Vorab!

Leider kommt im Internet bei meinem (inzwischen veralteten) FrontPage-Programm  längst nicht alles so, wie von mir in html angegeben. Farben kommen anders, als von mir geplant, Satzbreiten wollen nicht so wie von mir markiert, Bilder kommen manchmal an der falschen  Stelle, und - wenn  ich  Pech  habe  -  erscheint  statt  des  Bildes  gar  eine  Leerstelle.

Was tun? Wer kann helfen?

 

*

Wird laufend bearbeitet!

 

 

Ich bin eine KARELIERIN: Die Radiotechnikerin

Shinel aus Petrosawodsk.

 

 

Foto: Heinz Krüger

                    

Zeichnung: Karl-Heinz Döhring

 

"Die Seele, denke ich, hat keine Nationalität."

Juri Rytchëu (tschuktschischer Schriftsteller, 1930 bis 2008) in: Im Spiegel des Vergessens, 2007

 

Wenn wir für das eine Volk eine Zuneigung oder gegen das andere eine Abneigung hegen, so beruht das, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, auf dem, was wir von dem jeweiligen Volk wissen oder zu wissen glauben. Das ist – seien wir ehrlich – oft sehr wenig, und manchmal ist dieses Wenige auch noch falsch.  

Ich habe für die Berliner Illustrierte FREIE WELT jahrelang die Sowjetunion bereist, um – am liebsten - über abwegige Themen zu berichten: über Hypnopädie und Suggestopädie, über Geschlechtsumwandlung und Seelenspionage, über Akzeleration und geschlechtsspezifisches Kinderspielzeug... Außerdem habe ich mit jeweils einem deutschen und einem Wissenschaftler aus dem weiten Sowjetland vielteilige Lehrgänge erarbeitet.* Ein sehr interessantes Arbeitsgebiet! Doch 1973, am letzten Abend meiner Reise nach Nowosibirsk – ich hatte viele Termine in Akademgorodok, der russischen Stadt der Wissenschaften – machte ich einen Abendspaziergang entlang des Ob. Und plötzlich wurde mir klar, dass ich zwar wieder viele Experten kennengelernt hatte, aber mit der einheimischen Bevölkerung kaum in Kontakt gekommen war.  

Da war in einem magischen Moment an einem großen sibirischen Fluss - Angesicht in Angesicht mit einem kleinen (grauen!) Eichhörnchen - die große FREIE WELT-Völkerschafts-Serie** geboren!  

Und nun reiste ich ab 1975 jahrzehntelang zu zahlreichen Völkern des Kaukasus, war bei vielen Völkern Sibiriens, war in Mittelasien, im hohen Norden, im Fernen Osten und immer wieder auch bei den Russen. 

Nach dem Zerfall der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken zog es mich – nach der wendegeschuldeten Einstellung der FREIEN WELT***, nun als Freie Reisejournalistin – weiterhin in die mir vertrauten Gefilde, bis ich eines Tages mehr über die westlichen Länder und Völker wissen wollte, die man mir als DDR-Bürgerin vorenthalten hatte.

Nach mehr als zwei Jahrzehnten ist nun mein Nachholebedarf erst einmal gedeckt, und ich habe das Bedürfnis, mich wieder meinen heißgeliebten Tschuktschen, Adygen, Niwchen, Kalmyken und Kumyken, Ewenen und Ewenken, Enzen und Nenzen... zuzuwenden.

Deshalb werde ich meiner Webseite www.reller-rezensionen.de (mit inzwischen weit mehr als fünfhundert Rezensionen), die seit 2002 im Netz ist, ab 2013 meinen journalistischen Völkerschafts-Fundus von fast einhundert Völkern an die Seite stellen – mit ausführlichen geographischen und ethnographischen Texten, mit Reportagen, Interviews, Sprichwörtern, Märchen, Gedichten, Literaturhinweisen, Zitaten aus längst gelesenen und neu erschienenen Büchern; so manches davon, teils erstmals ins Deutsche übersetzt, war bis jetzt – ebenfalls wendegeschuldet – unveröffentlicht geblieben. 

Sollten sich in meinem Material Fehler oder Ungenauigkeiten eingeschlichen haben, teilen Sie mir diese bitte am liebsten in meinem Gästebuch oder per E-Mail gisela@reller-rezensionen.de mit. Überhaupt würde ich mich über eine Resonanz meiner Nutzer freuen!

Gisela Reller 

    * Lernen Sie Rationelles Lesen" / "Lernen Sie lernen" / "Lernen Sie reden" / "Lernen Sie essen" / "Lernen Sie, nicht zu rauchen" / "Lernen Sie schlafen" / "Lernen Sie logisches Denken"...

 

  ** Im 1999 erschienenen Buch „Zwischen `Mosaik´ und `Einheit´. Zeitschriften in der DDR“ von Simone Barck, Martina Langermann, Siegfried Lokatis (Hrsg.), erschienen im Berliner Ch. Links Verlag, ist eine Tabelle veröffentlicht, aus der hervorgeht, dass die Völkerschaftsserie der FREIEN WELT von neun vorgegebenen Themenkreisen an zweiter Stelle in der Gunst der Leser stand – nach „Gespräche mit Experten zu aktuellen Themen“.

(Quelle: ZA Universität Köln, Studie 6318)

 

*** Christa Wolf zur Einstellung der Illustrierten FREIE WELT in ihrem Buch "Auf dem Weg nach Tabou, Texte 1990-1994", Seite 53/54: „Aber auf keinen Fall möchte ich den Eindruck erwecken, in dieser Halbstadt werde nicht mehr gelacht. Im Gegenteil! Erzählt mir doch neulich ein Kollege aus meinem Verlag (Helmut Reller) – der natürlich wie zwei Drittel der Belegschaft längst entlassen ist –, daß nun auch seine Frau (Gisela Reller), langjährige Redakteurin einer Illustrierten (FREIE WELT) mitsamt der ganzen Redaktion gerade gekündigt sei: Die Zeitschrift werde eingestellt. Warum wir da so lachen mußten? Als im Jahr vor der `Wende´ die zuständige ZK-Abteilung sich dieser Zeitschrift entledigen wollte, weil sie, auf Berichterstattung aus der Sowjetunion spezialisiert, sich als zu anfällig erwiesen hatte, gegenüber Gorbatschows Perestroika, da hatten der Widerstand der Redaktion und die Solidarität vieler anderer Journalisten das Blatt retten können. Nun aber, da die `Presselandschaft´ der ehemaligen DDR, der `fünf neuen Bundesländer´, oder, wie der Bundesfinanzminister realitätsgerecht sagt: `des Beitrittsgebiets´, unter die vier großen westdeutschen Zeitungskonzerne aufgeteilt ist, weht ein schärferer Wind. Da wird kalkuliert und, wenn nötig, emotionslos amputiert. Wie auch die Lyrik meines Verlages (Aufbau-Verlag), auf die er sich bisher viel zugute hielt: Sie rechnet sich nicht und mußte aus dem Verlagsprogramm gestrichen werden. Mann, sage ich. Das hätte sich aber die Zensur früher nicht erlauben dürfen! – "Das hätten wir uns von der auch nicht gefallen lassen", sagt eine Verlagsmitarbeiterin.

Wo sie recht hat, hat sie recht.“

 

 

Zeichnung: Karl-Heinz Döhring

„Ein echter Geheimtipp, der in keinem Reiseführer steht ist der Zoo-Komplex „Drei Bären in der Nähe von Syapsya, 65 Kilometer westlich von Petrosawodsk. Der 65jährige Wassili Popow hat sich hier vor sieben Jahren einen Lebenstraum erfüllt und einen Park mit Tieren angelegt. Dabei handelt es sich nicht um einen klassischen Streichelzoo oder einen Zoopark, sondern um einen Zoo-Komplex. Die Besucher dürfen die Tiere hautnah miterleben, nicht selten auch anfassen. Und dabei handelt es sich nicht um Hasen oder Meerschweinchen, sondern um gefährliche Tiere wie Braunbären und Wölfe. Beeindruckend ist der innige und liebevolle Umgang Popows mit den Tieren. Er nennt alle beim Namen und geht regelmäßig mit ihnen spazieren. Viele Tiere tragen Halsbänder, auch Luchse und Wölfe, so dass Wassili Popow mit ihnen an der Leine durch den Wald laufen kann.“

Pauline Tillmann in: Russland HEUTE vom 20. Mai 2012

Wenn Sie sich die folgenden Texte zu Gemüte geführt und Lust bekommen haben, die Karelier kennenzulernen, sei Ihnen das Reisebüro ? empfohlen; denn – so lautet ein karelisches Sprichwort -

 

Es ist nicht die ganze Welt, die man aus dem Fenster sieht.

 

(Hier könnte Ihre Anzeige stehen!)

 

 

 

 

 

 

 

Die KARELIER… (Eigenbezeichnung: Karjalaschet; die Bedeutung ist nicht geklärt.)

… sind ein finnisch-ugrisches Volk (ostseefinnische Gruppe), vor allem in der Republik Karelien. Karelien liegt im Nordwesten des osteuropäischen Tieflands und ist Teil der Russischen Föderation. Karelien erstreckt sich von St. Petersburg bis zum nördlichen Polarkreis, vom Finnischen Meerbusen im Westen bis zum eisbedeckten Weißen Meer im Osten. Sie umfasst den größten Teil der historischen Region Karelien. Das Grenzland zwischen Finnland und Russland gilt als eine der geheimnisvollsten Regionen Europas. Obwohl im rauen Norden gelegen, gehört Karelien zu den ältesten Kulturlandschaften auf dem Kontinent. - Eine karelische Bekannte von mir sagt: „Ich finde, dass wir Karelier, den Mittelmeer-Bewohnern ähneln – die gleiche ruhige Art: `Kommst du heute nicht, kommst du morgen´... Hektik mögen wir überhaupt nicht und auch keine Versprechen. Wir verabreden uns nicht mit Freunden - wir kommen einfach, wenn wir Lust dazu haben, sie zu sehen. Und genauso machen es unsere Freunde. Im Ganzen sind wir, Karelier, ein sehr angenehmes Volk.“

"Früher einmal war der schlimmste Feind des Menschen das wilde Tier. Das wissen wir alle, aber für gewöhnlich denken wir, diese Zeit sei längst vorbei. Dabei reichen bei uns in Russland zwei, drei Tage aus, um in Gegenden zu gelangen, wo man den Kampf des Menschen mit dem Tier beobachten kann. Bären und Wölfe vernichten im Norden [in Karelien] häufig alles, was der Mensch durch gewaltige Anstrengungen erreicht hat, denn ein Wirtschaften ohne Kuh und Pferd ist undenkbar. In den Niederlassungen der Semstwoverwaltung werden in diesen Gegenden nicht Sensen und Pflüge verkauft, sondern Gewehre und Pulver. Für jeden erlegten Bären oder Wolf wird dort eine Prämie gezahlt, wobei der Jäger als Beleg den Schwanz und die Ohren bei der Verwaltung abliefert, die dann in der Semstwoverwaltung als Beweisstücke vorgelegt werden."

Michail Prischwin in: Im ungestörten Reich der Vögel, 1906

Bevölkerung: Nach  der  Volkszählung von  1926  zählten die  Karelier 248 017 Angehörige; 1939  wurden 249778 Karelier gezählt; 1959  waren es 164 050 Karelier; 1970 gleich 141 148; 1979 gleich 133 182; 1989 gleich 124 921; 2002 gleich 93 344;  nach der letzten Volkszählung von 2010 gaben sich 60 815 Personen als Karelier aus. Ihrem anthropologischen Typ nach gehören die Karelier zur europäiden Rasse, den ein geringer Anteil mongoloider Züge charakterisiert.  - Bis hinein in die Stalinzeit blieben die russischen Siedler in weiten Gebieten Kareliens eine Minderheit. Dann setzte bis zum Ende der Sowjetunion eine massive Zuwanderung vorwiegend slawischer Prägung ein. Heute macht die Titularnation in Karelien nur ganze 7,1 Prozent aus – neben Russen (78,9 %), Belorussen (3,6 %) Ukrainern (2,0 %), Finnen (1,3 %), Wepsen (0,5 %) u. a. Nach der Volkszählung von 2002 lebten 75Prozent  in Städten und 25 Prozent  auf dem Land. - Die Bevölkerungsdichte beträgt 3,6 Einwohner pro Quadratkilometer, d. h. noch heute leben in Karelien, auf einem Territorium, beinahe so groß wie Deutschland, weniger Menschen als etwa in Köln. – Die gegenwärtige ethnische Situation gibt zur Besorgnis Anlass. Infolge der kulturellen und sprachlichen Assimilierung gibt es in der Republik Karelien nur einen Landkreis – den Kreis Olonez – in dem die Karelier die Bevölkerungsmehrheit bilden. – Eine angestammte nationale Minderheit in Karelien sind die Wepsen mit 3 423 Angehörigen (2010) und die Saamen, früher Lappen, mit etwa 2 000 Angehörigen (2010)

Fläche: Karelien  - das sagenumwobene Grenzland zwischen Russland und Finnland - erstreckt  sich von Süden nach Norden über 670 Kilometer und von Osten nach Westen über 400 Kilometer. Die Fläche Kareliens beträgt 172 400 Quadratkilometer. Ein Viertel der Fläche nehmen Gewässer ein: über 60 000 Seen sowie 11 000 Flüsse und Bäche. Der längste Fluss, die Wodla, ist 400 Kilometer lang. Das hügelige Land fällt von Westen nach Osten zur Küste des Weißen Meeres und nach Süden zu den Ufern des Onega- und des Ladogasees ab. Die absoluten Höhen des Reliefs liegen zwischen fünf und 250 Metern. Die höchste Erhebung ist der Berg Nuorunen (577 Meter), er befindet sich im Norden der Republik. - Bis 1990 wurden 90 000 Hektar versumpften Bodens entwässert, entsprechend weniger Torf-, Moos- und Blaubeeren gibt es. Leider.

Geschichtliches: Die Geschichte Kareliens lässt sich bis in die Urzeit zurückverfolgen. An den Ufern des Onegasees und des Weißen Meeres sind Steinzeichnungen erhalten, die vor sechstausend Jahren in die Klippen gemeißelt wurden. Sie beweisen, dass schon vor sechstausend Jahren Menschen in dieser unwirtlichsten Region Europas gelebt haben. – Kareliens Geschichte ist von unterschiedlichen Herrschern geprägt: Seit dem 12. Jahrhundert geriet Karelien zum Kampfplatz zwischen westlichem und östlichem Christentum, zwischen dem zunächst katholischen, ab dem 16. Jahrhundert lutherisch-evangelischen Schweden und dem orthodoxen Russland. Vom 9. bis 12. Jahrhundert gehörte der südliche Teil des heutigen Karelien zum altrussischen Staat. 1323 wurde Karelien das erste Mal geteilt. Kultur, Religion und Gesellschaft entwickelten sich in beiden Teilen unterschiedlich. Für die Folgezeit spricht man von einem finnischen und einem russischen Karelien. Vom 12. bis 15. Jahrhundert  war Karelien unter der Herrschaft Nowgorods (1277 Zwangstaufe unter Fürst Jaroslaw).

 

 

Ketzergericht in Nowgorod, 1375. Im 11. Jahrhundert begannen die Auseinandersetzungen

mit Schweden um den Zugang zur Ostsee. In diesem Ringen standen die Karelier auf der Seite Nowgorods - 

vom 9. bis 15. Jahrhundert ein Fürstentum.

Miniatur (aus einer Bildchronik des 16. Jahrhunderts) aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

Im Russisch-Türkischen Krieg – Friedensvertrag von Schlüsselburg (1323) - wurde Karelien in ein schwedisches und ein russisches Hoheitsgebiet geteilt und Letzteres 1478  mit Nowgorod dem Moskauer Staat eingegliedert. Im Frieden von Stolbowo (1617) sicherte sich Schweden  den größten Teil von Russisch-Karelien. Nach dem Großen Nordischen Krieg (1700-1721) bzw. im Frieden von Åbo (1743) wurden die westlichen Teile um Wyborg und Kexholm russisch. Ein besonders bemerkenswertes historisches Ereignis in Karelien waren in den 60er und 70er Jahren des 18. Jahrhunderts Unruhen der Bauern, die Fronabgaben in den staatlichen und privaten Fabriken abzuleisten hatten - bekannt als der Kishi-Aufstand, an dem sich sowohl Karelier als auch Russen beteiligten. Die Anführer des Aufstandes wurden mit hundert Peitschenhieben bestraft, und ihnen wurden die Buchstaben BO3 (Abkürzung für Aufrührer) ins Gesicht eingebrannt. Der Aufstand von Kishi war der größte Bauernaufruhr des 18. Jahrhunderts in Karelien.- Als 1809 Schweden zugunsten Russlands auf ganz Finnland verzichten musste, gliederte 1811 Alexander I. diese Gebiete wieder an das Großfürstentum Finnland an. Für die Kulturgeschichte und die Entwicklung einer nationalen Identität Finnlands im 19. Jahrhundert spielte Karelien eine wichtige Rolle. Das Material für das Nationalepos "Klevala" wurde hauptsächlich hier zusammengetragen. Bestrebungen in Russisch-Karelien, die auf eine Vereinigung mit Finnland gerichtet waren, scheiterten. 1917 erklärte Finnland nach der russischen Revolution seine Unabhängigkeit. 1918 wird in Russisch-Karelien die Sowjetmacht errichtet. Im April 1918 jedoch erobern konterrevolutionäre Finnen und amerikanische Interventen den Norden Kareliens. 1919 wurde die Republik Finnland gegründet, zu der auch Finnisch-Karelien gehörte. Bis 1920 hatte die Rote Armee Russisch-Karelien befreit. Aus dem Norden Kareliens schuf die sowjetische Regierung 1920 innerhalb der RSFSR die Karelische Werktätigenkommune unter dem von Lenin herbei geholten Finnen Edvard Gylling, der am 30. November 1881 in Kuopio geboren worden war und auf Seiten der Roten im finnischen Bürgerkrieg gekämpft hatte. Zuvor war es um 1921/1922 zu Unruhen in Uhtua (Kalevala) in Ostkarelien gekommen, in denen die Aufständischen einen Anschluss an das junge, unabhängige Finnland suchten. Andererseits retteten sich viele der „Roten“ nach Ostkarelien und folgten einem utopischen Sozialismus, der gerade in Karelien viele Menschen begeisterte und sogar manchen der nach Amerika und Kanada ausgewanderten Finnen zur Rückkehr bewog. Sie gründeten utopische Kolonien (später Kolchosen), von denen einige sehr bekannt wurden, später jedoch an inneren Streitigkeiten scheiterten. - Auch der Worpsweder Maler Heinrich Vogeler bereiste von 1925 bis 1936 mehrmals Karelien und fertigte politisch motivierte Aquarelle und Zeichnungen an, die zum Teil im Staatlichen Karelischen Landeskundemuseum in Petrosawodsk zu sehen sind. - Die „Selbständigkeit“ der Republik Karelien unter Gylling war in den 1920er und 1930er Jahren noch recht weitgehend. Finnisch wurde an den Schulen in den überwiegend karelisch geprägten Orten gelehrt und gesprochen. Gyllings Verhalten war durchaus finnisch geprägt und führte in den Schreckensjahren unter dem Vorwurf des Nationalismus 1935 zu seiner Absetzung und schließlich zu seiner geheimen Exekution, vermutlich 1938. Der bei weitem größte Teil der nach Karelien emigrierten Finnen und auch die Rückwanderer aus Amerika überlebten diese Jahre nicht. - Nach dem Einmarsch Deutschlands in Polen am 1. September 1939 forderte die Sowjetunion von Finnland u. a. die karelische Landenge mit ihrem Zugang nach Leningrad und einige militärische Stützpunkte. Als Finnland dieses Ansinnen ablehnte, überfiel die Sowjetunion Finnland ohne Kriegserklärung am 30. November 1939.

