buch bis zu den frühesten Ursprüngen zu ergründen suche."

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* KATEGORIE BELLETRISTIK: Juri Rytchëu, Der Mondhund, Aus dem Russischen von Antje Leetz, Unionsverlag, Zürich 2005.

"Juri Rytchëus zehntes deutsch erschienenes Buch `Der Mondhund´ ist ein tschuktschisches Märchen für Erwachsene über die Große Liebe und über viele Fragen des Lebens. Der Mondhund ist ein dunkelfelliger junger Polarhund, ein kräftiger Rüde. Warum rennt auf dem Schutzumschlag statt eines dunklen Hundes ein weißer Wolf durch den Schnee? Auffällig ist an dem Mondhund ein besonderes Leuchten der Augen, der ungewöhnliche Klang seiner Stimme und sein Wille, bis an den Rand des einzigen Nachtlichts am Himmel zu fliegen und hinein zu beißen. Der Leithund seiner Sippe heißt Vierauge, weil er auf der Stirn über seinen blauen Augen zwei weiße Flecke hat, `die den Schnitt der Augen haargenau wiederholten´; er ist des Mondhundes Vater. Sein junger Sohn ist der Schwarm aller Hündinnen. Doch der sagt seinem Vater unmissverständlich, dass er nicht heiraten wird; denn `er wusste, wenn er Vater werden würde, müsste er für immer im Rudel bleiben, sich um den Nachwuchs kümmern, Nahrung suchen, die Kinder vor Überfällen der Feinde beschützen - vor dem Wolf, dem Vielfraß, dem Fuchs, dem Polarfuchs und dem Braunbär. Sogar vor dem Raben, der neugeborene Welpen mit dem Schnabel tot hacken konnte. Er ahnte, dass der Augenblick des Genusses schnell von Gleichgültigkeit abgelöst wird, dass die Flamme der Leidenschaft verlöscht und nur einen Aschehaufen von Erinnerungen zurücklässt´."

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* KATEGORIE BELLETRISTIK: Juri Rytchëu, Polarfeuer, Aus dem Russischen von Antje Leetz, Unionsverlag, Zürich 2007.

"`Polarfeuer´ ist die Fortsetzung von `Traum im Polarnebel´. Spielt der erste Band in den Jahren 1912 bis 1920, vor Gründung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR), so ist die Handlung von Band 2 in den zwanziger bis dreißiger Jahren angesiedelt, spielt also bereits in der Sowjetära - die da auch im fernen Tschukotka angekommen ist."

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* HÖRBUCH: Juri Rytchëu, Der Mondhund, Aus dem Russischen von Antje Leetz, Lesung, Sprecher: Karl Menrad, Goya LiT, Zürich 20052 CDs.

"In dem den CD´s beigelegten bescheidenen Textheftchen sind tschuktschische Begriffe erklärt und ist die Widmung des Autors abgedruckt: `Beendet am 26. Juli 2003, am vierzehnten Tag nach dem Tod meiner Tirkyneu mit Namen Galja. Dieses Buch, das in der schwersten Zeit ihrer Leiden entstand, ist ihr gewidmet. Viele Seiten konnte sie noch selbst hören.´ Ich kannte Rytchëus Frau Galja, die er meine Tirkyneu nennt, und weiß von ihr, dass sie zu den Überlebenden der Leningrader Blockade gehörte. Zwei Einsame, eine Russin und ein Tschuktsche, hatten sich für immer zusammengefunden."

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 HÖRBUCH: Juri Rytchëu, Traum im Polarnebel, Aus dem Russischen von Arno Specht, Lesung, Sprecher: Manfred Zapatka, Der Hörverlag, München 2003, 4 CDs, Mit Booklet.

