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Ein gewissermaßen abgeschlossenes Fragment?

Über Georgien
Aufzeichnungen aus Georgien
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1999, 127 S.

Dem Land begegnen - nicht das Land bereisen. Das scheint mir (S. 102) ein Schlüsselsatz von Clemens Eich zu sein. Warum zog es Eich, 1954 in Rosenheim am Inn geboren, gerade nach Georgien, in ein "erfundenes Land, das es doch wirklich gibt"? Vielleicht spielte die Suche nach den Wurzeln der eigenen Herkunft eine Rolle: das Familiengerücht vom kaukasischen Ururgroßvater. Allerdings: "Ich hätte genauso gut nach Usbekistan oder Kirgisien reisen können, statt Tiflis hätte mich auch Samarkand gereizt. Es ist aber Georgien geworden."

Der ersten Reise 1995 folgten 1997 zwei weitere Aufenthalte. Die Aufzeichnungen handeln von diesen Reisen, sind aber kein Reisebuch. Sie enthalten viele Informationen, sind aber kein Sachbuch. Clemens Eich - Schauspielschule in Zürich, Engagements in Landshut, Frankfurt am Main und Wien, schrieb Gedichte, ein Theaterstück, einen Prosaband und den Roman "Das steinerne Meer", für den er 1996 den Hamburger Mara-Classens-Preis erhielt - starb, mitten in der Niederschrift seiner Aufzeichnungen aus Georgien, im Februar 1998 an den Folgen eines nie vollständig aufgeklärten Unfalls in Wien. Die vorliegenden Aufzeichnungen sind also ein Fragment - ein Mosaik aus fünf gültig formulierten Kapiteln, aus Notizen, Tagebucheintragungen, Beobachtungen, Reflexionen, Aphorismen... Um den Verlag für sein Projekt einzunehmen, hatte Eich formuliert: "Ein Land als Handlung eines Buches... Anspruch ist, das Land Georgien, Schnittstelle von Orient und Okzident, Durchgangsland, Grenzland, in Sprache zu kristallisieren... Ein Buch des Fragens soll mein Beutebuch aus Georgien sein."

Obwohl wichtige Teile fehlen, etwa das geplante Kapitel über Stalin oder im Zusammenhang mit Georgien die kritische Sicht auf Deutschland, spürt man deutlich, dass es ein gutes Buch hätte werden können. Mir geradezu aus dem Herzen gesprochen Eichs kritische Anmerkungen über die viel gerühmte georgische Tafel, an der ein Tamada die Trinksprüche und das Trinken leitet. Eich notiert:"(...) eine Diktatur im kleinen." Oder: "(...) eine Form von höflicher Nötigung." Oder: "Die georgische Tafel ist ein freudloses, kommunikationsloses Ritual. Eine archaische ernste Männermesse (...)" Eich war 1995 "halbvorbereitet" nach Georgien gefahren, hat sich aber voll eingelassen auf das Land und seine Bewohner, und er erzählt von der Begegnung mit Georgien immer auch als unvorhergesehene Begegnung mit sich selbst.

Aber leider ergeben sich in dem schmalen Bändchen unschöne Doppelungen. Da stehen bereits ziemlich ausgefeilte Gedanken aus den Notiz- und Tagebüchern dann noch einmal fast wörtlich in den gültig formulierten Texten. Und: In den Notizen stehen viele "Merkhilfen" des Autors wie: "Erlebnis mit den drei Männern auf dem Weg in den Kaukasus, als der Chauffeur auf der Straße unten wartete." Was geben dem Leser solche Stichworte, die nur für den Autor selbst bestimmt waren. Oder Gedanken solcher Art: Trauern werden / Singende Augen / Hotel Iveria / Ordnung wohnen / ein kaukasischer Teppich / Der Weg zum Teufel usw. usw. In Notizbüchern eines Reisenden stehen immer auch Überlegungen, die er später vielleicht doch nicht veröffentlicht hätte, z. B.: "Ich habe keine Angst nach Georgien zu fahren, aber ich habe Angst, nach Ostdeutschland zu fahren." Die Sichtung und Ordnung des Nachlasses besorgte Elisabeth Eich.

Im Gegensatz zum Nachwortschreiber Ulrich Greiner bin ich nicht der Meinung, dass wir es hier "mit einem gewissermaßen abgeschlossenen Fragment" zu tun haben. Ich finde, dass man das Fragment noch mehr des Fragmentarischen hätte entkleiden müssen, der Stellen, die auch dem geübtestem Leser nichts zu sagen haben (können).

Ganz unklar, warum sich der Verlag für Vorsatz und Nachsatz zu einer Karte (des Atlasses Rand McNally) entschlossen hat, auf der die meisten geografischen Bezeichnungen von der Schreibweise her schwer oder gar nicht zu entschlüsseln sind. Eine solche Karte diente Clemens Eich zur Vorbereitung seiner ersten Georgienreise. Aber der Leser hätte eine lesbare Karte verdient, statt dieser Verbeugung vor dem verstorbenen Autor.

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

 

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  • Steffi Chotiwari-Jünger, Georgier in Berlin.
  • Steffi Chotiwari-Jünger, Die Literaturen der Völker Kaukasiens.
  • Iosseb Grischaschwili, Niemals hat der Dichter eine Schönere erblickt...
  • Wladimir und Olga Kaminer, Küche totalitär. Das Kochbuch des Sozialismus. Darin: Georgien.
  • Fried Nielsen (Hrsg.), Georgien. EUROPA ERLESEN.
  • Rainer Petto, Dr. Reineggs und Graf Kohary in Georgien.
  • Sergio Pitol, Die Reise. Ein Besuch Rußlands und seiner Literatur.

Am 15.02.2003 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am  28.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

  
Wasserkrug:
aus Metall,

verziert
mit
georgischen
Ornamenten.

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