"In der Nacht vom 30. November zum 1. Dezember fielen die ersten Schüsse. Die seien von sowjetischer, nicht von finnischer Seite abgefeuert worden, schreib die internationale Presse, und die empörten Schweden fragten sie nach Gründen für den Landhunger der Russen in Karelien. (...) Finnland tritt die Karelische Landenge mit Wyborg ab, dazu Teile Ostkareliens, verpachtet die Halbinsel Hangö auf 30 Jahre an die Sowjetunion. Aber die Ruhe trog. Während Hitler und Stalin ihren Pakt brachen, und die Deutschen im Juni 41 die UdSSR angriff, verbündeten sich die Finnen mit den Deutschen und traten erneut in den Krieg ein."

Bärbel Reetz, in: Lenins Schwestern, 2008

Aus Furcht vor einem bevorstehenden Kriegsaubruch war bereits im Oktober 1939 ein Teil der Bevölkerung aus den östlichen Gebieten evakuiert worden. Als es zunächst ruhig blieb, kehrten viele Menschen zurück und wurden von dem sowjetischen Angriff völlig überrascht. Nur wenige Tage nach ihrer Ankunft mussten sie erneut fliehen. Im zweiten Weltkrieg lieferten sich Finnen, Russen und Deutsche im berüchtigten "Winterkrieg" (1939/40) schwere Gefechte. Fast neun Zehntel Kareliens fielen an die Sowjetunion, der Rest verblieb bei Finnland. Etwa 420 000 Menschen (fast zwölf Prozent der finnischen Bevölkerung) verließen während und nach dem Krieg die umkämpften Gebiete. 407 000 von ihnen waren Karelier. Ein Einquartierungsplan regelte ihre provisorische Unterkunft und ein Schnell-Besiedlungsgesetz die Landzuteilung.

"Als Stalin seinen Generälen im November 1939 den Befehl erteilte, Finnland anzugreifen, hatte jedermann erwartet, daß die Rote Armee das Nachbarland in wenigen Tagen unterwerfen werde. Erstmals mußte Stalin erleben, daß seine Drohungen nicht zur sofortigen Kapitulation der Bedrohten führten. Die finnische Armee leistete heroischen Widerstand, sie kesselte sowjetische Einheiten ein, rieb sie auf und trieb sie an manchen Frontabschnitten sogar zurück. Im Januar 1940, unmittelbar vor dem Beginn einer weiteren sowjetischen Offensive, erklärte Stalin im Kreise seiner Gefolgsleute, daß Finnland den Krieg nicht überleben werde. (...) Die Rote Armee aber benötigte weitere zwei Monate, um bescheidene Geländegewinne zu erzielen und die finnische Regierung zu zwingen, Teile von Karelien an die Sowjetunion abzutreten. Im März beendeten die Kriegsparteien den Konflikt, die Sowjetunion vergrößerte ihr Territorium, aber Finnland bewahrte seine Souveränität.  Für dieses  Ziel  hatten  mehr  als  125 000  sowjetische  Soldaten  ihr Leben lassen müssen, mehr als 265 000 waren verwundet aus dem Krieg zurückgekehrt."

Jörg Baberowski in: Stalins Herrschaft der Gewalt, 2012

- Ab 1941 befand sich Finnland wieder im Krieg mit der Sowjetunion, im "Fortsetzungskrieg (1941 bis 1944). Es gelang in den folgenden Monaten, die verlorenen Gebiete zurückzuerobern. etwa 70 Prozent der Evakuierten kehrten zurück. Im Sommer 1944 mussten sie erneut fliehen, als ein Großangriff der Roten Armee die finnischen Streitkräfte bis an die Grenzen von 1940 zurückdrängte. Mit dem Waffenstillstandsabkommen vom 19. September 1944 verlor Finnland dieselben Gebiete wie bereits im "Winterkrieg". Das brachte auch wirtschaftliche Einbußen, denn Karelien hatte seit 1917 eine rasche Industrialisierung erlebt. Bedeutend war seine Holz- und Papierindustrie. Der Krieg endete schließlich im Juli 1944 mit dem Sieg der Roten Armee und der erneuten Teilung Kareliens. - Von 1940 bis 1947 verbrachte Juri Andropow (1914 bis 1984) - ab 1983 bis zu seinem Tode Staatsoberhaupt der Sowjetunion - in Karelien; er war vom ersten Tag des Großen Vaterländischen Krieges aktiver Teilnehmer der Partisanenbewegung. - Die Geschichte der russischen Flotte ist bekanntlich aufs engste mit Zar Peter I. verbunden, und die von ihm begründete Flotte feierte bereits ihr 300jähriges Bestehen. Aber die Schifffahrt ist im an Seen, Flüssen und Meeren reichen Karelien natürlich viel älter. In Petrosawodk hat sich seit 1978 ein an historischen Segelschiffen interessierter, sie erforschender und nachbauender Enthusiastenkreis gegründet, der bis heute existiert.

Staatsgefüge: Nach der Gründung der „Karelischen Werktätigenkommune“ 1920 erfolgte 1923 die Gründung der Karelofinnischen ASSR (= Autonome Sozialistische Sowjetrepublik), aus der in den 1930er Jahren zahlreiche Karelier und Finnen nach Sibirien und Kasachstan deportiert wurden; während des zweiten Weltkriegs flüchteten etwa 45 000 Menschen (Emigration u. a. nach Finnland). 1940 – nach Vereinigung mit dem von Finnland im Ergebnis des "Winterkriegs" abgetretene West-Karelien wurde die ASSR in die Karelo-Finnische SSR (= Sozialistische Sowjetrepublik) umgewandelt und zeitweilig zur 16. Unionsrepublik aufgewertet. Diese wurde jedoch 1956 als Karelische ASSR wieder Teil der RSFSR (= Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik). - Am 9.Aufust 1990 erklärte die Karelische ASSR als erste ASSR Russlands ihre Souveränität und nahm am 13.November 1991 den Namen „Republik Karelien“ an; diese unterzeichnete am 31. März 1992 den Föderationsvertrag mit Russland. Republikoberhaupt ist seit Mai 2012 Alexander Chudilainen bisheriger Parlamentschef im Leningrader Gebiet -, der Andrej Nedilow abgelöst hat, der seit 2010 Gouverneur Kareliens war.

Verbannungsgebiet: Karelien war schon zu Zarenzeiten Verbannungsort für politische Häftlinge. Da das klimatisch unwirtliche Karelien in der Nähe von Petersburg (Leningrad) liegt, verschickte man dorthin weit mehr Menschen als nach Sibirien. Von Karelien sprach man deshalb auch als von dem `nahen Sibirien´. So wurden hierher zum Beispiel einige namhafte Teilnehmer des Dekabristen-Aufstandes von 1825 verbannt, u. a. der Schriftsteller Fjodor Glinka (1786 bis 1880). – In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden Mitglieder revolutionärer Zirkel oder Teilnehmer von Studenten-, Bauern- und Nationalen Unruhen ins Olonezker Gouvernement verbannt, wo sie die Entwicklung der dortigen sozialen Bewegung beeinflussten.

"... niemand anders als Lenin, der ja selbst bereits alles verfolgen ließ, was er für Opposition zum Bolschewismus hielt, war einer der Gründer des GULAG. Schon zu seiner Zeit, zu Beginn der 1920er Jahre, wurden politische Häftlinge auf die Solowki-Inseln im Weißen Meer deportiert. (...) Eine bittere Wahrheit, um die sich ein großer Teil der sowjetischen, und später auch der russischen Gesellschaft herumdrückte. Noch Gorbatschow war in den Zeiten von Perestroika und Glasnost zu einer Abrechnung mit Lenin und seiner brutalen Politik nicht bereit."

Thomas Roth in: Russisches Tagebuch, 2003

Einer der ungezählten nach Karelien Verbannten war der sowjetische Politiker Michail Iwanowitsch Kalinin (1875 bis 1946). Am 15. März 1935 folgte der Beschluss, „unzuverlässige Elemente“ aus den Grenzgebieten des Leningrader Gebietes und der Karelischen ASSR auszuweisen, sie seien in Gebiete Kasachstans und Westsibiriens zu deportieren. Etwa 10 000 Personen waren von dieser Maßnahme betroffen. – Unter Stalin wurde in Karelien der erste GULAG errichtet. Die nach Karelien verbannten Häftlinge schufteten an der Murman-Bahntrasse, gruben den Ostsee-Weißmeer-Kanal und erschlossen die riesigen urwaldähnlichen karelischen Forste. - Andere Menschen kamen, weil sie hier von der Obrigkeit nicht belästigt wurden. So die Altgläubigen, die eine Kirchenreform unter Patriarch Nikon ablehnten und in die Einsamkeit Kareliens, des Altai oder an den Baikal zogen. - Ein Verbannungs-Beispiel für die neueste Zeit: Ex-Yukos-Chef Michail Chodorkowski ist 2011 nach Segescha in Karelien verlegt worden. Die Kolonie Nr. 7 ist für 1 342 Häftlinge vorgesehen. Segescha ist ein einsam zwischen Wäldern und Seen gelegenes 30 000 Einwohner zählendes Städtchen im Zentrum Kareliens, etwa 270 Kilometer nördlich der Republikshauptstadt Petrosawodsk. Das Straflager in Segescha ist nach der Schließung einer Geflügelfabrik heute der größte Arbeitsgeber. Laut Chodorkowskis Anwalt Wadim Kljuwgant macht die Kolonie einen „gepflegten und ordentlichen ersten Eindruck“, Chodorkowski habe sich über nichts beklagt. Auf die Frage, was ihm seine Anwälte zum nächsten Treffen mitbringen sollten, habe er mit „Nichts“ geantwortet. Laut Kljuwgant sei die Anzahl von Päckchen für jeden Häftling beschränkt, weshalb Chodorkowski es seiner Familie überlassen wollte, für ihn nützliche Dinge zusammenzustellen. - Seit Dezember 2013 ist Michail Chodorkowski auf freiem Fuß.

"Freunde in St. Petersburg hatten uns gewarnt: `In Karelien werdet ihr unendlich viel Wald sehen, unendlich viele Seen. Und unendlich viele Kreuze.´ Sie sollten recht behalten. Schon in den ersten Tagen unserer Drehreise sind wir an unzähligen Kreuzen vorbeigekommen. (...) In großen Gruppen sind sie versteckt irgendwo in den Wäldern zu finden, an den Ufern von Seen und Flüssen. Es sind keine Friedhöfe für Menschen, die eines natürlichen Todes starben, sondern Gedenkstätten für Ermordete, Gefallene, Verhungerte, Erfrorene... Das Kreuz ist ein Symbol der Tragödie Kareliens geworden."

Klaus Bednarz in: Das Kreuz des Nordens, 2007

*

"Die Sychronie der Geschichte will, dass ausgerechnet in derselben Woche [im November 1937] zwei nördliche Gulags (Belomor und Solowki) aufgelöst werden. Die noch verbliebenen 11 000 Lagerinsassen, von denen es keine Personalakten gibt, sondern lediglich eine Namensliste erhalten geblieben ist, werden nach Massenerschießungen in den Wäldern Kareliens verscharrt."

Frank Westerman in: Ingenieure der Seele

*

"Als zu Beginn der dreißiger Jahre eine Untersuchungskommission aus Großbritannien in die Sowjetunion kam, ließ der Parteichef  Leningrads, Sergei Kirow, Lagerhäftlinge und Sondersiedler in die karelischen Wälder treiben. Den ahnungslosen Engländern zeigte man Arbeiter und Bauern, die eigens herbeigeschafft worden waren, damit sie den Ausländern ihr glückliches Leben vorführten. Die Häftlinge kamen erst wieder zurück,, als die Mitglieder der Kommission abgereist waren."

Jörg Baberowski in: Stalins Herrschaft der Gewalt, 2012

Hauptstadt: Die Hauptstadt Kareliens ist Petrosawodsk, sie ist so alt wie St. Petersburg. Die beiden Städte haben das Alter und ihren Gründer gemeinsam: 1703 wurde auf Geheiß Peters I. (der übrigens panische Angst vor Kakerlaken hatte) an der Mündung der Lossossinka am Onegasee das „Peterwerk“ gegründet. In diesem Werk wurde Eisen erzeugt und wurden Kanonen gegossen, ferner Bomben, Kanonenkugeln, Handfeuerwaffen, Gewehre, Pistolen, Musketen, Degen… hergestellt. Diese Waffen erhielten die besten Garde- und Dragonerregimenter. Daneben lieferte das Werk auch chirurgische Instrumente. Die Waffenfabrik erreichte eine hohe Vollkommenheit in der Herstellung eleganter vergoldeter Gefäße für Degen und Dolche sowie Pulverhörner mit Wappen und Monogrammen der Garderegimenter, Gehängeschnallen aus Silber, und vergoldetem Kupfer. Wie der dänische Gesandte in Russland bezeugte, überreichte ihm Peter I. im Jahre 1710 einen im „Peterwerk“ hergestellten Degen für den dänischen König, `damit dieser sieht, welche Arbeit von russischen Meistern geleistet wird´. Am wichtigsten jedoch wurden die Kanonen für den Nordischen Krieg. - Am 21. März 1777 erhielt Petrosawodsk Stadtrecht und Wappen und wurde Ende des Jahrhunderts Gouvernementstadt. Der erste Gouverneur war hier 1784 bis 1786 der russische Dichter Gawriil Dershawin (1743 bis 1816), der bekannteste russische Poet vor Alexander Puschkin. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde von Katharina II. in Verbindung mit dem Russisch-Türkischen Krieg die Alexandrower Kanonenfabrik gebaut. Neben Waffen stellte man hier auch die meisten der berühmten St. Petersburger Gitter und Löwen her. Heute baut man im Alexandrow-Werk Bagger, Traktoren und Raupenschlepper für die Forstwirtschaft. Petrosawodsk ist eine der vielen russischen Städte, deren Grundriss auf dem Reißbrett entstand. Das Zentrum der Stadt ist der Runde Platz mit kaisergelben und klassizistischen Bauten. Zwei Bronzelöwen bewachen das Portal zur Residenz des Gouverneurs. Vom Runden Platz führen strahlenförmig breite Prospekte in alle Himmelsrichtungen, zum Ufer des Onegasees fallen sie terrassenförmig ab. Das heutige Petrosawodsk ist das industrielle, kulturelle und wissenschaftliche Zentrum Kareliens. Von großer wirtschaftlicher Bedeutung sind die Metall-, Holz- und Fischverarbeitung sowie der Schiffbau und die Lebensmittelindustrie. Es gibt in Petrosawodsk mehrere Hochschulen, Theater, Museen, ein Konservatorium, eine Staatliche Universität, eine Medizinische Fakultät. Laut Volkszählung von 2010 lebten in der Hauptstadt 261 978 Menschen. - Als mein Völkerschaftsbeitrag über KARELIEN in der FREIEN WELT 24/1978 erschien, erreichten uns wie zu jedem Völkerschafts-Beitrag viele Leserbriefe. Fritz Vortanz aus Tangerhütte schrieb: „Ich war 20 Jahre alt, als ich im August 1945 als Kriegsgefangener nach Karelien kam. Vom ersten bis zum letzten Tage meines Dortseins arbeitete ich in der Vulkanisierwerkstatt eines Auto-Reparatur-Werkes in Petrosawodsk. Meine Arbeitskollegen waren liebenswerte Karelier, wie Sie sie in der FREIEN WELT charakterisiert haben. (…) Sie lehrten mich diesen Beruf, den ich bis dahin ja noch nicht ausgeübt hatte, und ich bin dankbar, bei ihnen gelernt zu haben. Obwohl das Leben der Kriegsgefangenen eingeengt war, gaben uns die sowjetischen Behörden und Lageroffiziere die Möglichkeit, ihre Stadt und deren Umgebung kennenzulernen. Ich badete im Onegasee, erlebte die Weißen Nächte, 30 Grad Hitze im Sommer und 40 Grad Kälte im Winter (…)." Und Berta Riedel aus Berlin schrieb: „1945 stand ich fassungslos inmitten meiner zerstörten Stadt Petrosawodsk. Damals weinte ich bittere Tränen… Während des Großen Vaterländischen Krieges war ich mit meinem zukünftigen Ehemann bekannt geworden. Er war Antifaschist, politischer Emigrant. Nach dem Krieg heirateten wir, und so kam ich Ende 1946 nach Deutschland. Es begannen schwere Jahre für mich. Ich musste die deutsche Sprache lernen und die Ursache begreifen, warum Deutsche meinem Heimatland so viel Leid gebracht hatten… (…) Im vergangenen Jahr war ich mit meinem zwölfjährigen Enkel in Karelien. Wie schön ist Petrosawodsk wiedererstanden. Diesmal rollten mir Tränen des Glücks über das Gesicht…“

Wirtschaft: Die Grundlage der traditionellen Wirtschaft der Karelier war einst der Ackerbau. Die Viehzucht besaß eine eher untergeordnete Bedeutung. Im Norden Kareliens war die Rentierzucht verbreitet. Die Rentiere wurden als Zugtiere genutzt. Selbstverständlich gingen die Karelier auf Jagd und betrieben Fischfang. Eine wichtige Rolle spielten die mit Wald und Holz verbundenen Gewerbe. Es wurden Bäume gefällt und auf den Flüssen zum Ort der Holzverarbeitung geflößt. Außerdem wurden Teer und Pech hergestellt. - Was die Handwerke betrifft, so waren bei den Kareliern die Eisenproduktion und die Eisenbearbeitung verbreitet. Die Karelier waren auch Juweliere, außerdem wurde Holz bemalt, und es wurden Flechtarbeiten aus Birkenrinde und Stroh gefertigt.

Typisches Kunstgewerbe der Karelier: Aufbewahrungstruhe aus Stroh.