"`Traum im Polarnebel´ spielt in den Jahren 1912 bis 1920, vor der Gründung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR). In einem Küstendorf Tschukotkas im äußersten Nordosten Russlands, in Enmyn, strandet das Walfangschiff `Belinda´. An Bord ist auch der Kanadier John MacLennan. Durch ein tragisches Missgeschick wird er schwer an den Händen verwundet. Drei Ureinwohner sollen John (den die Tschuktschen Son nennen), in die russische Stadt Anadyr (heute Tschukotkas Hauptstadt) bringen, weil dort ein russischer Arzt ansässig ist. Doch unterwegs setzt bei John Wundbrand ein. Die drei Ureinwohner Toko (sprich: Tokó), Orwo (sprich: Orwó) und Armol rufen die Schamanin Kelena zu Hilfe. John MacLennan glaubt, sein letztes Stündchen habe geschlagen..."

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Literaturhinweise (Auswahl)

 

* Hans Bauer, Knud Rasmussen, Ein Leben für die Eskimo, VEB F. A. Brockhaus Verlag, Leipzig 1974.

Der Autor zeichnet ein fesselndes Bild von der ungewöhnlichen Forscherpersönlichkeit Knud Rasmussens. Und er schildert Episoden aus den fünf Expeditionen Rasmussens, die den Eskimoalltag darstellen  u. a. gefährliche Jagden und Geisterbeschwörungen.

"Später stellte sich heraus, daß Amundsens Schiff in einer kleinen Bucht der Tschuktschen-Halbinsel eingefroren war und Amundsen überwintern mußte. Kaum hatte er das Schiff freibekommen, fror es noch einmal ein. Erst im Mai 1920 gelangte ein Telegramm aus der Sowjetunion nach Europa - Amundsens erstes Lebenszeichen."

 

 

Roald Amundsen in Polarausrüstung.

Foto aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

* Lieselotte Düngel-Gilles, Knud Rasmussen, Altberliner Verlag Lucie Groszer, Berlin 1970.

Die Autorin zeichnet in ihrem Buch ein echtes, unromantisches Bild der Eskimos, wie Rasmusen es in seinen Tagebüchern überliefert hat. Zugleich führt sie uns die Gestalt des großen Forschers vor Augen, den die Eskimo Bruder nannten.

"Jetzt hatte er [Knud Rasmussen] sein Ziel erreicht, er war bei dem westlichsten aller Eskimostämme angelangt, bei den Tschuktschen, die am Ostkap Sibiriens leben. Am Abhang des Berges, auf dem er stand, sah er eine Schar Tschuktschenfrauen in Tierfellkleidern. Auf dem Rücken trugen sie Beutel aus Rentierhaut, um Kräuter und Beeren zu sammeln. Auf der schmalen Landzunge zu seinen Füßen, zwischen Packeis und offenem Meer, lag ein Dorf. Aus den Zelten aus Walroßhaut stieg Rauch. Unweit des Dorfes zog eine Herde Rentiere mit ihren Hirten vorbei. Ein friedliches, ein alltägliches Bild, aber für Knud Rasmussen war es das Ziel, war es die Erfüllung."

*Aurel und Arthur Krause, Zur Tschuktschen-Halbinsel und zu den Tlinkit-Indianern 1881/82, Reisetagebücher und Briefe, Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1984.

 

 

Viel Idealismus und Hilfsbereitschaft sind mit der Reise nach Tschukotka verbunden. Denn die Brüder Krause (rechts Arthur, links Aurel) erfüllten ihre Forschungsaufträge einzig im Dienst der Wissenschaft, ohne persönliches Entgelt.

Fotos aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

1881 wurden die deutschen Brüder Aurel und Arthur Krause von der Geographischen Gesellschaft in Bremen mit der Durchführung einer natur- und völkerkundlichen Expedition zur Beringstraße beauftragt. Sie traten die Reise am 15. April 1881 an und erreichten über Bremerhaven, New York und San Francisco am 6. August die Sankt-Lorenz-Bucht. In den folgenden acht Wochen erforschten sie die Küsten und küstennahen Gebiete der Tschuktschen-Halbinsel zwischen Uëlen am Kap Deshnjew und der Prowidenija Bucht im Süden. Das Ergebnis war eine Fülle natur- und völkerkundlicher Beobachtungen, belegt durch zahlreiche Sammlungsstücke.

 

* Juri Rytchëu, Menschen an unserem Gestade, Erzählungen, Verlag Volk und Welt, Berlin 1954.