Zeichnung:  Karl-Heinz Döhring

Bei den Frauen war traditionell die Stickkunst verbreitet und das Stricken und Weben. – Heute ist jeder dritte der rund 450 000 erwerbstätigen Karelier im industriellen Sektor beschäftigt, wobei Holzverarbeitung, Maschinenbau und Metallverarbeitung dominieren. Vor allem die Holzindustrie nimmt eine überragende Rolle ein: bei einem Anteil von 0,3 % an der Gesamtbevölkerung Russlands beträgt der karelische Produktionsanteil 33,5 % bei Papier und 30 % bei Produktionsmitteln für die Zellulose- und Papierproduktion. Karelien ist aber auch reich an Bodenschätzen. Es werden Glimmer, Granit, Eisenerz, Marmor… abgebaut. In der Umgebung des Onegasees liegen große Lagerstätten von Marmor verschiedener Farben: rot, rosa, reinem Weiß, schwarz, dunkelgrau, olivgrün, gelb. Aus in der Nähe des Dorfes Schokscha im Gebiet des Onegasees gewonnenem roten Porphyr wurde das Grabmal Napoleon I. im Pariser Invalidendom gebaut. Marmor aus der Gegend des Dorfes Belaja Gora verkleidet berühmte St. Petersburger Bauwerke wie das Winterpalais, das Marmorpalais, die Kasaner Kathedrale u. a.  – Für den Palast der Republik in Berlin wurden neuntausend Quadratmeter polierte karelische Marmorplatten verwendet. - Seit dem 15. Jahrhundert sind die Vorräte von Amethyst bekannt. Das ist ein Edelstein in violetten und rosa Schattierungen aus der Umgebung des Dorfes Wolkostrow unweit der Insel Kishi. Dort wurde besonders wertvoller Amethyst mit nadelförmigen Einsprengungen von Goethit entdeckt, einem Mineral, das im 19. Jahrhundert vom russischen Forscher Lenz zu Ehren Goethes so benannt wurde, der sich bekanntlich mit Mineralogie befasste. Die Wirtschaft im russischen Karelien besteht nicht nur im Abbau natürlicher Ressourcen wie Holz und Erze, sondern auch in deren Weiterverarbeitung. - Die Landwirtschaft ist seit dem Untergang der Sowjetunion weitgehend zusammengebrochen, die alten Felder (ein Prozent der Gesamtfläche Kareliens) und Wiesen verbuschen, die Dörfer sind über Schotterpisten schlecht erreichbar. - Der Tourismus gehört zu den aufstrebenden Wirtschaftszweigen. Die herrliche Naturlandschaft, kombiniert mit interessanten Sehenswürdigkeiten, bietet hierfür beste Voraussetzungen. Die meisten ausländischen Gäste besuchen das Land im Rahmen einer Fluss- und Seenkreuzfahrt zwischen St. Petersburg und Moskau. Immer mehr Gäste unternehmen aber auch kürzere Reisen von Finnland aus oder Flugreisen mit der FINNAIR (ab Helsinki bzw. Joensuu) in die Hauptstadt Petrosawodsk. Reisen mit dem eigenen PKW sind ebenfalls möglich. Die Hauptstraßen sind asphaltiert, bleifreies Benzin gibt es jedoch nur im Bereich von Petrosawodsk. - Kondopoga (37 000 Einwohner) ist eine Industriestadt nördlich von Petrosawodsk. Sie war zu Sowjetunion-Zeiten der größte Arbeitgeber Kareliens. Nach dem Zerfall der Sowjetunion versucht die Zellulose-Fabrik aus der Krise zu kommen, die mittlerweile einen Schuldenberg von zehn Milliarden Rubel (rund 25 Millionen Euro) angehäuft hat. Laut einer Aussage des Polizeikommandanten von Kondopoga macht man sich in Petrosawodsk auf ähnliche Ausschreitungen gefasst, wie 2006 in Kondopoga. Damals hatten Einwohner Kareliens Menschen aus den südrussischen und kaukasischen Regionen auf der Straße angegriffen. Diesmal könnte der Auslöser nicht Rassismus, sondern Arbeitslosigkeit heißen. Das Zellulose-Werk – auch heute noch wichtigster Arbeitgeber der Region hat wegen seiner Schulden jegliche Kreditwürdigkeit bei den Banken verloren und steht wegen seiner Schulden kurz vor dem Ruin. ­ Im Februar 2013 wird allerdings gemeldet, dass Kondopoga einen Investor gefunden habe. Eine Vereinbarung des russischen Herstellers von Zeitungsdruckpapier mit dem russischen "Finanzinstitut Bank Sankt Petersburg" soll dem Unternehmen aus der schwierigen Finanzsituation helfen. Der Investor plant eine nachhaltige Modernisierung der Produktion von Kondopoga. Als Zeitraum werden die nächsten drei bis vier Jahre genannt. Die Umstrukturierung soll auch Alternativen zur Produktion von Zeitungsdruckpapier aufweisen, das eine jährlich sinkende Nachfrage verkraften muss. – Karelien schenkt der Entwicklung des Kulturtourismus als ein Standbein der Wirtschaft immer mehr Aufmerksamkeit. - Kareliens wichtigster Handelspartner ist Finnland. Die Republik Karelien pflegt außerdem vorrangig Handelsbeziehungen mit Deutschland, Großbritannien, den USA… 

Verkehr: Karelien wird vor allem durch die Murmanbahn erschlossen, die Sankt Petersburg mit Murmansk über Petrosawodsk verbindet. Ihre Länge beträgt  1 448 Kilometer. Sie besitzt eine große wirtschaftliche Bedeutung, weil Murmansk (zusammen mit ein paar benachbarten Buchten) der einzige ganzjährig eisfreie Hafen Nordwestrusslands ist und von dort Waren mit der Bahn in zentrale Regionen des europäischen Russland transportiert werden können. Die von der Murmanbahn  in Kola, kurz vor Murmansk, abzweigende Strecke nach Petschenga und Nikel ist die nördlichste Bahnstrecke Europas. Die Murmanbahn wurde im ersten Weltkrieg, zwischen 1915 und 1917 erbaut, um die Armee des Zarenreichs ganzjährig mit Rüstungsgütern ihrer westlichen Alliierten Großbritannien und Frankreich versorgen zu können. In Ermangelung russischer Arbeitskräfte wurden dabei zunehmend auch österreichisch-ungarische und deutsche Kriegsgefangene eingesetzt, von denen viele beim Bau umkamen. Während des zweiten Weltkriegs war die Murmanbahn wieder von größter strategischer Bedeutung, da über sie die Waren der Nordmeergeleitzüge ins Landesinnere an die Front transportiert wurden. Roland Kaltenegger schreibt in "Krieg in der Arktis": "Während die Murmanbahn die gesamte sowjetische Front mit alliierten Waffen und Kriegsgerät versorgte, fehlten auf deutscher Seite vielfach Transportmittel. Meist blieb nur der Fußmarsch... Die Tagesmarschleistung wurde mit 40 Kilometern veranschlagt."  Auf die stark durch verteidigte Murmanbahn erfolgten - größtenteils allerdings vergeblich - schwere deutsche Luftangriffe. - Die Weißmeer-Ostsee-Wasserstrasse(Weißmeer-Ostsee-Kanal) verbindet das Weiße Meer bei Belomorsk mit dem Onegasee, auf diesem gelangt man über den Swir zum Lagodasee und von da über die Newa nach St. Petersburg. Und damit an die Ostsee. Die Verbindung wurde in den Jahren 1931 bis 1933 auf Geheiß Stalins von Zwangsarbeitern unter unsäglichen Bedingungen erstellt - nur mit Hammer und Meißel, auch bei vierzig Grad unter null; man spricht von 170 000 am Bau beteiligten Häftlingen, von welchen  25 000 Leben gekommen seien. Nach Aussagen von Alexander Solschenizyn seien 350 000 Zwangsarbeitern am Bau beteiligt gewesen, von denen 250 000 ums Leben gekommen seien.

"Der ebenso legendäre wie berüchtigte Weißmeer-Kanal trug früher den Namen Stalin-Kanal. Unterwegs dorthin biegen wir bei dem Dorf Sandormoch von der Hauptstraße ab, in einen Wald, der als einer der grauenvollsten Orte in der Geschichte Kareliens gilt. Hier liegen in Massengräbern unter einer dünnen Sandschicht, etwa zehntausend Opfer des Stalin´schen Massenterrors. Gulag-Häftlinge, politische Gefangene aus Lagern in allen Teilen Kareliens, erschossen von der NKWD zwischen August 1937 und Dezember 1938. Allein in einer Woche Ende Oktober 1937, so besagen es die NKWD-Akten, wurden hier 1 111 Häftlinge aus dem Lager Solowki, einer Inselgruppe im Weißen Meer, umgebracht. Menschen aus 62 Nationen wurden im Wald von Sandormoch verscharrt. Doch entdeckt wurden sie erst nach der Perestroika, im Jahre 1996 - von der russischen Menschenrechtsorganisation `Memorial´. Bis dahin galt das Schicksal der hier Ermordeten für die sowjetischen Behörden offiziell als `ungeklärt´."

Klaus Bednarz in: Das Kreuz des Nordens, 2007

– Karelien ist durch ein System von Flüssen, Seen und Kanälen mit der Barentssee, dem Schwarzen Meer und dem Kaspischen Meer verbunden -und verfügt über einen Flughafen, eine Eisenbahn, Busse und Passagierschiffe.

Sprache/Schrift: Das erste karelische Schriftdenkmal, aufgezeichnet in kyrillischen Buchstaben, ist eine Birkenrinde-Urkunde aus dem 13. Jahrhundert, die bei archäologischen Ausgrabungen in Nowgorod entdeckt wurde. Sie trägt die Nummer 292 und enthält vier Beschwörungen gegen Blitzeinschläge. - Die karelische Sprache gehört zum ostseefinnischen Zweig der finno-ugrischen Sprachen und zerfällt in die drei Hauptdialekte: eigentliches Karelisch / Olonetzisch / Lüdisch. Dieser Zerfall in die verschiedenen Dialekte hat bis heute die Schaffung einer einheitlichen karelischen Schriftsprache verhindert. Karelisch wird von etwa 30 000 Menschen (2010) in Russland, vor allem in der Republik Karelien und in der Oblast Twer, gesprochen. Seit den 1980er Jahren ist Russisch die einzige Amtssprache, Karelisch, Finnisch und Wepsisch sind sogenannte Nationalsprachen. – 1990 erfolgte die offizielle Anerkennung der karelischen Sprache, denn von einigen Wissenachaftlern wurde sie nicht als eigene Sprache angesehen, weil sie dem Finnischen zu ähnlich sei. Seit 1991 gibt es wieder ein Wörterbuch und seit 2004 ist das Karelische, das nur noch von etwa der Hälfte der Karelier gesprochen wird, anerkannte Minderheitensprache in Karelien.

Literatursprache/Literatur: Da es keine karelische Schriftsprache gibt, existiert auch keine karelische Literatur im engeren Sinne. Das karelische Schrifttum beschränkt sich im Wesentlichen auf religiöse Übersetzungen. Das „Kalevala“-Nationalepos, das karelischen Ursprungs ist, wurde von dem finnischen Schriftsteller, Philologen und Arzt Elias Lönnrot (1802 bis 1884) aus mündlichen Überlieferungen zusammengestellt und umfasst 22 795 Verse. Aber es gibt zahlreiche karelische Lyriker und Schriftsteller, die in russischer und finnischer Sprache schreiben, der bekannteste karelische Autor ist Jaakko Rugujew. 1934 wurde der Karelische Schriftstellerverband gegründet. 1971 wurden 137 Bücher und Broschüren herausgegeben.

Bildung: 1931 wurde in Petrosawodsk das Institut für Sprache, Literatur und Geschichte der Karelischen Filiale der Akademie der Wissenschaften der UdSSR gegründet. Ende der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts wurde der Finnisch-Unterricht in den karelisch sprechenden Gebieten verboten und erst mit der Einsetzung von Otto Wilhelm (Wille) Kuusinen (1881 bis 1964) wieder eingeführt, allerdings nur bis 1956. Seither wird an den Schulen in Karelien kein Finnisch mehr unterrichtet, es sind nur noch die Alten, die diese Sprache beherrschen. Angebote Finnlands, in entsprechenden Gebieten finnische Lehrer einzusetzen, wurden bislang nicht angenommen. – Wissenschaftszentrum im Föderalen Distrikt Nordwest und Universitätsstadt ist Petrosawodsk, Kareliens Hauptstadt. Profitiert hat Karelien von seiner geographischen Nähe zu Sankt Petersburg, der unter Peter I. neu geschaffenen russischen Hauptstadt. Peter I. initiierte auch die Gründung der Akademie der Wissenschaften. Von Interesse war neben den kulturellen Besonderheiten der nordwestlichen Region für viele Forscher der Reichtum an Flora und an Naturvorkommen, was einige Spezialisierungen in der karelischen Wissenschaft erklärt.

Kultur/Kunst: Obwohl im rauen hohen Norden gelegen, ist Karelien eine der ältesten Kulturlandschaften Europas. Über sechstausend Jahre alte Steinzeichnungen an der Küste des Weißen Meeres, unweit des Polarkreises, sind gut erhalten und zeugen vom Leben und Alltag der urzeitlichen Meeres- und Taigajäger in dieser Region. Der Süden Kareliens birgt einzigartige kulturhistorische Denkmäler, kunstvolle Bauten altkarelischer und altrussischer Holz- und Steinarchitektur, die nach dem Ende der Sowjetunion teilweise wieder ihrer geistlichen Bestimmung übergeben wurden. - Traditionell als das Zentrum karelischer Kultur gilt der Ort Kalevala. Es gibt ein - schon zu Sowjetzeiten gegründetes - karelisches Laientheater, das neben einigen Stücken in karelischer Sprache vor allem Lustspiele auf Russisch aufführt. Das einstige große karelische Heimatmuseum wurde geschlossen, weil man ein Baugrundstück für Läden brauchte. Deshalb ist das Museum heute in einer winzigen Holzhütte mit zwei kleinen Zimmern untergebracht.

"Früher gab es hier auch noch ein finnisch-karelisches Radio und eine finnisch-karelische Zeitung. Seit der Perestroika ist alles eingestellt. Marktwirtschaft."

Swetlana Nikolajewa, Leiterin des kleinen Heimatmuseums in Kalevala

Zur Besonderheit der karelischen Kultur gehörte, das das Runensingen nicht nur einigen auserwählten, besonders begabten Menschen vorbehalten war. Zu Zeiten Lönnrots konnten fast alle Menschen in Kalevala und den Dörfern der Umgebung eine Rune singen oder auch neuere Lieder vortragen. Die überlieferten Lieder wurden von gewöhnlichen Jägern, Bauern und Fischern gesungen. Im weltberühmten, von Lönnrot aufgezeichneten Liederzyklus "Kalevala" ist alles enthalten, was die menschliche Existenz ausmacht - große Liebe und Freundschaft, Geburt, Hochzeit, Reisen, aber auch Rache, Bosheit und Tod...

 

Gesundheitswesen: Nicht weit vom Naturschutzgebiet „Kiwatsch“ befindet sich das Sanatorium „Kiwatsch“. Das ist das berühmteste Sanatorium von Karelien. Hier bietet man eine reiche Palette verschiedener Dienste an: Aromatherapie, Moorbehandlung, Blutegelbehandlung… Bei uns würde man dieses Sanatorium eine „Wellness-Oase“ nennen. Das Hauptkriterium der erfolgreichen Behandlung sind das örtliche kristallklare Wasser und die reine Luft. Das Sanatorium und seine Angestellten wurden bereits mehrfach Preisträger für wissenschaftlich-medizinische Entwicklungsarbeiten.

Klima: Das Klima in Karelien wird durch das Weiße Meer und das Nordmeer geprägt, weshalb das karelische Klima Züge des Kontinental- und Meeresklimas aufweist. Das führt zu kalten Wintern und recht frischen Sommern. Im Durchschnitt erreichen die Temperaturen in Karelien 13 Grad minus im Winter und 15 Grad plus im Sommer. Die durchschnittliche Jahrestemperatur liegt in Karelien bei plus 3 Grad, wobei der mit minus 11 Grad kälteste Monat der Februar ist. Der wärmste Monat ist mit plus 17 Grad der Juni. Die höchste aufgezeichnete Temperatur in Karelien betrug plus 35 Grad, die niedrigste lag bei minus 44 Grad.

Natur/Umwelt: Karelien ist mit einer grandiosen Natur gesegnet. Die karelische Landschaft stellt eine Fortsetzung der finnischen Seenlandschaft nach Osten dar, weswegen auch zahlreiche Seen in Karelien liegen. Im Süden befinden sich mit dem Ladogasee und dem Onegasee die zwei größten Seen Europas. Insgesamt werden etwa 60 000 Seen gezählt, 49 Prozent der Fläche Kareliens sind Waldgebiet, 25Prozent Wasserfläche.  – 1984 entstand ein 30 Kilometer nördlich der Stadt Kostomukscha gelegenes Naturschutzgebiet mit 50 000 Hektar Fläche. Eine Zierde dieses Naturschutzgebietes ist der See Kamennoje, in dem sich seltene Fischarten wie Lachs, Äsche, Maräne und Quappe tummeln.

Pflanzen- und Tierwelt: Geprägt wird Karelien von weiten Wäldern mit Nadelbäumen (Kiefern, Gemeine Fichten, Finnische Fichten, Sibirische Fichten und Sibirische Lärchen), Laubbäumen (Besenbirke, Hängebirke, Espe und Graue Erle; es kommen auch Linden, Bastulmen, der Spitzblattahorn und die Schwarze Erle vor); an den Seeufern sowie an den Rändern von Feldern und Wiesen gedeihen Weiden, Graue Erlen, Faulbeersträucher und Ebereschen. Kareliens Waldgebiet ist der größte Sauerstoffproduzent Europas. - Karelien ist eine von Gletschern geformte Landschaft. Ein Viertel Kareliens sind Moore, sie erstrecken sich über große Flächen und befinden sich in einem wilden und Natur belassenen Zustand, wie man ihn nur noch selten in Europa findet. Berühmt ist die Karelische Birke, die zu Zeiten der Sowjetunion unter Naturschutz stand; sie gehört zur teuersten Birkenart der Welt. Ihre charakteristische Maserung zeichnet sich durch dunkle halbmondförmige Einlagerungen und besonders wilde, unregelmäßige Strukturen aus. Nach entsprechender Bearbeitung ist es dem Marmor ähnlich. Nach langjährigen Forschungen sind lettische Wissenschaftler zu dem Schluss gekommen, dass es sich bei der Karelischen Birke nicht um eine besondere Baumart, sondern um eine durch Viren herbeigerufene Krankheit handelt. Karelische Birken finden für die Herstellung wunderschöner Möbel Verwendung – gegenwärtig gibt es nur noch etwa 15 000 Karelische Birken. – Das meistverbreitete Tier der karelischen Wälder ist das Eichhörnchen. Der Hirsch des Nordens, das Rentier, ist den Verhältnissen des karelischen Nordens ausgezeichnet angepasst. In den Espenwäldern leben Elche, auch Luchs, Marder, Hermelin, Wolf und Bär kommen vor. In der Einsamkeit Kareliens sind Tiere zu Hause, die in Westeuropa sonst kaum noch zu finden sind. Das größte ist der Braunbär, dessen Population - in ganz Karelien - auf bis zu eintausend Tiere geschätzt wird. Da die Tiere gesetzlich geschützt sind und weder geschossen noch gefangen werden dürfen, vermehrt sich ihr Bestand kontinuierlich.  Zuwachs gibt es auch aus Russland, da immer wieder Bären über die Grenze kommen. Auch mehrere Hundert Wölfe bevölkern die vielen Wälder - sehr zum Leidwesen der Rentierzüchter, deren Tiere ab und an Opfer von Bären oder Wölfen werden. Ein besonders seltenes Tier lässt sich mit etwas Glück im Saimaa-Seengebiet beobachten: die Saimaa-Ringelrobbe, die im Unterschied zu ihren Verwandten, den Ringelrobben, im Süßwasser lebt. Tiere, die man mit Karelien sofort verbindet, sind natürlich Elch und Ren. Elche wie Rentiere gibt es in solchen Massen, dass sie vor allem im Straßenverkehr für Probleme sorgen. Der Elchbestand wird jedes Jahr durch gezielte Abschüsse reduziert, erholt sich jedoch sehr schnell wieder. Rentiere hingegen werden nicht geschossen - sie sind halbdomestizierte Tiere, die von Züchtern in großen Herden gehalten werden. Zweimal im Jahr werden die Tiere aussortiert, die geschlachtet werden sollen. Ebenso wenig dürfen die wilden Rentiere gejagt werden, von denen es schätzungsweise eintausend Tiere gibt. Die wilden Rens waren in Karelien bereits ausgerottet, in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts wanderten einige Tiere von Russland aus ein. Darüber hinaus sind in Karelien auch Luchse, unzählige Vogel- und Fischarten heimisch – außerdem Auerhähne, Birkhühner, Ottern, Marder, der Kanadische Biber, Vielfraß, Seeadler, Wanderfalke. Im Frühling stellen sich aus dem Süden Wildenten, Schwäne, Schlammläufer, Stare, Schwalben und viele andere Vögel ein. Specht und Fichtenkreuzschnabel, Auerhahn und Birkhahn, Haselhuhn und Rebhuhn leben in den karelischen Wäldern das ganze Jahr hindurch. Auf die Begegnung mit einem Tier gibt es auf jeden Fall eine Garantie: die Stechmücke. Die Plagegeister lassen sich in Karelien nicht vermeiden und nur mühsam von ihrer Stechlust abhalten - es sei denn, man besucht – wie wir! - das Land im Winter. - Geradezu berühmt ist der Karelische Bärenhund. Er stammt aus Karelien, von Hunden im finnisch-russischen Grenzgebiet ab. Selbst finnische Hundezüchter wurden mit dieser Rasse erst um 1923 bekannt. Obwohl dieser Hund lange in Karelien beheimatet ist, liegen seine Wurzeln vermutlich auf der europäischen Seite des Urals, in der Taiga. Er ist eng verwandt mit den europäischen Laika-Hunderassen. 1936 wurde er erstmals ausgestellt. Der Karelische Bärenhund wird bis 60 Zentimeter groß und etwa 28 Kilogramm schwer. Das Haar ist relativ lang, rau aber glatt anliegend, er hat reichlich Unterwolle. Die Ohren sind mittelgroß, stehend, dreieckig, die Rute ist nach vorne gebogen und meist mit weißer Spitze. Der Karelische Bärenhund wird für die Jagd auf wehrhaftes Wild wie Bären und Elche eingesetzt.

Behausungen: Ihre Behausungen erbauten die Karelier in der Regel am Wasser. Ihre traditionelle Siedlungsform ist das Dorf. Die Holzhäuser besaßen einen hohen Unterbau und einen überdeckten Hof. Somit befanden sich die Wohnräume und die Stallungen unter einem Dach. Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts gab es noch Holzhäuser ohne Schornstein. Diese Häuser besaßen in den meisten Fällen kein Fundament, ihre Fassade wies nach Süden. Außergewöhnliche Beispiele der Holzarchitektur sind die über hundert Jahre alten Bauernhäuser der Familien Oshenev und Elisarov. Sie vermitteln einen guten Einblick in die typischen Lebensgewohnheiten jener Zeit. Wohnbereich, Scheune und Stall waren unter einem Dach versammelt, damit die Bauern im tiefen Winter so selten wie möglich nach draußen mussten. Undenkbar ist das Leben auf dem Land ohne Badehaus (Banja)! Bereits in der „Nestorchronik“ aus dem 12. Jahrhundert wird von hölzernen Badehäusern in Nordrussland (und Karelien) berichtet.

Ernährung: Die Nahrungsgrundlage der Karelier waren Mehl und verschiedenste Graupen. Die meisten Karelier buken ihr Brot aus Sauerteig, im Nordwesten wurden trockene Fladen mit einem runden Loch in der Mitte gebacken. Sehr beliebt waren die Kuchen mit Gemüse-, Pilz-, Beeren- oder Fleischfüllung. Es wurde auch gern ein Fischkuchen gegessen, wobei ein Fisch im Stück oder aber größere Fischstücke in Teig gebacken wurden. Aus Graupen wurde Brei gekocht. In früheren Zeiten geschah das auch für bestimmte Rituale. Zum Beispiel war es üblich, für das Hochzeitsmahl einen halb flüssigen Gerstenbrei zu kochen, der im Tongefäß auf die Hochzeitstafel gestellt wurde. Sobald der Brei aufgegessen war, wurde das Tongefäß zerschlagen, was Glück bringen sollte. Als Gemüse war vor allem die Rübe verbreitet, ab Anfang des 20. Jahrhunderts wurde sie mehr und mehr von Kartoffeln und Weißkraut verdrängt. Für den Winter salzte man in Karelien Pilze ein. Die gesammelten Pilze wurden auch getrocknet, um im Winter Pilzsuppen zu kochen. Für den Winter wurden auch Moosbeeren und Preiselbeeren gesammelt. Aus Sumpfbrombeeren und Heidelbeeren wurden Warenje (Konfitüre für den Tee) und Kissel (Kompott, das mit Mehl oder Stärke angedickt wird) gekocht. Eine wichtige Ergänzung des Speisezettels war der Süßwasserfisch. Aus frischem, gedörrtem und eingesalzenem Fisch wurden verschiedenste Speisen zubereitet. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wurde wenig Fleisch gegessen. Man tat das meistens nur, wenn schwere Arbeiten auszuführen waren. Aber es wurden viel Milch- und Molkereiprodukte verzehrt. Unter den Getränken waren Rüben-Kwas und Tee beliebt. Das Bier war ein Getränk, das nur bei bestimmten Ritualen getrunken wurde.

Kleidung: Die Männer trugen gerade geschnittene Hemden mit Stehkragen und seitlichem Vorderverschluss, die umgürtet wurden. Sie trugen diese Hemden stets über ihren engen Leinen- oder Tuchhosen. Eine charakteristische Besonderheit der Karelier waren ihre Halstücher. Im Winter setzten sie Pelzmützen oder Mützen aus Schafsfell auf, in der warmen Jahreszeit selbst angefertigte Filzhüte. - Bei den Frauen waren zwei Bekleidungsformen beliebt – entweder mit einem Sarafan (einem Kleiderrock) oder mit einem Rock. Unter dem Sarafan wurde ein Leinenhemd getragen. Die Röcke wurden aus fünf bis sechs Stoffbahnen genäht. Die wohl älteste Bekleidungsform war ein langes Hemd in der Art einer Tunika. In Nordkarelien besaßen diese Frauenhemden einen Verschluss auf dem Rücken. Über ihren Sarafan banden die Frauen noch eine Schürze. In Nordkarelien trugen sie ein großes Schultertuch. Als Kopfbedeckung waren Kopftücher und Stirnbänder beliebt. Die verheirateten Frauen trugen unter ihrem Kopftuch noch eine weiche Mütze. Der Kopfschmuck der Frauen war stets reich verziert. Die Oberbekleidung der Männer und Frauen war ähnlich. Sie wurde aus selbstgewebtem Leinen oder Tuch genäht. Meistens trug man Kaftane, die links verschlossen wurden, aber auch bequem zugeschnittene Kittel aus grobem Leinen. Im Winter trug man Pelzmäntel oder lange Schafspelze. Als Schuhwerk dienten Lederstiefel mit weicher ganzer Sohle ohne Absatz. Die Karelier im Norden trugen dagegen Fellstiefel mit nach oben gezogenen Spitzen. Es wurden auch Filzstiefel und Bastschuhe getragen.

Folklore: Die wechselvolle Geschichte am Grenzgebiet zwischen den skandinavischen und russischen Stämmen hat die Kultur Kareliens geprägt. Hier findet man großartige Bespiele der nordisch-russischen Holzarchitektur. Besonders die Kirchen beeindrucken noch heute den Besucher. Der Bezirk Kalevala mit zahlreichen Häusern in typisch karelischem Stil ist ein Zentrum der karelofinnischen Kulturtradition. – Viele Rituale und Traditionen gehören natürlich der Vergangenheit an, aber noch bis ins 20. Jahrhundert wurden einige Rituale zelebriert, um die Geister günstig zu stimmen. Noch heute trägt so manch ein Karelier ein Amulett. Man kennt in Karelien den Baumkult, den Kult um Natur-, Haus- und Hofgeister, den Feuerkult. Am interessantesten finde ich den Baumkult. Die Karelier glaubten, dass jeder Baum eine Seele hat, und dass sich diese Seele an den Menschen mit Krankheit oder sogar Tod rächen kann, wenn sie unsachgemäß behandelt wird. Wen wundert es da, dass das Baumfällen und der Transport aus den unerschlossenen Wäldern ins Dorf wie ein Ritual zelebriert wurden. In alten Zeiten sprach der Holzfäller, bevor er sich auf den Weg zur Arbeit machte Zaubersprüche und schrieb sie auf Papier. Das Mittragen der Beschwörungsformeln sollte ihn davor schützen, von einem fallenden Baum verletzt zu werden. Im Wald bat er die „Herren des Waldes“ um die Erlaubnis, Bäume zu schlagen. Ganz alte Bäume ließ man stehen, sie sollten eines natürlichen Todes sterben. Auf jeden ausgewählten Baum wurde die Hand aufgelegt – damit bat man ihn um Verzeihung. Die ins Holz eingedrungene Axt musste immer gleich herausgezogen werden, denn man war überzeugt, die Hand würde schmerzen, ließe man die Axt stecken. Die Baumstämme wurden immer mit dem unteren Ende nach vorn ins Dorf transportiert, analog der Tradition, einen Toten mit den Füßen zuerst aus dem Haus zu tragen. In den ersten vierzig Tagen durfte zwar die Rinde abgeschält, aber noch kein Haus gezimmert erden. Es heißt: „Bäume beweinen vierzig Tage ihren Tod“, ebenso wie man glaubte, dass die Seele eines Verstorbenen vierzig Tage lang auf der Erde wandelt. Das vorbereitete Holz stand ein Jahr im Dorf, bevor man mit dem Hausbau begann. Auch beim Hausbau wurde die Axt nie im Holz stecken gelassen, sondern mit der Schneide ans Holz gelehnt. Denn es hieß: Der Mensch ruht sich aus, dann soll sich auch die Axt ausruhen. Ein Baum war nach Ansicht der Karelier endgültig tot, wenn er verbrannt oder in der Erde verwest war. In der sakralen Welt kommt der Baumkult in bestimmten Verboten zum Ausdruck. So durften Bäume in den heiligen Hainen der Tempel, auf Friedhöfen, den heiligen Inseln und Gräbern ausländischer Krieger nicht gefällt werden. Für heilig gehalten wurden auch Bäume an Kreuzungen oder Weggabelungen. Hier hielt man inne, bat um die glückliche Fortsetzung des Weges, warf Münzen auf das Wurzelwerk und band Bänder an die Zweige. Amulette begleiteten den karelischen Bauern von der Geburt bis zum Tod. - Besonders interessant für das seen- und fischreiche Karelien finde ich, dass vor der Trauung in der Kirche Zauberinnen um Braut und Bräutigam ein Fischernetz banden, weil ein solches Netz in Karelien nach dem Kreuz, dem Gürtel und dem Quecksilber als wirksamstes Amulett galt.

Feste/Bräuche: Dank dem Epos „Kalevala“ ist die Folklore der Karelier weit bekannt. Ihr liegen epische Lieder zugrunde – die Runen. Das karelische Epos entstand überwiegend im ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung, in ihm gibt es ganz alte, aber auch spätere Sujets. Im Epos spiegeln sich die Weltanschauung und die religiösen Vorstellungen der Vorfahren der ostsee-finnischen Völker wider. Die Runen wurden meistens von zwei Sängern zu Klängen des „Kantele“ – eines Zupfinstruments – vorgetragen. - Jährlich findet in Petrosawodsk das Winterfestival „Hyperborea“ statt. Einer antiken Sage nach hieß so das Land jenseits des Borea – des Nordwinds. Das Fest soll die Bewohner des Nordens enger zusammenschließen – besonders auf kulturellem Gebiet. Am karelischen Festival nehmen meist Künstler, Maler und Sportler aus Russland (Sibirien), Finnland, Norwegen und Schweden teil. Neben vielen Veranstaltungen können sich alle Besucher an einem Wettbewerb von Schneemännern und einem von Wetterfahnen und Windmühlen beteiligen. Höhepunkt ist immer ein Wettbewerb von Eis- und Schneeskulpturen am Ufer des Onegasees.

Religion: 1227 gingen die Karelier zum Christentum über. Anfangs verbreiteten es Missionare und Einsiedler, später Klöster. Während der Christianisierung Kareliens wurden die heidnischen Haine abgeholzt und aus den Bäumen christliche Kirchen oder Klöster errichtet. In der Mitte des 14. Jahrhunderts entstand das Murom-Kloster am Ostufer des Onegasees. Damals wurde dort (vermutlich) das älteste der auf dem Boden der Sowjetunion erhalten gebliebenen Holzbauwerke errichtet, die Kirche zur Auferweckung des Lazarus (heute Besichtigungsobjekt des Reservats für Geschichte, Baukunst und Volkskunde auf der Insel Kishi). Die Karelier in den russischen Gebieten bewahrten ihren im 13. Jahrhundert angenommenen russisch-orthodoxen Glauben. Jedoch erhielt sich bei der Bevölkerung außerdem der Glaube an Naturgeister, und es wurden Zeremonien der Krankenheilung wie magische Handlungen zur Erlangung von Jagdbeute und zur Sicherung der Ernte beibehalten. Die Karelier in den schwedischen Gebieten nahmen im 16. und 17. Jahrhundert den katholisch-christlichen Glauben an, später wurden sie Lutheraner. Seit jener Zeit siedelte ein Teil der Karelier bis Anfang des 18. Jahrhunderts wegen der religiösen, nationalen und sozialen Unterdrückung der einheimischen christlich-orthodoxen Bevölkerung durch die Schweden in den angeschlossenen Territorien in die inneren Gebiete Russlands bei Twer über. - Viele der christlichen gläubigen Karelier halten vier Fastenzeiten ein: die Osterfastenzeit, Petrusfastenzeit, Fastenzeit von Mariä Entschlafung und die Weihnachtsfastenzeit. Die Osterfastenzeit ist die strengste: kein Fleisch oder Fett, keine Eier, Milch, Butter und nichts, was aus diesen Lebensmitteln besteht, darf gegessen werden. Stattdessen pflanzliche Kost wie z.  B.  Kraut, Kartoffeln, Rettiche und Gurken. In der sogenannten Butterwoche, unserer Karwoche, sind die Gerichte im Laufe der Jahrhunderte immer phantasiereicher, so dass sich die "Butterwoche" zum fröhlichsten Fest des ganzen Jahres entwickelt hat.

Ereignisse nach dem Zerfall der Sowjetunion, sofern sie nicht bereits oben aufgeführt sind: Die Insel Kishi gehört seit 1990, die Solowezki-Inseln gehören seit 1992 zum Weltkulturerbe der UNSESCO. - In Karelien werden große Bemühungen zur Erhaltung und Entwicklung der karelischen Kultur unternommen. Der „Verband des karelischen Volkes“ leistet hierbei eine große Arbeit. In der Republik werden Bücher in den verschiedenen Dialekten der karelischen Sprache herausgegeben, ebenso Zeitungen. Es sind auch Folklore-Kollektive aktiv. Im Gebiet Twer wurde eine „Gesellschaft der Kultur der Twer-Karelier“ begründet. In Sankt Petersburg existiert eine national-kulturelle Landsmannschaft der Karelier von der Oberen Wolga, „Oma Randa“ genannt, was „Heimatland“ bedeutet. Seit 2006 steht der Kalewalski-Urwald unter permanentem Schutz als Nationalpark. Er liegt an der finnischen Grenze und ist mit einer Größe von 74 400 Hektar dreimal so groß wie der Nationalpark BayerischKlebergerrks hat große Bedeutung für den Erhalt der Artenvielfalt im Norden Europas: sowohl für große Säugetiere wie für Braunbären, Wölfe und Luchse, als auch für gefährdete Vogelarten wie Dreizehenspecht und Uhu, die auf die letzten unberührten Wälder zum Überleben angewiesen sind. - Dreihunderttausend Hektar Naturwald hat die IKEA-Tochter Swedwood in Karelien gepachtet. Seitdem geht es vielen bisher von der Holzindustrie unberührten Flächen an den Kragen. Tonnenschwere Erntemaschinen legen innerhalb von Sekunden die jahrhundertealten Bäume um. Achthundert Stück pro Tag werden täglich gerodet, entastet, gestapelt und ins Möbelwerk abtransportiert. Die fast mannshohen Reifen durchpflügen den weichen, sumpfigen Waldboden. Es wird Jahrzehnte dauern, bis er sich davon erholt. Tagtäglich holzt Ikea weitere artenreiche Urwaldstücke ab. Öde, leblose Kahlschläge machen sich überall breit. Vielleicht sollte sich IKEA mal mit dem altkarelischen Baumkult beschäftigen, um nicht ganz so seelenlos mit dem wichtigsten karelischen Naturschatz – dem Baum – umzugehen? - Von ein paar folkloristischen Einrichtungen abgesehen, gibt es bei einem Anteil von 7,1 Prozent der Karelier an der Gesamtbevölkerung kaum noch karelische Inhalte in der Politik. - Anfang September 2006 kam es in Kondopoga, bekannt durch die 1923 errichtete Papierfabrik, zu schweren ethnischen Konflikten zwischen karelischen und russischen auf der einen und aus dem Kaukasusgebiet zugewanderten Einwohnern, hauptsächlich Tschetschenen, auf der anderen Seite. Im Rahmen der Ermittlungen zu den zwei Toten und den Pogromen in Kondopoga wurden 25 Personen inhaftiert. Außerdem wurden 14 Strafverfahren eingeleitet. Mittlerweile versucht die rechtsextreme „Bewegung gegen illegale Immigration“ ähnliche Aktionen, wie sie in Kondopoga geschahen, in Petrosawodsk zu provozieren. Der Vorsitzende des Föderationsrates aus dem Oberhaus des russischen Parlaments, Sergej Mironow, gab gegenüber Medien zu, dass es Situationen wie in Kondopoga bereits in anderen Städten Russlands gegeben habe. „Sie werden einfach nicht an die Öffentlichkeit getragen.“ - Der Vodlozero-Nationalpark in Karelien ist das größte Schutzgebiet unberührten Walds und Marschlands in Europa. Seit 2001 hat der Nationalpark den Status eines UNESCO-Biosphärenreservats. Der Nationalpark wurde geschaffen, um die Nadelwälder des nördlichen Russland zu schützen. Der Park umfasst 4 280 Quadratkilometer. Zum Zeitpunkt des Entstehens war der Vodlozero-Nationalpark der zweitgrößte Nationalpark in ganz Europa. - Der Eisenerzabbau und die Forstwirtschaft wird von finnischen und schwedischen Konzernen (z.B. Ikea) bestimmt und hält kaum Arbeitsplätze für die einheimische Bevölkerung bereit. Inzwischen wird befürchtet, dass es in Petrosawodsk erneut zu Unruhen kommen könnte, diesmal aber nicht aus rassischem Anlass, sondern aus Gründen der hohen Arbeitslosigkeit - der höchsten der Nordwestregion Russlands. - 2008 erhielt der finnische Politiker Martti Ahtisaari (geboren 1937) den Friedensnobelpreis. Ahtisaari wurde in Russisch-Karelien geboren und war im zweiten Weltkrieg aus seiner von der Sowjetunion besetzten Heimat geflohen. - Der durchschnittliche Lohn betrug in Karelien im Jahr 2008 etwa 11 440 Rubel (= 255 Euro), dies ist sogar niedriger als der durchschnittliche Lohn Russlands: 15 106 Rubel (= 336 Euro). Die Arbeitslosenquote Kareliens betrug 2008 2,5% und zählte zu den höchsten der Nordwestregion Russlands. - Seit 2012 steht der karelischen Regierung Alexander Petrowitsch Khudilainen vor.