 

* Juri Rytchëu, Abschied von den Göttern.

Das ist die Geschichte des liebenswerten und aufgeweckten Tschuktschenjungen Ryntin, mit dem wir den ersten Schultag erleben, das Ferienlager, in dem es so ungewohnte Dinge wie Betten und Badehäuser gibt, mit dem wir auf Entenjagd gehen und erleben, wie ihn die Schamanin Peep mit ihren Zauberformeln von einer schweren Krankheit heilen will...

 

*  Juri Rytchëu, Weket und Agnes, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1974.

 

* Juri Rytchëu, Als die Wale fortzogen, Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar 1979.

 

* Juri Rytchëu, Alphabet meines Lebens, Unionsverlag, Zürich 2008.

 

* Schundik, Der weiße Schamane, Verlag Neues Leben, Berlin 1980.

 

* Juri Simtschenko, Am Rande der Arktis - Bei Tschuktschen, Nenzen und Dolganen.

 

* Tichon Sjomuschkin, Im Land der Tschuktschen.

 

* Tichon Sjomuschkin, Brand in der Polarnacht.

 

* Nikolai Schundik, Schnelles Rentier, Deutsch von Willi Berger, Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin 1955.

 

* Sawwa Uspenski, Tiere in Eis und Schnee, F.A. Brockhaus Verlag, Leipzig 1983.

In diesem Buch berichtet der in Fachkreisen im In- und Ausland gut bekannte Polarforscher über seine Expeditionen im Hohen Norden, über die so sehr verwundbare Natur der Arktis und die charakteristischen Vertreter ihrer Tierwelt: über die zauberhaft schöne Rosenmöwe, den auf der Wrangelinsel wieder "eingebürgerten" Moschusochsen, den Wal, das Ren, die Kaisergans und den scheuen Schneekranich. Auch von seinem Lieblingstier, dem Eisbären, hat er wieder Neues mitzuteilen. Gleichzeitig soll dieses Buch nach dem Willen des Autors eine Art `Notruf´an die Menschen sein: All diese gefährdeten Tiere benötigen unseren Schutz, nicht nur weil sie dem Menschen in irgendeiner Form nützlich sind - die Natur der Arktis muß insgesamt in ihrer Eigenständigkeit erhalten bleiben. dem Menschen von heute sowie künftigen Generationen zur Freude.

 

* Als die Wale fortzogen, Herausgegeben von Margit Bräuer, die auch das Nachwort schrieb, Fünf Novellen, Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar 1979.

Über die titelgebende Novelle von Juri Rytchëu schreibt Margit Bräuer in ihrem Nachwort: "In Form einer `modernen Legende´, die in ihrer poetischen Bildsprache ganz aus der bis heute lebendigen Folklore [der Tschuktschen] schöpft, behandelt der Autor mit Hilfe eines märchenhaft anmutenden Sujets das Verhältnis zwischen Mensch und natur, das, wie Rytchëu nachweisen will, für beide Teile ersprießlich ist, solange zwischen innen das Band der Liebe und das Gesetz der Brüderlichkeit unverletzt sind, das aber tödliche Folgen für beide Teile haben kann, wenn der Mensch in seinem übermäßig gewordenen Genuss- und Herrschaftsdrang Brudermord begeht, wenn er die Natur ausplündert und dadurch tötet. Aktuelle Probleme der Ökologie gehen hier mit urgeschichtlicher Mythologie eine orignelle Symbiose ein. Die in das Symbol von Mensch-Wal-Brüdern gekleidete Allegorie wird natürlich und ungekünstelt, weil ihr eine ungebrochene Beziehung zu der ihm umgebenden Natur zugrunde liegt.

 

* Die Sonnentochter und andere Märchen der Tundra, darin die tschuktschischen Märchen"Tyrkyneku und die schöne Gytinnäu", "Der schreckliche Hase", "Das Märchen von der Kranichfrau", "Denken ist schwer!" und "Der Prahlhans", Die von Margarete Spady übersetzten Märchen wurden von Lieselotte Fleck nacherzählt, Zeichnungen: N. G. Basmanowa, Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin 1954.

 

 

Von 1953 bis 1956 habe ich im Berliner Verlag Kultur und Fortschritt Verlagsbuchhändlerin gelernt. Als 1954 "Die Sonnentochter und andere Märchen der Tundra" erschien, erfuhr ich das erste Mal von Völkern wie   Eskimos, Ewenen, Ewenken, Itelmenen [Kamtschadalen], Jakuten, Jukagiren, Keten, Korjaken, Mansen, Nanaier, Nenzen, Nganassanen, Niwchen,  Oroken,  Saamen [Lappen], Selkupen, Tschuktschen, Udehen. Ich war fasziniert!

Es sollte dann noch fast ein Vierteljahrhundert vergehen, bis ich die Lebensorte dieser Völker als Journalistin der Illustrierten FREIE WELT selbst bereiste. 

Gisela Reller

 

* Märchen der Nordvölker, Die Herrin des Feuers, Verlag Progress, Moskau 1974 (in deutscher Sprache).

Darin auch Märchen der Tschuktschen.

 

 

Zeichnung von Vitali Petrow-Kamtschatski aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

* Die goldene Schale und andere Märchen der Völker der Sowjetunion, darin: das tschuktschische Märchen "Das Mädchen und der Mond",  aus dem Russischen von H. Eschwege und L. Labas, Verlag Progess, Moskau 1975 (?).

 

* Märchen der Völker des Nordens, Der Rabe Kutcha, Verlag Malysch, Moskau 1976 (in deutscher Sprache).

Von den fernen Küsten der eisigen Meere des Nordens, aus den Weiten der Tundra, aus der Taigawildnis und von den Ufern der riesigen sibirischen Ströme kommen diese tschuktschischen Märchen, deren Helden Tiere sind.

 

* Märchen aus dem hohen Norden der Sowjetunion, Die Kranichfeder, Für Kinder nacherzählt von N. Gesse und S. Sadunaiskaja, Mit Illustrationen von Manfred Butzmann, 4. Auflage, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1983.

Jäger und Rentierzüchter sind die Helden dieser Märchen. Sie fahren mit dem Schneesturm um die Wette, ringen mit eisernen Ungeheuern, messen ihre Kräfte mit Waldriesen und verehren die Herrin des Feuers. Vielfältig spiegelt sich das Leben der Völker aus dem hohen Norden in seiner reichen Folklore, auch das der Tschuktschen.

 

"Man konnte in der tschuktschischen Sprache jemanden nennen, wie man wollte, ihn mit jedem abscheulichen und blutgierigen Tier vergleichen, sogar mit Scheiße, aber die schrecklichste Beleidigung war, ihn als `schlechten Menschen´ zu bezeichnen."

Juri Rytchëu (1930 bis 2008) in: Polarfeuer, 2009

 

 

 

 

Bibliographie zu Gisela Reller

 

Bücher als Autorin:

 

Länderbücher:

 

* Zwischen Weißem Meer und Baikalsee, Bei den Burjaten, Adygen und Kareliern,  Verlag Neues Leben, Berlin 1981, mit Fotos von Heinz Krüger und Zeichnungen von Karl-Heinz Döhring.

 

* Diesseits und jenseits des Polarkreises, bei den Südosseten, Karakalpaken, Tschuktschen und asiatischen Eskimos, Verlag Neues Leben, Berlin 1985, mit Fotos von Heinz Krüger und Detlev Steinberg und Zeichnungen von Karl-Heinz Döhring.

 

* Von der Wolga bis zum Pazifik, bei Tuwinern, Kalmyken, Niwchen und Oroken, Verlag der Nation, Berlin 1990, 236 Seiten mit Fotos von Detlev Steinberg und Zeichnungen von Karl-Heinz Döhring.

 

Biographie:

 

* Pater Maksimylian Kolbe, Guardian von Niepokalanów und Auschwitzhäftling Nr. 16 670, Union Verlag, Berlin 1984, 2. Auflage.