Kontakte zur Bundesrepublik Deutschland: 1987 beschloss der Tübinger Gemeinderat, eine Städtepartnerschaft mit einer Stadt in der damaligen Sowjetunion einzugehen. Die sowjetische Botschaft in Bonn vermittelte daraufhin den Kontakt zwischen den Universitätsstädten Petrosawodsk in Karelien und Tübingen in Baden-Württemberg. Im Oktober 1989 wurde die Partnerschaftsurkunde unterzeichnet. Am 28. Februar 2013 reiste eine Delegation aus Tübingen nach Petrosawodsk. Die Tübinger folgten einer Einladung zum Festival „Hyperborea“ – einem kulturellen Höhepunkt in Petrosawodsk und Teil des diesjährigen Deutschlandjahres in Russland. Das Ziel der Delegationsteilnehmer: die Städtepartnerschaft neu auszurichten. So wurden neue Kontakte zum „Barents Ecology Film Festival“ aufgebaut, das Filme als Medium nutzt, um das Thema Ökologie verstärkt in die russische Gesellschaft zu tragen. Die Delegation nahm auch Kontakt zur Schule Nr. 5 in Petrosawodsk auf, die unter anderem Kadetten für Feuerwehr und Rettungsdienst ausbildet. Hier gibt es Austauschmöglichkeiten mit der Jugendfeuerwehr in Tübingen, denn die Kombination von Jugend, Ausbildung, Sport, Feuerwehr und Rettungsdienst gibt es in Deutschland nicht. Ferner ist ein Austausch mit der Nationalbibliothek Karelien sowie der Stadtbibliothek Petrosawodsk über zeitgenössische russische und deutsche Autoren vorgesehen. Im Rahmen der Deutschen Woche veranstalteten das Tübinger Stadtmuseum und das „Vyhod Media Center“ in Petrosawodsk eine Lotte Reiniger-Ausstellung und: Der Koch Daniel Spöri vom Tübinger Restaurant „Casino“ übernahm für vier Tage die Küche des karelischen Restaurants „Begemot“, bereitete mit dem russischen Team schwäbische Spezialitäten zu und lernte die karelische Küche kennen. – Noch ist ein Rätsel, wie die letztmals 1959/60 unsachgemäß restaurierte Verklärungskirche auf der Insel Kishi als Meisterwerk der altrussischen Zimmermannskunst erhalten werden kann; denn an vielen Stellen haben sich die Blockhölzer unter dem Einfluss der Feuchtigkeit verformt, außerdem setzen Schädlinge der beeindruckenden Holzkonstruktion zu. Mit deutscher Unterstützung soll das bedrohe Gotteshaus im Inneren durch ein Holzgerüst stabilisiert werden. Von Fäulnis befallene Holzteile wollen die Fachleute durch gesundes Holz ersetzen. Sind die dringend nötigen Arbeiten abgeschlossen – befürchten Wissenschaftler – wird die Verklärungskirche weitgehend aus neuem Holz bestehen. ­ 2009 zeigte die Republik Karelien erstmalig auf der „Grünen Woche“ in Berlin seine Erzeugnisse der Nahrungsmittel- und verarbeitenden Industrie. Der Ausstellung war zu entnehmen, dass sich die Forellenzucht zur „Visitenkarte Kareliens“ entwickelt. Außerdem wurden den Besuchern der Ausstellung Gerichte der karelischen Küche angeboten und: Es trat ein karelisches Folklore-Ensemble auf. - Im Februar 2013 besuchte eine Delegation karelischer Unternehmer die Landeshauptstadt Schwerin. Die Delegationsteilnehmer vertraten die Branchen IT, Maschinenbau, Nahrungsmittelindustrie, Tourismus und Holzindustrie.

 

 

Interessant, zu wissen..., dass das Mineral Schungit nur in Karelien vorkommt.

 

Schungit bildet eine weltweit einmalige Sonderform des Kohlenstoffs, ein sogenanntes Fulleren. Kohlenstoff-Fullerene kommen sonst nur im Kosmos vor, und daher vermutet man auch für den Schungit einen kosmischen Ursprung. Russische Forscher mutmaßen, dass der Schungit der Rest des ehemaligen Planeten Phaeton ist, der einstmals anstelle des Asteroidengürtels zu unserem Sonnensystem gehört haben soll. Nach der griechischen Sage ist der Phaeton vor etwa zwei Milliarden Jahren unweit der Bernsteinküste (Ostsee) in den Onegasee gestürzt. Der karelische Onegasee gilt als der sogenannte Schungit-See. Dem „Heil“stein Schungit werden unglaublich viele Eigenschaften nachgesagt. Nimmt man Schungit in die Hand – behaupten seine Bewunderer - fühle man „einen lebendigen Stein“. Kein Wunder, denn Kohlenstoff - für die Alchemisten der "Stein der Weisen" - ist der Grundbaustein der gesamten organischen Chemie. Der „Heil“-Schungit soll gegen Leiden jeder Art helfen: ob gegen Schmerzen der Galle oder des Knies, des Rückens oder der Seele. Übrigens befindet sich der erste russische Kurort – Marizalnye Wody, 1719 gegründet von Peter I. – in der Nähe Petrosawodsks auf den Ablagerungen von Schungit und wird seit über dreihundert Jahren erfolgreich bei Krankheiten jeder Art aufgesucht. Peter I., Zar und Medizinmann aus Passion, ahnte vom Schungit sicher nichts und empfahl neben den obligatorischen Behandlungen zusätzlich einen Schluck aus den Seen KARELIENS und: Enthaltsamkeit im Essen und Trinken.

 

In der Sonne ist es schön, in der Heimat ist es besser.

Sprichwort der Karelier

 

 

Die KARELIER: Für Liebhaber kurzer Texte

 

Das Karelische ist eine ostseefinnische Sprache, die dem Finnischen nahesteht. In der westlichen Finnougristik wird sie  häufig nur als finnischer Dialekt angesehen, während viele sowjetische [russische] und finnische Sprachwissenschaftler sie als selbständige Sprache betrachten. Obwohl es keine karelische Schriftsprache gibt, besitzen die Karelier seit 1849 ein weltberühmtes Nationalepos, das „Kalevala“. Es wurde von dem Sohn eines armen finnischen Dorfschneiders, von Dr. Elias Lönnrot, in finnischer Sprache herausgegeben. Fast alle seine Aufzeichnungen stammen aus Karelien, dem heutigen Kalevala-Bezirk; seine Vorsänger waren die Karelier Archip Perttunen, Andrej Malinen, Wassili Kijelewainen. Das Epos besteht aus etwa dreiundzwanzigtausend Versen in fünfzig Runen, das sind alte karelische Volkslieder im Kalevala-Versmaß. – Die Karelier wurden 1143 in einer russischen Urkunde erstmals erwähnt. Sie lebten mit den Russen in der Stadtrepublik Nowgorod in friedlicher Siedlungsgemeinschaft und nahmen von ihnen das orthodoxe Christentum an. 1478 kamen die Karelier mit dem Großfürstentum Nowgorod unter die Herrschaft des Großfürstentums Moskau, das aber im Frieden von Stolbovo (1617) die nördlich und westlich des Ladogasees gelegenen Gebiete Kareliens an Schweden abtreten musste. Die dort ansässige orthodoxe karelische Bevölkerung wanderte daraufhin zu einem großen Teil nach Süden, in russisches Gebiet, während sich die im schwedischen Machtbereich verbliebenen Karelier zu einem großen Teil mit den benachbarten Finnen assimilierten. Im Nordischen Krieg 1700/21 gewann Russland Karelien zurück. Westkarelien gehörte später, seit 1811, zu dem innerhalb des Russischen Reiches autonomen Großfürstentum Finnland; nachdem Finnland 1917 seine Unabhängigkeit erklärt hatte, blieb Karelien bei Russland. – Als Reich der Seen, der Sümpfe, der Inseln, der Wälder und der ungestörten Vögel bezeichnen die heute etwas über einhundertdreißigtausend Karelier ihre im europäischen Nordwesten Russlands gelegene Heimat. Auch viele ihrer Sprichwörter beziehen sich auf die „Natur, mit jener besonderen karelischen Stille (Michail Prischwin), in der groß und klein auch heute noch mit den traditionellen Körbchen aus Birkenrinde auf „Beeren“jagd geht.

 

Diesen bisher unveröffentlichten Text habe ich geschrieben, als ich für das

Bibliographische Institut in Leipzig von 1986 bis 1991 ein Sprichwörterbuch von fünfzig Völkern der (ehemaligen) Sowjetunion erarbeitete,

das wegen des Zerfalls der Sowjetunion nicht mehr erschienen ist.

 

Als Journalistin der Illustrierten FREIE WELT – die als Russistin ihre Diplomarbeit über russische Sprichwörter geschrieben hat - habe ich auf allen meinen Reportagereisen in die Sowjetunion jahrzehntelang auch Sprichwörter der dort ansässigen Völker gesammelt - von den Völkern selbst,  von einschlägigen Wissenschaftlern und Ethnographen, aus Büchern ... - bei einem vierwöchigen Aufenthalt in Moskau saß ich Tag für Tag in der Leninbibliothek. So ist von mir erschienen: 

* Aus Tränen baut man keinen Turm, ein kaukasischer Spruchbeutel, Weisheiten der Adygen, Dagestaner und Osseten, Eulenspiegel Verlag Berlin in zwei Auflagen (1983 und 1985), von mir übersetzt und herausgegeben, illustriert von Wolfgang Würfel.

* Dein Freund ist dein Spiegel, ein Sprichwörter-Büchlein mit 111 Sprichwörtern der Adygen, Dagestaner Kalmyken, Karakalpaken, Karelier, Osseten, Tschuktschen und Tuwiner, von mir gesammelt und zusammengestellt, mit einer Vorbemerkung und ethnographischen Zwischentexten versehen, die Illustrationen stammen von Karl Fischer, die Gestaltung von Horst Wustrau, Herausgeber ist die Redaktion FREIE WELT, Berlin 1986.

 * Liebe auf Russisch, ein in Leder gebundenes Mini-Bändchen im Schuber mit Sprichwörtern zum Thema „Liebe“, Buchverlag Der Morgen, Berlin 1990, von mir (nach einer Interlinearübersetzung von Gertraud Ettrich) in Sprichwortform gebracht, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen, illustriert von Annette Fritzsch.

Ich bin, wie man sieht, gut damit gefahren, es mit diesem turkmenischen Sprichwort zu halten: Hast du Verstand, folge ihm; hast du keinen, gibt`s ja noch die Sprichwörter.

Hier fünfzig karelische Sprichwörter:

 

 (Bisher Unveröffentlicht)

 

Alt bleibt immer in der Furche.

Ein guter Anfang ist die halbe Arbeit.

Wie ein Äpfelchen – wenn du sie heiratest, wie eine Rosine – wenn du ihr gehörst, wie eine Eberesche – im Laufe des Lebens.

Sogar Ärzte sterben, und Zaren haben auch nur ein Leben.

Wo der Baum aufgewachsen, da fault auch sein Stubben.

Im Liegen sind keine Beeren zu sammeln, im Sitzen ist kein

Wohlstand zu erwerben.

Der erste hat die größten Beeren, der letzte – einen glatten Pfad.

Ein Bruder ist nur, wer in der Not hilft.

Einigkeit macht selbst die Erde biegsam, Hader – den Wacholder.

Einem Erwachsenen hilf, den Berg zu erklimmen, einem Kind –

die Schwelle zu überwinden.

Kein Fest, zu dem nicht auch ungeladene Gäste kommen.

In der Fremde fröstelt man sogar im Sommer.

Fremdes nimm nur soviel wie unter dem Augenlid Platz hat.

Für einen Freund sind auch zehn Werst keine Entfernung.

Ein zaghafter Frieden ist besser als ein handfester Streit.

Gäste zur Hochzeit finden sich ein – wie sich schmutzige Wäsche

zum Waschen findet.

Wie´s Gefieder, so die Lieder.

Geld hält´s nicht bei allen aus.

Wer ohne Grund zu beleidigen ist, lässt sich auch ohne Geschenk versöhnen.

Die Guten finden ihre Mädchen in der Nachbarschaft, die Schlechten – hinter dreimal neun Bergen.

Auch ein Hahn kräht nicht auf Befehl.

Hände voller Schwielen, Scheuer voller Korn.

Wer sich von einem großen Hund anbellen lässt, der muss sich auch von einem kleinen Köter ankläffen lassen.

Wer in der Jugend geschickt ist, bleibt auch im Alter behände.

Die Katze holt sich das ihre durch Ausdauer.

Trunken heiraten, im Katzenjammer leben.

Gut ist´s, bei guten Kindern alt zu werden.

Einen Kleinen lobe, dem Großen bürde die Last auf.

Eher hebt ein Kleingewachsener einen Krümel von der Erde auf, als dass ein Großer die Sterne vom Himmel holt.

Klugheit sprengt den Kopf nicht, Kraft beugt nicht die Schultern.

Nur gutes Leben hat schöne Lieder.

Wenn du leiden willst, leide, aber vergiss nicht zu essen.

Der Mensch ist zweimal unvernünftig: in der Jugend und im Alter.

Des Menschen Leben ist bunter als ein Specht.

Die Naht kann bei einem Reichen eher platzen als bei einem Armen.
Iss, was du selbst verdient hast, in der Not verlass dich aufs Dorf.
Und wenn du heute einen Ochsen verspeist, hast du morgen

doch wieder Hunger.

Klitzeklein – aber ein Pfefferkorn.

Die Reichen gehen nebeneinander her, die Armen Arm in Arm.

Erst greifst du nach einer Sache, dann packt die Sache dich.

Keiner wird als Schmied geboren.

Schulden zerstören echte Freundschaft nicht.

Wer lebt, bekommt Schwielen - entweder auf der Zunge oder an den Füßen.

Rollender Stein setzt kein Moos an.

Wer tüchtig rudert, auf den schwimmt das Ufer zu.

Am Ufer sind viele kluge Köpfe, wenn auf dem Meer ein Unglück geschieht.

Zu großen Vorrat fressen die Mäuse.

Es gebot der alte Väinämöinen*: verneige dich nicht vor dem Golde.

Wolfsaugen schielen beim Fressen schon auf das nächste Schaf.

Fühl dich wie zu Hause, doch vergiss nicht, dass du zu Gast bist.   

 

* Väinämöinen = ist die Hauptfigur des finnisch-karelischen Epos „Kalevala“ - einer der Götter (Luftgottheit), Schöpfer des Gesangs

und des karelischen Musikinstruments „Kantele“.

 

Interlinearübersetzung aus dem Russischen von Johann Warkentin; gesammelt und in Sprichwortform gebracht von Gisela Reller

 

 

Zitate: "Der Begriff Karelien ist in der historischen Rückschau sehr vieldeutig. In altisländischen Sagen ist die Rede von `Kirjalaland´, in mittelalterlichen Quellen ist mit Karelien das mit Kareliern bewohnte Gebiet auf der Landenge zwischen dem finnischen Meerbusen und dem Ladogasee sowie dem nordwestlichen Ladogakreis gemeint. Das Gebiet, seit Ende des ersten Jahrtausends eingebunden in den internationalen Handel, sah sich im 12. bis 14. Jahrhundert den territorialen Expansionen Nowgorods, Schwedens und Norwegens ausgesetzt."

Findrej Spiridonow in: Wostok-Spezial 1/2006

*

"Mitte der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts hörte die ganze Welt vom Weißmeer-Ostsee-Kanal - die Zeitungen der alten und der neuen Welt berichteten über ihn, Dutzende auch heute noch bekannte Journalisten und Schriftstelle kamen - Martin Andersen Nexö, Maxim Gorki, Alexej Tolstoi. (...) Der 227 Kilometer lange Belomorski-Baltiski-Kanal - der Weißmeer-Ostsee-Kanal - ist eines der gigantischen Bauprojekte der Sowjetzeit, die die Potenz und Leistungsfähigkeit 

des Sowjetstaates unter Beweis stellen sollten."

Konstantin Gnetnjow in: Wostok-Spezial 1/2006

*

"Das Siedlungsgebiet der Karelier erstreckte sich über finnisches wie über sowjetisches Territorium. 1939/40 und 1944 mussten die Finnischen Karelier aus Grenz-Karelien, Ladoga-Karelien und von der karelischen Landenge ihre Heimat verlassen."