 

 

... als Herausgeberin:

 

Sprichwörterbücher:

 

* Aus Tränen baut man keinen Turm, ein kaukasischer Spruchbeutel, Weisheiten der Adygen, Dagestaner und Osseten, Eulenspiegel Verlag Berlin in zwei Auflagen (1983 und 1985), von mir übersetzt und herausgegeben, illustriert von Wolfgang Würfel.

* Dein Freund ist dein Spiegel, ein Sprichwörter-Büchlein mit 111 Sprichwörtern der Adygen, Dagestaner Kalmyken, Karakalpaken, Karelier, Osseten, Tschuktschen und Tuwiner, von mir gesammelt und zusammengestellt, mit einer Vorbemerkung und ethnographischen Zwischentexten versehen, die Illustrationen stammen von Karl Fischer, die Gestaltung von Horst Wustrau, Herausgeber ist die Redaktion FREIE WELT, Berlin 1986.

 * Liebe auf Russisch, ein in Leder gebundenes Mini-Bändchen im Schuber mit Sprichwörtern zum Thema „Liebe“, Buchverlag Der Morgen, Berlin 1990, von mir (nach einer Interlinearübersetzung von Gertraud Ettrich) in Sprichwortform gebracht, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen, illustriert von Annette Fritzsch.

Aphorismenbuch:

* 666 und sex mal Liebe, Auserlesenes, 2. Auflage, Mitteldeutscher Verlag Halle/Leipzig, 200 Seiten mit Vignetten und Illustrationen von Egbert Herfurth.

 

... als Mitautorin:

 

Kinderbücher:

 

* Warum? Weshalb? Wieso?, Ein Frage-und-Antwort-Buch für Kinder, Band 1 bis 5, Herausgegeben von Carola Hendel, reich illustriert, Verlag Junge Welt, Berlin 1981 -1989.

 

Sachbuch:

 

* Die Stunde Null, Tatsachenberichte über tapfere Menschen in den letzten Tagen des zweiten Weltkrieges, Hrsg. Ursula Höntsch, Verlag der Nation 1966.

 

* Kuratorium zur kulturellen Unterstützung deutscher Minderheiten im Ausland e. V., Herausgegeben von Leonhard Kossuth unter Mitarbeit von Gotthard Neumann, Nora Verlag 2008.

 

 

... als Verantwortliche Redakteurin:

 

* Leben mit der Erinnerung, Jüdische Geschichte in Prenzlauer Berg, Edition  Hentrich, Berlin 1997, mit zahlreichen Illustrationen.

 

* HANDSCHLAG, Vierteljahreszeitung für deutsche Minderheiten im Ausland, Herausgegeben vom Kuratorium zur kulturellen Unterstützung deutscher Minderheiten im Ausland e. V., Berlin 1991 - 1993.

 

 

Die erste Ausgabe von HANDSCHLAG liegt vor. Von links: Dr. Gotthard Neumann, Leonhard Kossuth (Präsident), Horst Wustrau (Gestalter von HANDSCHLAG), Gisela Reller, Dr. Erika Voigt (Mitarbeiter des Kuratoriums zur kulturellen Unterstützung deutscher Minderheiten im Ausland e. V.).

Foto aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

"Der bittere Kampf um die Befriedigung der dringenden leiblichen Bedürfnisse hindert alle Entwickelung des Seelenlebens. Nur der Handelsverkehr mit zivilisierten Nationen weckt einigermaßen den Verstand. Die Tschuktschen gehören zu den geistig gewecktesten Horden..."

 

A. W. Grube Hrsg.), Geographische Charakterbilder für die obere Stufe des geographischen Unterrichts, sowie zu einer bildenden Lektüre für Freunde der Erdkunde überhaupt, Leipzig 1891

 

 

 

Pressezitate (Auswahl)

 zu Gisela Rellers Buchveröffentlichungen:

Dieter Wende in der „Wochenpost“ Nr. 15/1985:

„Es ist schon eigenartig, wenn man in der Wüste Kysyl-Kum von einem Kamelzüchter gefragt wird: `Kennen Sie Gisela Reller?´ Es ist schwer, dieser Autorin in entlegenen sowjetischen Regionen zuvorzukommen. Diesmal nun legt sie mit ihrem Buch Von der Wolga bis zum Pazifik Berichte aus Kalmykien, Tuwa und von der Insel Sachalin vor. Liebevolle und sehr detailgetreue Berichte auch vom Schicksal kleiner Völker. Die ethnografisch erfahrene Journalistin serviert Besonderes. Ihre Erzählungen vermitteln auch Hintergründe über die Verfehlungen bei der Lösung des Nationalitätenproblems.“

B(erliner) Z(eitung) am Abend vom 24. September 1981:

"Gisela Reller, Mitarbeiterin der Illustrierten FREIE WELT, hat autonome Republiken und Gebiete kleiner sowjetischer Nationalitäten bereist: die der Burjaten, Adygen und Karelier. Was sie dort ... erlebte und was Heinz Krüger fotografierte, ergíbt den informativen, soeben erschienenen Band Zwischen Weißem Meer und Baikalsee."

Sowjetliteratur (Moskau)Nr. 9/1982:

 "(...) Das ist eine lebendige, lockere Erzählung über das Gesehene und Erlebte, verflochten mit dem reichhaltigen, aber sehr geschickt und unaufdringlich dargebotenen Tatsachenmaterial. (...) Allerdings verstehe ich sehr gut, wie viel Gisela Reller vor jeder ihrer Reisen nachgelesen hat und wie viel Zeit nach der Rückkehr die Bearbeitung des gesammelten Materials erforderte. Zugleich ist es ihr aber gelungen, die Frische des ersten `Blickes´ zu bewahren und dem Leser packend das Gesehene und Erlebte mitzuteilen. (...) Es ist ziemlich lehrreich - ich verwende bewusst dieses Wort: Vieles, was wir im eigenen Lande als selbstverständlich aufnehmen, woran wir uns ja gewöhnt haben und was sich unserer Aufmerksamkeit oft entzieht, eröffnet sich für einen Ausländer, sei es auch als Reisender, der wiederholt in unserem Lande weilt, sozusagen in neuen Aspekten, in neuen Farben und besitzt einen besonderen Wert. (...) Mir gefällt ganz besonders, wie gekonnt sich die Autorin an literarischen Quellen, an die Folklore wendet, wie sie in den Text ihres Buches Gedichte russischer Klassiker und auch wenig bekannter nationaler Autoren, Zitate aus literarischen Werken, Märchen, Anekdoten, selbst Witze einfügt. Ein treffender während der Reise gehörter Witz oder Trinkspruch verleihen dem Text eine besondere Würze. (...) Doch das Wichtigste im Buch Zwischen Weißem Meer und Baikalsee sind die Menschen, mit denen Gisela Reller auf ihren Reisen zusammenkam. Unterschiedlich im Alter und Beruf, verschieden ihrem Charakter und Bildungsgrad nach sind diese Menschen, aber über sie alle vermag die Autorin kurz und treffend mit Interesse und Sympathie zu berichten. (...)"

Neue Zeit vom 18. April 1983:

„In ihrer biographischen Skizze über den polnischen Pater Maksymilian Kolbe schreibt Gisela Reller (2. Auflage 1983) mit Sachkenntnis und Engagement über das Leben und Sterben dieses außergewöhnlichen Paters, der für den Familienvater Franciszek Gajowniczek freiwillig in den Hungerbunker von Auschwitz ging.“

Der Morgen vom 7. Februar 1984:

„`Reize lieber einen Bären als einen Mann aus den Bergen´. Durch die Sprüche des Kaukasischen Spruchbeutels weht der raue Wind des Kaukasus. Der Spruchbeutel erzählt auch von Mentalitäten, Eigensinnigkeiten und Bräuchen der Adygen, Osseten und Dagestaner. Die Achtung vor den Alten, die schwere Stellung der Frau, das lebensnotwendige Verhältnis zu den Tieren. Gisela Reller hat klug ausgewählt.“

1985 auf dem Solidaritätsbasar auf dem Berliner Alexanderplatz: Gisela Reller (vorne links) verkauft ihren „Kaukasischen Spruchbeutel“ und 1986 das extra für den Solidaritätsbasar von ihr herausgegebene Sprichwörterbuch „Dein Freund ist Dein Spiegel“.