Stefan Walter in: Erzwungene Wege, Flucht und Vertreibung im Europa

des 20. Jahrhunderts

*

 „Ich sah viele Seen von zinnfarbenem Wasser, atmete den Duft der Baumrinde, der ganz Karelien durchdringt, hörte eine alte Märchenerzählerin von jenseits des Onegasees, deren Lieder aus nördlicher Nacht und nördlichem Frauenschmerz geboren sind, sah unser Florenz aus Holz – Kirchen und Klöster. Die Fahrt auf dem Onegasee: Noch immer kann ich den Eindruck nicht loswerden, dass er verwünscht ist und aus jenen Zeiten stammt, da urwüchsige Stille noch von keiner Pulverexplosion gestört wurde. Keinen Augenblick verließ mich das sinnliche Spüren dieses in fließendes Nordlicht getauchten Landes.“

 Konstantin Paustowski (1892 bis 1968) in seinen "Erinnerungen", 1966

*

 Karelien ist "das Land der blauen Seen, schroffen  Felsen, wilden Flüsse und unendlichen Wälder, das in unzähligen Gedichten und Liedern beschrieben wird; ein Land, umrankt von geheimnisvollen Mythen, die bis in die graue Vorzeit zurückreichen".

Klaus Bednarz in: Das Kreuz des Nordens, 2007

 

 

Die KARELIER: Für Liebhaber kurzer Texte für Kinder

 

Bitte Koffer packen und nichts vergessen. Guckt noch einmal in alle Schränke und Schubladen. Von Moskau aus reisen wir jetzt, am besten wieder mit dem Flugzeug, fast eintausend Kilometer schnurstracks nach Norden, zur karelischen Hauptstadt Petrosawodsk, dorthin wo man im Sommer die „Hellen Nächte“ erleben kann. Da ist es um Mitternacht noch so hell, dass Ihr ohne elektrisches Licht lesen könnt – zum Beispiel all die schönen Märchen in diesem Buch [in dieser Webseite]. – Karelier und Finnen haben bis 1956 zusammen in einer Republik gelebt und alle gemeinsam finnisch gesprochen. Und so ist es bis heute geblieben, obwohl die Karelier inzwischen innerhalb Russlands eine eigene Republik bewohnen. Mündlich haben die Karelier allerdings eine eigene Sprache entwickelt, sie sprechen karelisch, man nennt diese Sprache auch ostseefinnisch. – Karelien hat riesige, undurchdringliche Wälder und viele blitzblanke, blaue Seen. Der russische Schriftsteller Michail Prischwin nannte diese blauen Seen „Die Augen der Erde“. Eine Seen-Zählung ergab die unwahrscheinlich große Zahl von 60 270 Seen. In den meisten dieser Seen tummeln sich viele Fische, unter anderem Seeforellen, Lachse, Schuiski-Renken und Zwergmaränen. Diese Fische aß der mächtige russische Zar Iwan der Schreckliche am liebsten. Deshalb mussten die karelischen Fischer diese Süßwasserfische fangen, wann immer Iwan IV. Lust verspürte, sie zu verspeisen. - Aber nicht nur Süßwasser gibt es in Karelien. Im Nordosten des Landes wird Karelien vom Weißen Meer umspült, das ein Randmeer des Atlantischen Ozeans ist. Und da ja nur Meerwasser salzig ist, muss der reiche Bauer genau hier das Wasser gesalzen haben. Wie er es fertig brachte, das 90 000 Quadratkilometer große Weiße Meer zu salzen, das erzählt euch das karelische Märchen Wie das Salz ins Weiße Meer kam. 

 

Diesen unveröffentlichten Text habe ich geschrieben, als ich nach der Wende von 1997 bis zum Jahre 2000 zusammen mit Gabriele Kleiner (die die Märchen auswählen und übersetzen sollte) und Gisela Röder (die die Zeichnungen für die Märchen anfertigen sollte) die Idee für ein Märchenbuch der Völker Russlands „Die listige Füchsin und der kleine, dicke Samowar“ (Arbeitstitel) konzipierte.

 

 

So sollte unser Märchenbuch von 70 Völkern Russlands aussehen. Bei allen Zeichnungen sollten die Märchenhelden zum Beispiel nicht mit Phantasie-Kleidung ausgestattet sein, sondern Schnitt und Stickereien sollten - wie bei unserer Füchsin - dem Original entsprechen.

Gestaltung: Horst Wustrau.

Ich zitiere aus unserem Exposé: „Allgemein bekannt ist, dass es sich sowohl beim zaristischen russischen Reich als auch bei der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) um einen ausgeprägten Vielvölkerstaat handelte. Meist unbeachtet bleibt, dass nach dem Zerfall der UdSSR die Russische Föderation – die sich von Europa bis in den Fernen Osten erstreckt – ein solcher Vielvölkerstaat geblieben ist, in dem neben den Russen etwa siebzig weitere angestammte Völker leben. Diese Völker sprechen die unterschiedlichsten Sprachen, gehören den unterschiedlichsten Religionen an, haben jeweils ihre eigenen Geschichte, ihre spezifischen Sitten und Bräuche. (…) Noch immer fehlen leicht verständliche Publikationen, aus denen man Näheres über Herkunft, Bevölkerungsanzahl, Siedlungsgebiete, Sprache, Religion… der verschiedenen Nationalitäten erfahren kann. Für Kinder gibt es keinerlei Literatur, die einen umfassenden kindgerechten Einblick in die ethnische Vielgestaltigkeit Russlands vermittelt. Auch in den Schulbüchern fehlen hierzu entsprechende Texte. Die in den letzten hundertfünfzig Jahren im deutschen Sprachraum publizierten Märchensammlungen der Völker Russlands bzw. der Sowjetunion wiederholen sich in der Auswahl, greifen immer wieder auf dieselben Quellen zurück und sind in ihrer Zusammenstellung – was die einzelnen Völkerschafts-Märchen betrifft – mehr zufällig als systematisch und nie umfassend zusammengestellt. In keiner Märchensammlung gibt es außer der namentlichen Nennung des Volkes weiterführende Hinweise zu diesen Völkern – weder geographische noch ethnographische oder historische. – Auf dieser Erkenntnis – der jahrelange Recherche u. a. in den großen staatlichen Bibliotheken Russlands vorausgegangen ist – basiert unsere Idee, ein exklusives Märchenbuch der Völker Russlands mit faktenreichen kindgerecht geschriebenen Einführungstexten zu allen Völkern der Russischen Föderation herauszugeben. (…) – Zu den Herausgeberinnen: Gisela Reller ist Russistin, Buchautorin und Fachjournalistin für alle GUS-Staaten und deren Völker. Sie hat – als Reporterin der Illustrierten FREIE WELT - seit 1964 bis in die Gegenwart weit über hundert Reisen in alle Gebiete der ehemaligen Sowjetunion unternommen und verfügt über ein sehr umfangreiches und vielseitiges Völkerschafts-Spezialarchiv. – Gabriele Kleiner – ebenfalls Reporterin der Illustrierten FREIE WELT – ist Russistin, Übersetzerin und Journalistin mit Schwerpunkt Ost- und Südosteuropa, sie hat drei Jahre lang in Moskau gelebt und kennt die GUS-Staaten darüber hinaus ebenfalls durch viele Reportagereisen. – Gisela Röder hat für eine Märchenserie in der FREIEN WELT farbige großformatige Zeichnungen beigesteuert. Sie hat nach Vorlagen (Ornamente, Trachten, typische Gebrauchsgegenstände, Schmuck…) aus dem Spezialarchiv von Gisela Reller für das jeweilige Märchen ethnographisch exakte, abwechslungsreiche und unverwechselbare Zeichnungen angefertigt. Jedem Märchen sollte ein kurzer kindgerechter Text (für 6 bis 12jährige) vorangestellt werden, in dem die Kinder mit dem Finger auf der Landkarte von Moskau aus durch die Russische Föderation reisen: durch das europäische Russland, den Nordkaukasus, Westsibirien, Südsibirien, den hohen Norden, den Fernen Osten. Ist es nicht interessant, dass bei den Mordwinen ein guter Märchenerzähler genauso viel Achtung genossen hat wie ein geschickter Jäger oder ein starker Holzfäller? Dass einer der sowjetischen Kosmonauten der Tschuwasche Andrijan Nikolajew war? Dass die Nordosseten an Gott, die Tschuktschen an Geister, die Tschetschenen an Allah, die Burjaten an Buddha glauben? Dass bei den Mari erst Märchen erzählt werden durften, wenn alle Arbeit des Tages getan war? Dass von den ganz dicht beieinander lebenden Völkern des Wolga-Kama-Gebietes drei Völker finno-ugrisch und drei Völker eine Turksprache sprechen? Dass die

tschuwaschische Braut ihrem Bräutigam ein Hochzeitstüchlein sticken musste, das im Muster ganz und gar einmalig war? (…)“ - Nachdem wir uns erfolglos mit 26 Verlagen in Verbindung gesetzt hatten, gaben wir auf!

 

 Das karelische Märchen Wie das Salz ins Weiße Meer kam:

*

Es waren einmal zwei Brüder, der eine reich, der andere arm. Zur Neujahrsfeier war das Haus des Armen leer. Keine Geschenke lagen unter der Neujahrstanne. Ja, es gab nichts, was der Arme aufzutischen hätte, womit er wenigstens an diesem Abend seiner Familie den Hunger hätte stillen können. Da ging er zu seinem reichen Bruder und bat: „Gib mir wenigstens für das Fest ein wenig Fleisch. Ich will es nicht geschenkt, nur auf Borg.“ Der reiche Bruder brachte das Bein einer Kuh und warf es dem armen Bruder vor die Füße. Sich tief verneigend, dankte dieser: „Barmherzig bist du Bruder. Du hast mir sehr geholfen.“ Dem aber tat es plötzlich leid um die Kuhstelze, und so schrie er: „Du hast ein Almosen bekommen und nun verschwinde. Scher dich meinetwegen zum Hijsi!“ Der aber war ein schreckliches Ungeheuer. Der arme Bruder lud sich die Kuhstelze auf die Schulter und machte sich auf den Heimweg. Wie er so ging, da dachte er: „Da ist nichts zu machen. Mein Bruder ist älter als ich. Ich muss ihm gehorchen. Wenn er mich also zum Hijsi geschickt hat, so muss ich auch zu ihm gehen.“ Er lief einen Waldweg entlang. Ohne Schuh und Strümpf und traf auf ein paar Holzfäller. Die fragte er: „Sagt mir doch, wie komme ich am schnellsten zum Hijsi?“ – „Guter Mann, bist du von Sinnen“, riefen die Holzfäller erschrocken, „weißt du denn nicht, dass der Hijsi ein böses Ungeheuer ist, das dich sogleich auffressen wird?“ Der Barfüßige dauerte die Holzfäller. Doch der ließ nicht locker, und so wiesen sie ihm schließlich den Weg: „Nimm dieses Birkenscheit, sein Holz ist hart wie Stein. Wenn du in das Haus des Hijsi trittst, reiche ihm nicht deine Hand zur Begrüßung, halte ihm das Birkenscheit hin. Und nimm von ihm nichts an, was der dir auch anbieten mag. Nimm nur den kleinen Mühlstein, den der Hijsi auf seinem Rücken trägt und von dem er sich niemals trennt.“ Der arme Bruder bedankte sich bei den Holzfällern und wanderte weiter. Bald kam er zum Haus des Hijsi. Er betrat es und sieht, der alte Hijsi liegt auf dem Ofen, auf seinem Rücken der Mühlstein. Der arme Bruder entbot dem Hijsi seinen Gruß. Der fletschte die Zähne, als würde er sich freuen und reichte dem Gast seine riesige Tatze. Der aber hielt ihm statt der Hand das Birkenscheit hin. Der Hijsi packte es mit soviel Kraft, dass aus dem Scheit der Birkensaft tropfte. Da gab der arme Bruder dem Ungeheuer die Kuhstelze und sagte: „Nimm, ich hab sie mir von meinem reichen Bruder geborgt, sie ist für dich!“ Das Ungeheuer freute sich und brüllte: „Alle versprechen mir irgendwelche Geschenke, aber niemand denkt daran, mir auch tatsächlich welche zu bringen. Dafür, dass du mir ein Geschenk gebracht hast, will ich dich belohnen. Sprich ohne Scheu, was du haben möchtest.“ – „Wenn du mich also belohnen willst, so überlass mir deinen Mühlstein.“ Dem Hijsi verschlug es fast die Sprache. Er stöhnte und ächzte. Schließlich jedoch sprach er: „Weil du ein gutes Herz hast, sei es, ich gebe dir den Mühlstein. Doch wisse, es hat seine Bewandtnis mit ihm. Er mahlt alles, was du ihm gebietest!“ Der Arme packte sich den Mühlstein auf den Rücken und erreichte seine Hütte gerade noch rechtzeitig zur Neujahrsfeier. Kaum hatte er den Mühlstein zu Boden gleiten lassen, da befahl er ihm: „Mühlstein, Mühlstein male meiner Familie ein Festessen.“ Sofort legte der Mühlstein los. Und bald bog sich der Tisch unter den erlesenen Speisen. Die Feiertage gingen vorüber, das neue Jahr nahm seinen Lauf. Der Mühlstein aber mahlte und mahlte. Der reiche Bruder, der aus der Ferne den wachsenden Wohlstand seines armen Bruders beobachtete, hielt es eines Tages nicht mehr aus. Er lief zu ihm und fragte, wie dies alles möglich sei. „Weißt du noch, wie du mich zum Hijsi gewünscht hast?“ fragte ihn sein Bruder, „der Zaubermühlstein ist ein Geschenk von ihm, er mahlt alles, was ich mir wünsche.“ Den reichen Bauern packte der Neid, und er verlangte von seinem armen Bruder, dass dieser ihm für zwei Tage den Mühlstein borge, als Entgelt für die geborgte Kuhstelze. „Gern“, willigte der arme Bruder ein, „ich hab ja sowieso schon genug.“ Der reiche Bruder schleppte den Mühlstein so schnell er konnte in sein Haus und befahl ihm, alle möglichen Reichtümer zu mahlen. Der legte los, mahlte und mahlte, und der reiche Bruder wurde noch reicher. Am nächsten Morgen begab er sich zum Meer, um Fische zu fangen. „Ich werde den Mühlstein mitnehmen“, beschloss er, „der wird mir soviel Salz mahlen, wie ich will. So kann ich gleich im Kahn die Fische einsalzen. Das geht schneller und schafft mehr.“ Gedacht, getan. Es verging keine Stunde, da waren alle Fische, die er gefangen hatte gesalzen. Dem Reichen aber war das noch zuwenig. Seine Habgier war unermesslich, er wollte immer noch mehr. So fing er weitere Fische und salzte sie, und es waren ihm immer noch zuwenig. Er fing so viele Fische, dass sie schließlich einen hohen Berg bildeten, und der Kahn zu schwanken begann. Der Mühlstein aber mahlte und mahlte. Und schließlich häufte sich dem Reichen das Salz bis zur Hüfte. Doch die Gier nach immer mehr hatte ihn so gepackt, dass er dem Mühlstein befahl, immer weiter zu mahlen. Da barst das Boot, fiel auseinander - und versank. Samt reichem Bruder, Salz, Fischen und Mühlstein. Der aber mahlte auf dem Meeresgrund weiter, denn es gab niemanden dort unten, der ihm hätte Einhalt gebieten können. So mahlt der Mühlstein des Hijsi das Salz bis auf den heutigen Tag, und deshalb ist das Wasser des Weißen Meeres salzig.

*

 Ausgewählt – mit dem Anspruch auf deutsche Buch-Erstveröffentlichung – und aus dem Russischen übersetzt von Gabriele Kleiner

 

Als Reporterin der Illustrierten FREIE WELT bereiste ich 1978 KARELIEN. In meinem Buch „Zwischen Weißem Meer und Baikalsee“, 207 Seiten, mit zahlreichen Fotos von Heinz Krüger und ethnographischen Zeichnungen von Karl-Heinz Döhring, 1981 im Verlag Neues Leben, Berlin, erschienen, habe ich über die Burjaten, Adygen und KARELIER geschrieben.

 

                

 

Vor-Karelisches (LESEPROBE aus: "Zwischen Weißem Meer und Baikalsee")

 „Nach dem hochsommerlichen Burjatien und dem schon herbstlichen Adygien verlangte es sowohl Kamerabesitzer als auch Notizbucheigentümerin nach einem anderen „Zeitabschnitt zwischen Aquinoktium und Solstitium“. Johann Warkentin, beauftragt, von Moskau aus meteorologische Erkundungen über den hohen Norden im allgemeinen und Karelien im besonderen einzuziehen, sandte poetische Antwort – ein Gedicht des karelischen Autors Jaakko Rugujew:

Die Jahreszeiten in Karelien // Reich ist Kareliens Sommer. / Wunderbar weich ist die Luft. / Blüten, geweckt von der Sonne, / verströmen den süßesten Duft. / Und Erdbeeren jede Menge / am Waldrand, im Wiesengrund. / Pflück Brombeeren an den Hängen - / blau sind im Nu Hand und Mund. / Silbern wallt in der Frühe / auf tauiger Heide der Dampf. / Die Sense schwing! / Für die Mühe / goldige Sonnbräune dankt. // Der Herbsthimmel ist zwar verhangen, / und freilich, zu tun gibt´s genug: / Das Korn wartet schon auf die Kammer, / das Stoppelfeld auf den Pflug. / Auch Fischnetze gilt es zu stellen… / doch hast du das alles getan, so schau in später Taghelle / die rührige Herbstzeit dir an: / So ganz ohne drückende Schwere / ihr festlicher Glanz ist und warm. / Wie köstlich blinken die Beeren / im Borkenkörbchen am Arm. // Und später – tief eingeschneit alles, / des kurzen Wintertags Grau: den Menschen aus Kalevala / sind Stürme von klein auf vertraut. / Weither aus den Waldparzellen / tönt emsiger Äxte Schlag. / Was tut´s, dass die beißende Kälte / die Wangen gerötet hat! / Dann gehen die Stämme auf Reisen, / und wir kommen richtig in Fahrt. / Es schüttelt hoch über der Schneise der Sonnenball seinen Bart. // Und erst dieser herrliche Frühling! / Wer unseren Frühling nicht schätzt, / was weiß der von menschlichem Fühlen! / Verkümmert, verdorrt ist sein Herz! / Die Sonne klopft sacht an die Scheiben, / schon klingt´s unterm Dachrand: twit-twit. / Der Schwalben geschäftiges Treiben / besänftigt ein jedes Gemüt, / und jeder fühlt plötzlich begeistert - / sei´s auch für den Augenblick nur – der Säfte ewigen Kreislauf / der uralten, jungen Natur. // 

Nachdichtung aus dem Russischen von Johann Warkentin

 

Was tun? Besonders verlockend scheint fürwahr der herrliche karelische Frühling zu sein. Nur: Karelien ist das Land der Wälder, der Seen und - der Sümpfe. Zu gut noch haben wir in Erinnerung, wie sich Burjatiens Mücken mit ihren horizontal zu einander beweglichen zangenartigen Mundhaken an unserem Journalistenblut gütlich taten. Ach was, twitt-twitt und der Schwalben geschäftiges Treiben hin, Kreislauf der uralten, jungen Natur her, wir entscheiden uns für das tief verschneite Karelien „mit seinen Stürmen, seiner beißenden Kälte und des kurzen Wintertags Grau“.