Foto: Alfred Paszkowiak

 Neues Deutschland vom 15./16. März 1986:

"Vor allem der an Geschichte, Bräuchen, Nationalliteratur und Volkskunst interessierte Leser wird manches bisher `Ungehörte´ finden. Er erfährt, warum im Kaukasus noch heute viele Frauen ein Leben lang Schwarz tragen und was es mit dem `Ossetenbräu´ auf sich hat, weshalb noch 1978 in Nukus ein Eisenbahnzug Aufsehen erregte und dass vor Jahrhunderten um den Aralsee fruchtbares Kulturland war, dass die Tschuktschen vier Begriff für `Freundschaft´, aber kein Wort für Krieg besitzen und was ein Parteisekretär in Anadyr als notwendigen Komfort, was als entbehrlichen Luxus ansieht. Großes Lob verdient der Verlag für die großzügige Ausstattung von Diesseits und jenseits des Polarkreises.“

 

 Gisela Reller während einer ihrer über achthundert Buchlesungen

in der Zeit von 1981 bis 1991.

Berliner Zeitung vom 2./3. Januar 1988:

„Gisela Reller hat klassisch-deutsche und DDR-Literatur auf Liebeserfahrungen durchforscht und ist in ihrem Buch 666 und sex mal Liebe 666 und sex mal fündig geworden. Sexisch illustriert, hat der Mitteldeutsche Verlag Halle alles zu einem hübschen Bändchen zusammengefügt.“

Neue Berliner Illustrierte (NBI) Nr. 7/88:

„Zu dem wohl jeden bewegenden Thema finden sich auf 198 Seiten 666 und sex mal Liebe mannigfache Gedanken von Literaten, die heute unter uns leben, sowie von Persönlichkeiten, die sich vor mehreren Jahrhunderten dazu äußerten.“

Das Magazin Nr. 5/88.

"`Man gewöhnt sich daran, die Frauen in solche zu unterscheiden, die schon bewusstlos sind, und solche, die erst dazu gemacht werden müssen. Jene stehen höher und gebieten dem Gedenken. Diese sind interessanter und dienen der Lust. Dort ist die Liebe Andacht und Opfer, hier Sieg und Beute.´ Den Aphorismus von Karl Kraus entnahmen wir dem Band 666 und sex mal Liebe, herausgegeben von Gisela Reller und illustriert von Egbert Herfurth."

 

Schutzumschlag zum „Buch 666 und sex mal Liebe“ .

Zeichnung: Egbert Herfurth

 

FÜR DICH, Nr. 34/89:

 

"Dem beliebten Büchlein 666 und sex mal Liebe entnahmen wir die philosophischen und frechen Sprüche für unser Poster, das Sie auf dem Berliner Solidaritätsbasar kaufen können. Gisela Reller hat die literarischen Äußerungen zum Thema Liebe gesammelt, Egbert Herfurth hat sie trefflich illustriert."

Messe-Börsenblatt, Frühjahr 1989:

"Die Autorin – langjährige erfolgreiche Reporterin der FREIEN WELT - ist bekannt geworden durch ihre Bücher Zwischen Weißem Meer und Baikalsee und Diesseits und jenseits des Polarkreises. Diesmal schreibt die intime Kennerin der Sowjetunion in ihrem Buch Von der Wolga bis zum Pazifik über die Kalmyken, Tuwiner und die Bewohner von Sachalin, also wieder über Nationalitäten und Völkerschaften. Ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird uns in fesselnden Erlebnisberichten nahegebracht."