 

Warnung: Karelien ist zwischen Russland und Finnland geteilt. Der russische Teil umfasst die Republik Karelien und reicht in die Leningrader Oblast hinein, der finnische Teil teilt sich in die Landschaften Südkarelien und Nordkarelien. Es soll schon Reisende gegeben haben, die eigentlich nach Russisch-Karelien wollten, sich aber in Süd- oder Nordkarelien in Finnland wiedergefunden haben ...

 

Im Zug nach Petrosawodsk (LESEPROBE aus: "Zwischen Weißem Meer und Baikalsee") 

 

„Auf dem Leningrader Bahnhof in Moskau klettern wir in den Arktika-Express (importiert aus dem VEB Waggonbau Ammendorf). In dreiunddreißig Stunden und vierzig Minuten wird der Zug Murmansk erreicht haben, jene Stadt, die den einzigen eisfreien Hafen der sowjetischen Arktis besitzt.

In unserem Viererabteil hat sich bereits ein Enddreißiger breit gemacht. Wer nun erwartet, mich konsterniert zu sehen, weil ich mit drei Männern* meine Nachtruhe teilen soll, der irrt – liefert mir die sowjetische Eisenbahn doch endlich den Beweis für meine Behauptung, dass die Russen so prüde gar nicht sind…

Da wir Überpünktlichen bereits fast zwei Stunden in frischer Bahnhofswinterluft zugebracht haben, gieren wir geradezu nach einem Gläschen heißen Tees.

Heinz Krüger weiß nicht, wohin mit unserem vielen Gepäck, ich vor Gepäck nicht wohin mit meinen Beinen, und Johann Warkentin weiß vor Gepäck und Beinen nicht wohin mit sich selbst.

Da geht er eben Tee holen.

Mit griesgrämigem Gesicht und leeren Händen ist er sogleich wieder zur noch ungeordneten Stelle. `Heißen Tee´, so sagt er kühl, `gibt´s erst, wenn der Zug abfährt. Pünktliche Abfahrtzeit ein Uhr, also in einer halben Stunde.´

`Wozu´, frage ich giftig, `haben die Russen den Samowar erfunden, und Dostojewski hat sich darauf auch noch etwas eingebildet.´
Johann rät mir, es doch mal mit meinem `mir eigenen´ Russisch selbst zu versuchen. Unverkennbare Ausländer hätten im weiten Sowjetland meist mehr Glück als Inländer, wie schon seinerzeit Iwan Krylow in einer seiner Fabeln zu bemerken geruhte.

Literarisch darf man Johann eben nicht kommen, da schlägt er unweigerlich literarisch zurück.

Nun gehe ich, Tee zu holen.

Die Zerberussin bewacht gerade die Waggoneingangstür, ihr Schlaf- und Teekämmerlein ist ungesichert. Flugs greife ich zu Glas, Sud und Wasserhahn – da langt auch schon ein Fellfäustling nach meiner unlauteren Rechten.

Noch immer Dostojewski und Krylow im Kopf, erinnere ich mich nun Iwan Turgenjews, der da im `Adelsnest´ behauptet, dass allen Russen eine angeborene Gutmütigkeit eigen sei. Das gibt mir Mut, geduldig abzuwarten.

Erwartungsgemäß fragt die Waggonherrin dann auch schon bald, ob ich denn nicht die paar `Minütchen´ hätte warten können.

Ich schüttele den Kopf. Na, meint sie mütterlich-friedlich, dann solle ich mich mal bedienen, ich scheine ja mit einem Samowar umgehen zu können.

Ganz Heldin, kehre ich mit vier Gläsern (schließlich weiß man doch, was man einem Mitschläfer – und sei es auch ein noch so Fremder – schuldig ist!) ins Abteil zurück.

`Na´, Johann kichert, `was habe ich dir gesagt, es lebe Krylow!´

`Denkste´, sage ich, `Krylow ist tot - ich habe nämlich kein einziges Wort gesprochen.´

Kaum hat sich der `Murmansker´ in Bewegung gesetzt, ist die Schaffnerin schon mit dem Bettzeug zur Stelle und fragt auch gleich, aus welchem Land wir denn seien, warum wir wo hinwollten, na, und was man eben alles fragt, wenn man dabei ist, sich kennenzulernen.

Sie befahre diese Strecke seit drei Jahren, sei verheiratet und habe zwei Kinder, die immer von der Großmutter `abgefüttert´ würden, wenn sie selbst auf `Arktika-Tour´ gehe. Und, so sagt sie, da beim Einsteigen immer alle nicht schnell genug hineinkommen und beim Aussteigen nicht schnell genug hinaus, werde sie am besten gleich das Kilo Kosinak (Honig mit Nüssen) holen, welches ich dem Töchterchen geben solle, mit einem schönen Gruß von Anna Iwanowna, die Haare auf den Zähnen haben müsse, weil in einem Zug, der Tag und Nacht unterwegs sei, nicht nur Tee getrunken würde – und überhaupt…“ 

 

* Meine Reisebegleiter sind Heinz Krüger, Bildreporter aus Falkensee, und Johann Warkentin, landeskundlicher Betreuer, Übersetzer und Nachdichter aus Moskau.

 

Die Murmanbahn oder auch Murmanskbahn ist die nördlichste Eisenbahnstrecke der Welt und eine der ältesten Bahnlinien Russlands. Die Murmanbahn ist heute eine von der Oktoberbahn betriebene Bahnverbindung zwischen Murmansk und St. Petersburg. Ihre Länge beträgt 1 448 Kilometer. Mit der Murmanbahn fährt man quer durch Karelien, vorbei an unzähligen Seen und Wäldern mit Überquerung des Polarkreises.

 

 

Petrosawodsk – Werk Peter I. (LESEPROBE aus: "Zwischen Weißem Meer und Baikalsee")

 

„Als wir fahrplanmäßig um fünfzehn Uhr fünfzehn auf der Station Petrosawodsk aus dem Arktika-Express kletten, staunen wir, wie sehr derselbe über Nacht geschrumpft ist. Anna Iwanowna sagt lachend:

`In Leningrad haben wir doch abgekoppelt. So gut schläft es sich in Ihrem Zug auf unseren Geleisen.´

Auf dem Bahnsteig empfängt uns der Journalistenverband Kareliens in Gestalt von Gennadi Wassiljewitsch Sorokin. Um die ersten Minuten zu überbrücken, scherzen wir, dass wir es leider nicht geschafft haben, im Sommer zu kommen… Darauf Gennadi Wassiljewitsch:

`Ja, ja, der Sommer in Karelien ist kurz, im vergangenen Jahr fiel er auf einen Dienstag.´

Im Hotel `Sewernaja´ (`Nördlich´) verlangt Gennadi Wassiljewitsch sogleich zu wissen, ob wir tatsächlich auf unseren dreißig vorgemerkten Themen bestünden. Wir nicken harmlos im Terzett.

`Auf einem Besuch der Insel Kishi auch?´ Obwohl wir die Betonung, die er auf das Wort Insel legt, durchaus vernehmen, nicken wir drei wiederum arglos. Na, so meint Gennadi, dann sollten wir mal auspacken, uns ein wenig stärken und einen ausgedehnten Stadtbummel unternehmen. Denn er wisse beim besten Willen nicht, wie lange es dauern könne, bis er die Genossen des Parteikomitees dafür erwärmt habe, den Onegasee für uns aufzutauen.

Schade, so hatte in Berlin ein Berufskollege zu mir gesagt, dass Du im Winter nach Karelien fährst, da wirst Du Kishi nicht zu sehen kriegen. Kishi, so hatte dieser Jemand geschwärmt, sei für ihn eines der Weltwunder. Nachdem ich im Lexikon – vergeblich unter W wie Weltwunder, erfolgreich unter S wie Sieben Weltwunder (Allgemeinbildungstest der Lexikonredaktion?) – nachgeschlagen hatte, wusste ich wieder, dass man als Weltwunder die folgenden sieben außergewöhnlichen Bau- und Kunstwerke des Altertums bezeichnet: die Zeusstatue des Phidias in Olympia, die Hängenden Gärten in Babylon, das Mausoleum in Halikarnassos, die Ägyptischen Pyramiden, den Koloss des Helios in Rhodos, den Tempel der Artemis in Ephesos, den Leuchtturm auf der Insel Pharos vor Alexandria.

Kam es da auf ein mehr oder weniger nicht geschautes Weltwunder überhaupt noch an?

Da uns Gennadi Wassiljewitsch aber doch guter Hoffnung zurück gelassen hat, packen wir artig aus, speisen im `Bufet´ unseres `Nördlichen Hotels´ ein kaltes Ei und ein kaltes Hühnerbein und machen uns auf zur Erstbesichtigung der karelischen Hauptstadt.

Vor dem Hotel beschließen wir, da doch Petrosawodsk direkt am Westufer des Onegasees gelegen sein soll, unsere ersten Schritte zu diesem Erben der Eiszeit zu lenken. In der Liste der größten Seen der Sowjetunion steht er an sechster Stelle – mit einer Fläche von 9 900 Quadratkilometern und einer Tiefe bis zu 120 Metern. Verglichen mit Burjatiens Baikalsee, der mit 31 500 Quadratkilometern und 1 741 Meter Tiefe an dritter Stelle in der Seenrangliste steht, wahrlich ein Zwerg. Aber wir alle wissen ja schon aus `Schneewittchen´, wie rechtschaffen Zwerge sein können.

Seit Jahrhunderten wird der Onegasee für die Schifffahrt genutzt. Nowgoroder Kaufleute schafften ihre Waren über den Wolchow, den Ladogasee und den Swir in den Onegasee nach Powonez – schon im 16. Jahrhundert ein bekannter Umschlagplatz. Hier wurden die Waren auf Schlitten oder Wagen verladen und nach Belomorsk ans Weiße Meer gebracht, wo Engländer und Holländer mit ihren Schiffen und Tauschwaren warteten. Für die Beförderung ihrer Waren setzten die Kaufleute hier früher vorwiegend Zweimastersegelboote ein, obwohl der Onegasee für die Segelschifffahrt nicht ungefährlich war. Am 27. August 1832 fielen auf dem Onegasee sechzig Segelschiffe heftigen Sturmböen zum Opfer.

Aber nun zur Rechtschaffenheit des Onegasees. Er ist heute einer der wichtigsten Binnenschifffahrtsknotenpunkte der Sowjetunion. 15 Millionen Tonnen Güter passieren jährlich diesen See: Getreide, Erdöl und Kohle vom Süden nach dem Norden; Erze, Holz, Papier und Baustoffe vom Norden nach dem Süden. Hinzu kommen eine Million Fahrgäste. (…)

Passanten wiesen uns vom Hotel `Sewernaja´ aus so wortreich den Weg zum Onegasee, dass wir uns auf mindestens eine Stunde Fußweg gefasst machen. Doch schon nach fünf Schritten schlittern wir um die rechte Ecke auf das ungestreute Eisparkett des Leninprospektes – der Hauptstraße von Petrosawodsk, wie wir aus dem Namen wieder einmal goldrichtig schließen – und stehen schon nach elf Minuten am Hafen. Vor uns der Onegasee – nach dem Ladogasee der größte See des Nordens. Er präsentiert sich uns als riesige Schneefläche. Nur die unentwegten Eisangler und die Schlittschuh laufenden Kinder geben uns das Gefühl, tatsächlich an einem See zu stehen. An einem See, von dem es sowohl heißt, er sei kalt, launisch, schrecklich und düster, als auch, er sei smaragdfarben, zärtlich glänzend und blank wie ein Spiegel.

Petrosawodsk erstreckt sich zwanzig Kilometer lang an der Petrosawodsker Bucht des Onegasees. Zwei Kilometer laufen wir am Ufer entlang, vorbei an der Karelischen Filiale der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, am Forstwirtschaftlichen Institut, an Hochhäusern, großen Läden, ausgedehnten Parks und winterlich vermummten Petrosawodskern, von denen wir nur die Nasenspitzen zu sehen kriegen.

Als wir durchgefroren nach einem Nationalitätenrestaurant fahnden, wird uns das `Petrowski´ genannt. Es befände sich da, wo die Uliza Komsomolskaja in den Leninplatz mündet.

Über einer kleinen Glastür entdecken wir dann auch in schmiedeeisernen Buchstaben `Restoran Petrowski´. Wie alle Gäste werden auch wir mit einer verheißungsvollen Verbeugung empfangen, von einem Türhüter á la mode Anfang 18. Jahrhundert: grüne Eskarpins, weiße Strümpfe, schwarze Schnallenschuhe, weißes Hemd mit Spitzenjabot. Dann weist uns eine Strass besetzte Empfangsdame im langen Abendkleid unsere Plätze in dem frisch geweißten Gewölbe an. Das Mobilar hier ist wohl an die zweihundert Jahre alt. Als Wandschmuck dienen Bärenfelle, alte Flinten, nostalgische Leuchter. In den Nischen für intime Zweisamkeit Fenster mit schmiedeeisernen, ornamentierten Gittern, an den Wänden eiserne Handschellen. Auf unserem Tisch erwarten uns bereits Sakuski (kleine Vorspeisen) auf originellen Papierplatzdeckchen: auf weinrotem Untergrund Motive karelischer Goldstickerei, in der Mitte zwei gekreuzte Kanonen, in allen vier Ecken die Jahreszahl 1703.

Das Restaurant ist nach Peter I. benannt, dem Begründer der Stadt Petrosawodsk, wörtlich übersetzt: `Werk Peters´. 1703 wurde auf seinen Befehl hin an der Flussmündung der Lossossinka der Bau eines Eisen- und Kanonenwerkes begonnen, damals ein bedeutendes Industrieunternehmen. Durch den über zwanzig Jahre währenden Krieg mit Schweden hatte Russland `akuten Eisenmangel´. Karelien, reich an Eisenerz, lag in direkter Nähe des Kriegsschauplatzes. Zu Ehren seines Begründers wurde das Werk Petrowski-Werk genannt. Die Siedlung, die bei dem Werk entstand, nannte man – wiederum zu Ehren Peters – Petrowskaja Sloboda. Als Peter I. 1725 starb, verlor die Fabrik allmählich ihre Bedeutung. Im Zusammenhang mit dem Russisch-Türkischen Krieg erinnerte man sich jedoch des günstigen Standortes und gründete 1774 eine neuen Kanonenfabrik, die Alexandrowsker Kanonengießerei. Diese beiden Werke waren die größten im damaligen Russland. 1777 erhielt die Siedlung Petrowskaja Sloboda auf Erlass Katharinas II. Stadtrecht: `… ist umzubenennen in Stadt, die man Petrosawodsk heißen soll´.“(Katharina II. lief uns schon bei den Burjaten im Zusammenhang mit den Altgläubigen über den geschichtlichen Weg, bei den Adygen im Zusammenhang mit den Saporosher Kosaken.)

1784 wurde Petrosawodsk Zentrum des Olonezker Gouvernements, Gouverneur wurde der russische Odendichter Gawriil Deshawin. Wegen seiner Ode `Feliza´ vielleicht, in der Katharina II. verherrlicht wird? Dann muss der bauernschlauen Katharina aber Dershawins Kritik an der Willkür und Falschheit der Höflinge entgangen sein…

Doch zurück zu den dekorativen Papierplatzdeckchen.

Wir beschließen, lieber einen bekleckerten Tisch in Kauf zu nehmen und – hast du nicht gesehen – die Deckchen als Souvenirs im Handtäschchen verschwinden zu lassen. Hast du nicht gesehen, bringt uns der Kellner – ebenfalls in Eskarpins und Spitzenjabot wie auch die Musiker – auch schon neue, die wir bitte `nicht zweckentfremden´ möchten.

Wir essen Fisch in Eierkuchen und trinken `Petrowskaja Wodka´, die Hauptattraktion des ´Petrowski´; das ist eine eigens für dieses Restaurant hergestellte und bestens abgeschmeckte Mischung aus Wodka und Kognak, mit einer Prise Zucker. Außer Haus unverkäuflich! Und so ein idyllisches Kleinod wie dieses Nationalitätenrestaurant war noch 1973 eine Schusterwerkstatt!

Dass es heute keiner mehr ist, merken wir schließlich auch am Preis; denn jeder von uns verausgabt hier in zwei Stunden der Tagesspesen drei.

Ins `Sewernaja´ zurückgekehrt, finden wir einen Zettel von Gennadi Wassiljewtisch vor, auf dem steht: `Hole Sie morgen früh acht Uhr dreißig ab, Ziel: Kishi!´“

 

An der Uferpromenade des Onegasees steht ein Bronzestandbild Peter I. Der Gründer von Petrosawodsk weist mit seiner rechten Hand auf die Mündung des Flusses Lossossinka, wo seine Waffenfabrik steht. Das Denkmal stand zunächst auf dem Runden Platz, musst dort aber 1930 – nach der Oktoberrevolution – einem Denkmal Lenins weichen.

 

200 Meter über der Erde (LESEPROBE aus: "Zwischen Weißem Meer und Baikalsee")

 

„Gestiefelt und bepelzt erwarten wir anderntags Gennadi Wassiljewitsch. Er erscheint samt kishi-begeisterter Ehefrau pünktlich auf die Minute und strahlt. `Ich habe ein Flugzeug für Sie gechartert. Wie finden sie das?´

Wir finden das natürlich wunderbar.

Erstaunt nehmen wir nach fünfzehn Autominuten den Flugplatz zur Kenntnis: Es ist der Onegasee. Und unser `Flugzeug´ erweist sich als Doppeldecker mit Schneekufen. Die Zweimannbesatzung besteht streng darauf, dass wir unsere dünnsohligen Stiefel gegen klobige Flieger-Seehundsfelllangschäfte austauschen und unsere städtischen Lederhandschuhe gegen unförmige Seehundsfellfäustlinge.

Ich bin aufgeregt wie ein kleines Kind. Bange wird mir erst, als Gennadis Frau Olga spornstreichs kehrtmacht, kaum dass sie das `wacklige Ding´ gewahr wird. Gennadi sagt grantig: `Flugzeug ist Flugzeug. Und das hier hat sogar zwei übereinander angeordnete Tragflächen…´ Bevor ich reinklettere, frage ich nun aber doch vorsichtshalber, wie denn das Wetter so einzuschätzen sei. Die Antwort des Piloten ist beruhigend.