Im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel schrieb ich in der Ausgabe 49 vom 7. Dezember 1982 unter der Überschrift „Was für ein Gefühl, wenn Zuhörer Schlange stehen“:

„Zu den diesjährigen Tagen des sowjetischen Buches habe ich mit dem Buch Zwischen Weißem Meer und Baikalsee mehr als zwanzig Lesungen bestritten. (…) Ich las vor einem Kreis von vier Personen (in Klosterfelde) und vor 75 Mitgliedern einer DSF-Gruppe in Finow; meine jüngsten Zuhörer waren Blumberger Schüler einer 4. Klasse, meine älteste Zuhörerin (im Schwedter Alten- und Pflegeheim) fast 80 Jahre alt. Ich las z.B. im Walzwerk Finow, im Halbleiterwerk Frankfurt/Oder, im Petrolchemischen Kombinat Schwedt; vor KIM-Eiersortierern in Mehrow, vor LPG-Bauern in Hermersdorf, Obersdorf und Bollersdorf; vor zukünftigen Offizieren in Zschopau; vor Forstlehrlingen in Waldfrieden; vor Lehrlingen für Getreidewirtschaft in Kamenz, vor Schülern einer 7., 8. und 10 Klasse in Bernau, Schönow und Berlin; vor Pädagogen in Berlin, Wandlitz, Eberswalde. - Ich weiß nicht, was mir mehr Spaß gemacht hat, für eine 10. Klasse eine Geographiestunde über die Sowjetunion einmal ganz anders zu gestalten oder Lehrern zu beweisen, dass nicht einmal sie alles über die Sowjetunion wissen – was bei meiner Thematik – `Die kleinen sowjetischen Völkerschaften!´ – gar nicht schwer zu machen ist. Wer schon kennt sich aus mit Awaren und Adsharen, Ewenken und Ewenen, Oroken und Orotschen, mit Alëuten, Tabassaranern, Korjaken, Itelmenen, Kareliern… Vielleicht habe ich es leichter, Zugang zu finden als mancher Autor, der `nur´ sein Buch oder Manuskript im Reisegepäck hat. Ich nämlich schleppe zum `Anfüttern´ stets ein vollgepacktes Köfferchen mit, darin von der Tschuktschenhalbinsel ein echter Walrosselfenbein-Stoßzahn, Karelische Birke, burjatischer Halbedelstein, jakutische Rentierfellbilder, eskimoische Kettenanhänger aus Robbenfell, einen adygeischen Dolch, eine karakalpakische Tjubetejka, der Zahn eines Grauwals, den wir als FREIE WELT-Reporter mit harpuniert haben… - Schön, wenn alles das ganz aufmerksam betrachtet und behutsam befühlt wird und dadurch aufschließt für die nächste Leseprobe. Schön auch, wenn man schichtmüde Männer nach der Veranstaltung sagen hört: `Mensch, die Sowjetunion ist ja interessanter, als ich gedacht habe.´ Oder: `Die haben ja in den fünfundsechzig Jahren mit den `wilden´ Tschuktschen ein richtiges Wunder vollbracht.´ Besonders schön, wenn es gelingt, das `Sowjetische Wunder´ auch denjenigen nahezubringen, die zunächst nur aus Kollektivgeist mit ihrer Brigade mitgegangen sind. Und: Was für ein Gefühl, nach der Lesung Menschen Schlange stehen zu sehen, um sich für das einzige Bibliotheksbuch vormerken zu lassen. (Schade, wenn man Kauflustigen sagen muss, dass das Buch bereits vergriffen ist.) – Dank sei allen gesagt, die sich um das zustande kommen von Buchlesungen mühen – den Gewerkschaftsbibliothekaren der Betriebe, den Stadt- und Kreisbibliothekaren, den Buchhändlern, die oft aufgeregter sind als der Autor, in Sorge, `dass auch ja alles klappt´. – Für mich hat es `geklappt´, wenn ich Informationen und Unterhaltung gegeben habe und Anregungen für mein nächstes Buch mitnehmen konnte.“

 

Die Rechtschreibung sämtlicher Texte wurde behutsam der letzten Rechtschreibreform angepasst.

 

Die TSCHUKTSCHEN wurden am 24.02.2014 ins Netz gestellt. Die letzte Bearbeitung erfolgte am 25.01.2016.

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Zeichnung: Karl-Heinz Döhring