`Schon bei sechs Metern Seitenwind in der Sekunde und bei achtzehn Metern Frontalwind befördern wir keine Fluggäste mehr. Nur Sanitätsflüge finden dann statt; die allerdings bei Tag und Nacht – auch wenn ein ganz schönes Lüftchen weht.´

Dann erheben wir uns gen Himmel, Flughöhe: zweihundert Meter, Fluggeschwindigkeit hundertachtzig Stundenkilometer. Gennadi zeigt nach unten:

`Sehen Sie die vielen Inseln? Manche sind so klein, dass sie lediglich einigen Wasservögeln Platz bieten, andere ragen sogar nur wie Felsnadeln aus dem Eis, aber viele sind auch bewohnt, dort, sehen Sie, dort, dort, dort…´

Mein Kopf fliegt flugs von rechts nach links, von links nach rechts…

Mit dem Wetter, weiß Gennadi weiter zu berichten, sei es am Onegasee so eine Sache, weil er mit dem nördlichen Teil von Kamtschatka und mit Jakutsk auf gleicher geographischer Breite liege. Hier gibt´s Polarluft, atlantische Störungen, intensiven Sonnenschein; so windstill wie heute sei es in Karelien nur etwa elfmal im ganzen Jahr. Von Oktober bis April herrsche strenger Winter. Jetzt, Ende Februar, betrage die Eisdecke des Onegasees noch mehr als einen Meter.

Nach zweiundzwanzig Minuten erspähen wir Kishi, von märchenhaftem Weiß umgeben. Wir landen sacht und unbeschadet. In vier Stunden, so versichert man uns, werden wir wieder abgeholt.

Durch tiefen, unberührten Schnee stapfen wir querfeldein in Richtung der Türme, die schon aus der Vogelperspektive einen welt-wundervollen Eindruck auf uns gemacht haben. An einigen Stellen versinken wir bis zu den Hüften im Schnee. Die Insel scheint menschenleer, doch ist sie nicht totenstill, dafür sorgt das schrille Kreischen der Hunderte von Krähen und Möwen.

Dann kommt uns ein schwarzer Punkt entgegen, der sich erst als eine Frau und dann konkret als Museumsführerin entpuppt. In der `Kommandozentrale´ lernen wir bei einem `Glas Heißem´ die weiteren winterlichen Inselbewohner – zwei Feuerwehrleute, eine Telefonistin, einen Ordnungshüter und eine Reinigungskraft – kennen. Sechs Personen auf etwa sechs Quadratkilometern, das ist sogar für Karelien eine durchaus geringe Bevölkerungsdichte. In alten Zeiten jedoch war Kishi – mit acht kleinen Dörfern zu je fünf bis acht Gehöften – die dichtestbesiedeltste Gegend Kareliens. Im 12. Jahrhundert gehörte diese alte russische Ansiedlung zum Besitztum des `Großherrn von Nowgorod´, das eine der ältesten russischen Städte war; im 16. Jahrhundert wurde sie administratives und wirtschaftliches Zentrum des Onegagebietes mit mehr als einhundert Dörfern; seit Anfang des 17. Jahrhunderts bis zur Beendigung des Nordischen Krieges 1721 diente sie als Wehrfeste.

Kishi ist eine der eineinhalbtausend Inseln im Onegasee, ihr Name ein Echo ferner Zeiten, als die hier ansässigen Bewohner Volksfeste mit Tanz und Spiel feierten, verbunden mit kultischen Bräuchen: Kishasaari – Insel der Volksfeste.

Es waren russische Meister, die 1714 die weltberühmte Preobrashenski-(Verklärungs-)kirche (mit zweiundzwanzig Zwiebeltürmen) und 1874 den fünfunddreißig Meter hohen Glockenturm (mit kegelförmiger Kuppel) im altrussischen Stil aus Holz fügten. Nur von dem Glockenturm ist der Name des Künstlers überliefert. Es ist Sysoi Ossipow Petruchin - ein Bauer.

Die ausschließlich mit der Axt auf Zapf und Nut, ohne einen einzigen Nagel gefügte Christi-Verklärungs-Kirche wird nur legendär einem Meister Nestor zugeschrieben. Nach Beendigung des Baus soll er seine Axt in den Onegasee geworfen haben – mit dem Ausruf: `Eine solche gab es nicht und wird es nie wieder geben!´ Wie eine Fortsetzung der schöpferischen Traditionen der Meister der Vergangenheit mutet die riesige Arbeit des Restaurators und Zimmermanns Michail Kusmitsch Myschew an, der in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit wenigen Gesellen vierhundertachtzigtausend Schindeln aus Espenholz mit der Axt hackte – für die neue Bedachung der einunddreißig Kuppeln. Ein Teil der karelischen Zimmerleute nennt sich `Hackmeister´, da sie das Holz nicht sägen , sondern hacken, wodurch sich die Poren schließen und das Holz länger `lebt´ .

Kishi wird (im Sommer) nicht nur von ganzen Touristenscharen heimgesucht, sondern auch von zahlreichen Wissenschaftlern. Jahrelang forschte eine Gruppe von Experten der Staatlichen Kuusinen-Universität von Petrosawodsk nach den unbekannten Schöpfern der Preobrashenski-(Verklärungs-)kirche. Der Leiter, Professor Orfinski, Spezialist der Holzbaukunst des Nordens, schreibt sie nun endgültig den russischen Architekten Newserow und Bunjak zu. Endgültig ist dennoch nichts, denn andere Wissenschaftler haben herausgefunden, dass die beiden Architekten zur Zeit des Baus älter als achtzig Jahre waren. Sie bezweifeln, dass Newserow und Bunjak noch die Schöpferkraft für ein so kompliziertes Bauwerk besaßen. Doch Professor Orfinski meint unbeirrt:

`Dann ist Kishi eben der `Schwanengesang dieser beiden genialen Altmeister´`.

`Hier im Norden´, sagt unsere Fachfrau mit leiser, unaufdringlicher Stimme, `war es Brauch, eine Sommerkirche und eine Winterkirche zu bauen, und ein Glockenturm rief die Gläubigen zum Gebet.´

Dazumal waren die Bewohner von einhundertdreißig Dörfern auf die Kirchen Kishis angewiesen. Die Preobrashenskikirche  - mit dem obersten Kreuz siebenunddreißig Meter hoch – hat an ihren vier Fassaden stufenförmig übereinander ragende Kuppeln, die gleich schön anzusehen sind, von welcher Seite man sich ihr auch immer nähert. An der Westseite wurde ein Aufgang mit einer weit ausladenden Freitreppe angebaut. 

 

Die weltberühmte Preobrashenskikirche mit zweiundzwanzig Zwiebeltürmen und die Pokrowskikirche

 mit neun Türmchen.

Foto: Heinz Krüger

 

Dieweil sich Gennadi mit der Begründung: `Ich war schon zweitausendzweihundertzwanzigmal da drin´ anschickt, einen ungeweihten Schneemann neben das heilige Holzensemble zu setzen, übertreten wir ehrführig die Schwelle. Die besonders hohe Schwelle, wird uns erläutert, sei des vielen Schnees wegen typisch für die nördliche Bauweise. Nach Überschreiten dieser `nördlichen Schwelle´ stehen wir in einem schlichten, kleinen, aus Balken gefügten Raum, dem `Verköstigungszimmer´. Viele Gläubige kamen von weit her, durchgefroren im Winter, hungrig zu jeder Jahreszeit. Hier versammelten sich die Bauern auch zur Beratung – dem Wetsche – wie man die Volksversammlung in der Kiewer Rus und im mittelalterlichen Russland nannte. Das Wetsche hatte in der Zeit der feudalen Zersplitterung des altrussischen Staates große Bedeutung. Nach der Angliederung der Städte Nowgorod und Pskow an den Moskauer Staat wurde diese demokratische Tradition überall beseitigt.

Vom `Verköstigungszimmer´ aus gelangen wir in den Innenraum der Kirche. Sosehr uns das wundervolle Äußere nahezu sprachlos macht, sosehr überrascht uns nun die schon beinahe ärmliche Strenge des Innenraumes: sehr kleine Fenster, sehr niedrige Türen, graublau verfärbte Balken.

`Raue Stürme und strenge Fröste zwangen den Norden zu dieser Bauart´, erklärt uns die Museumsführerin, `man wollte der Kälte und dem Schnee so wenig wie möglich Einlass gewähren. Schauen Sie sich die Ikonen an. Die einmalig schönen Ikonen. Holzwände verlangen keine Fresken, Holzdielen keine Mosaike.´

Die Ikonen altkarelischer Maler weisen ganz bestimmte Merkmale auf. Während die Moskauer Meister oft ausländische Pigmente verwendeten, arbeiteten die Künstler des Nordens ausschließlich mit den an Ort und Stelle gefundenen Farben. Daher sind die karelischen Ikonen des  17. und 18. Jahrhunderts durch die Verwendung unauffälliger dunkler Farben gekennzeichnet.

Grelle Töne wie heller Zinnober oder leuchtendes Bergblau sind fast nie anzutreffen. Die karelischen Meister bevorzugten in ihren Werken ruhig wirkenden Ocker, eine dunkel schattierte Farbe, Dunkelblau und Russschwarz.

Nicht losreißen kann ich mich von der Ikone `Verklärung Christi´ (neunundvierzig mal einundvierzig Zentimeter groß) aus dem 17. Jahrhundert. Diese Ikone ist ein klassisches Werk der altkarelischen Malerei. Der Künstler aus Kishi hat diese Geschichte des Evangeliums überaus schlicht illustriert. Alles hier ist symbolhaft, jedes Detail genau abgewogen und wichtig. Es ist durchaus anzunehmen, dass der Künstler Beispiele von Heiligenbildern – als Ikone oder Miniatur der hauptstädtischen Werkstätten – kannte. Aber es ist bezeichnend, dass er diese Arbeiten nicht kopierte.

`Nur ein Künstler des Nordens´, so unsere Museumsführerin, `vermochte es, ohne jegliche Hast geruhsam und bedächtig bei diesen Ereignis zu verweilen. Während in vielen bekannten Ikonen die `Verklärung´ von leidenschaftlicher Dynamik und Energie erfüllt ist, liegt die Anziehungskraft dieser Ikone aus Kishi in der Beschaulichkeit, der Ruhe und der fast jenseitigen Stille.´

Noch vor verhältnismäßig kurzer Zeit herrschte in der Geschichtswissenschaft die Auffassung, dass Kareliens Malerei nur wenig älter als ein Jahrhundert, dass die bildenden Künste in diesem Gebiet bis ins 18. Jahrhundert ausschließlich Nachahmungscharakter getragen hätten und dementsprechend – eben als unterentwickelter Zweig der Volkskunst - keine Beachtung verdienten. Karelien galt als Terra incognita, und auf der Karte der altrussischen Malerei war altkarelische Malerei nicht verzeichnet.

 

Als christliches Bauwerk hat das Kirchenensemble von Kishi, die "Perle Kareliens", einen ähnlichen Rang wie die Hagia Sophia in Konstantinopel, die Basilius-Kathedrale auf dem Roten Platz in Moskau und Notre-Dame in Paris.

 

Wissenschaftliche Forschungen des Museums für Bildende Künste zu Petrosawodsk und der Mitarbeiter auf der seit 1960 unter Denkmalschutz stehenden Insel Kishi, die mit Moskauer und Leningrader Spezialisten zusammenarbeiten, geben zum ersten Male wohlbegründete Kunde von der Existenz selbständiger Malerwerkstätten im alten Karelien des 15. Jahrhunderts. Die Helden der Bibel und des Evangeliums werden in der Vorstellung der nördlichen Maler zu breitschultrigen, stämmigen Bezwingern des Seengebietes. Aus einigen Gesichtern der Ikonenporträts ist deutlich das Bestreben des Künstlers herauszulesen, die Eigenart des ethnographischen Typs der karelischen Bevölkerungsgruppen wiederzugeben.

In der Preobrashenskikirche sind die Ikonen zu einem Ikonostas zusammengestellt. Als Ikonostas bezeichnet man in der russisch-orthodoxen Kirche eine mit Ikonen geschmückte Wand, die den Altarraum von dem Raum trennt, in dem sich die Gläubigen zum Gebet versammeln. Seit den großen Tagen der Stadtrepublik Nowgorod gehören die Karelier zum russischen Kulturkreis und teilweise auch heute noch zur russisch-orthodoxen Kirche.

Das Farbenspiel dieser Ikonenreihe, hervorgezaubert durch funkelnde Edelsteine und stellenweise Vergoldung, ist so wunderschön, dass man sich erst abzuwenden vermag, wenn die eisige Kälte durch die Pelzjacke kriecht.

Kishi – acht Kilometer lang, maximal einen Kilometer breit – beherbergt außer den beiden Kirchen und dem Glockenturm noch die Lasarewkirche aus dem 14. Jahrhundert, eine Windmühle mit acht Flügeln, eine Hütte ohne Rauchfang, Kapellen, alte Speicher, Getreidedarren, Bauernhäuser mit schönen Schnitzereien und Veranden.

`Ein Haus ohne Veranda ist wie ein Mann ohne Bart´, lautet ein altkarelisches Sprichwort.

Möge, wer sich von erhabener Schönheit gefangen nehmen lassen will, nach Petrosawodsk reisen. Im Sommer kann er die sechzig Kilometer entfernte Museumsinsel entweder in schneller Fahrt mit dem Tragflügelschiff `Meteor´ in einer Stunde und fünfzehn Minuten zurücklegen oder Kishi mit dem Dampfer `Ladoga´ in gemütlichen dreieinhalb Stunden erreichen. Allerdings wird er sich das Freilandmuseum mit zweitausendfünfhundert Touristen (täglich!) teilen müssen.“

 

Leider haben wir auf unserer Reise das Kloster Valaam aus Zeitgründen nicht besucht. Sollten Sie nach Karelien reisen, machen Sie unbedingt einen Abstecher zur Insel Valaam im Ladogasee. Es ist ein beeindruckender kulturhistorischer Komplex mit orthodoxem Kloster. Die Geschichte des Klosters ist weitgehend unbekannt und von Legenden umrankt. Die Wissenschaftler glauben, dass es von zwei griechischen Mönchen gegründet wurde, die mit den ersten christlichen Missionaren nach Russland gekommen waren. Laut einer alten Klosterlegende lebten auf der Insel Valaam heidnische Stämme, die den Gott Vaal verehrten. Auf seiner Reise durch slawische und skythische Gebiete durchquerte der Apostel Andreas den Norden Russlands und besuchte die Insel Valaam. Er bekehrte die Heiden und prophezeite Valaam eine wichtige Rolle in der Geschichte des russischen Christentums. Zur Zarenzeit galt ein Besuch auf Valaam als Ersatz für die beschwerliche Pilgerreise nach Jerusalem.

 

Straßenbekanntschaft (LESEPROBE aus: "Zwischen Weißem Meer und Baikalsee")

 

„Begibt man sich vom `Sewernaja´ aus nach links, betritt man einen runden Platz. Auch fast alle Gebäude des ehemaligen `Rondells´ lagen wie siebzig Prozent von Petrosawodsk 1945 in Trümmern. In spätklassizistischem Stil wurden sie nach dem Krieg wieder aufgebaut. Heute erstrahlen die Fassaden in hellem Gelb, die Säulen in schlichtem Weiß. Hier präsentiert sich originalgetreu ein Stückchen altrussischer Gouvernementstadt, ein Anblick, der sich einem in Städten wie Jaroslawl und Kalinin (dem einstigen Twer) heute ebenfalls noch bietet.

In einem dieser restaurierten Häuser lebte von 1784 bis 1785 Gawrila Dershawin. Zwei eherne Löwen hüten das Portal seines ehemaligen Wohnsitzes. Das grimmige Aussehen dieser beiden Großkatzen mildert der Neuschnee, der ihre feurigen Augen verdeckt und die Halsmähnen bepudert hat.

In den Anblick dieser Zähne fletschenden Dershawin-Beschützer vertieft, geht mir alles mögliche durch den Kopf, auch dies: 1815 trug Alexander Puschkin, Lyzeumszögling in Zarskoje Selo (Zarendorf), während eines Examens seine Ode `Erinnerung an Zarskoje Selo´ vor. Dershwin, zweiundsiebzig Jahre alt, war als Ehrengast geladen. Von dem fünfzehnjährigen Puschkin war er so begeistert, dass er ihn spontan in die Arme schließen wollte. Doch Puschkin – aller Augen waren auf ihn gerichtet – lief schüchtern davon und versteckte sich, bis der von ihm so bewunderte Dichter abgereist war. Kurz vor seinem Tode (1816) sagte Dershawin voraus:

`Bald wird sich der Welt ein neuer Dershawin zeigen: Puschkin, der schon im Lyzeum alle Schriftsteller übertroffen hat.´

Das Lyzeum in Zarskoje Selo (dem heutigen Puschkin) war im Seitenflügel der Sommerresidenz untergebracht, die eine uns schon allzu bekannte Dame hatte erbauen lassen: Katharina II.

Soweit, so gut. Puschkin bewahrt aber auch schlechte Erinnerung an sie. Sie nämlich war es, die Puschkins Großvater, den Gardemajor Lew Puschkin, zum Staatsverbrecher deklarierte und zu Festungshaft verurteilte. Des Gardemajors Verbrechen hatte darin bestanden, ihr im Weg gestanden zu haben. Katharina Alexejewna (ehemalige Prinzessin von Anhalt-Zerbst) besaß ein kluges Köpfchen und verachtete das politische Unvermögen ihres Gatten, Peter III., dem sie den `Horizont eines preußischen Feldwebels´ nachsagte. Und so konnte sie es sich nicht versagen, ihren Gatten nach nur sechsmonatiger Regentenzeit in der Blüte seiner vierunddreißig Jahre zu ermorden. In einer von ihr angezettelten Palastrevolte wurde Peter III. 1762 umgebracht. Ihren minderjährigen Sohn als rechtmäßigen Thronfolger ignorierend, griff sie am 20. Juni 1762 unter dem Namen Katharina II. zum Herrscherstab.

Alexander Puschkin hatte auch einen namhaften Urgroßvater mütterlicherseits – Abram Hannibal, einen äthiopischen Fürstensohn. Um 1690 geboren, geriet er als Kind in türkische Gefangenschaft und kam durch Vermittlung des russischen Botschafters von Konstantinopel 1707 nach Russland. Kein anderer als der Begründer von Petrosawodsk beförderte das ehemalige Waisenkind zum General. Puschkin, der seinem verwegenen Großvater mindestens seine brünette Haut und die vielgeliebten Locken zu verdanken hatte, setzt ihm in den Romanfragment `Der Mohr Peter des Großen´ ein literarisches Denkmal.

Leider las ich erst, als wir wieder zu Hause waren, in einer Ausgabe des `Sputnik´, das es unter den dreihundertsechs Nachkommen Puschkins Angehörige von zwanzig Nationalitäten gibt; eine Urururenkelin lebt als Lehrerin in Petrosawodsk.

Jenseits der so geschichtsträchtigen architektonischen Idylle hat die Neuzeit das Wort, erkennbar schon an den breiten Straßen und Promenaden – Lenin, Marx, Engels, Dzierżyński, Kuusinen, Kirow, Kalinin, Gagarin… Ein gewichtiges Lenindenkmal steht an der Stelle, wo einst das anmutige Denkmal Peters I. prangte. (Dies ist jetzt nahe dem Historisch-Landeskundlichen Museum zu betrachten.) In der linken eine Schapka, beugt sich Leninin über einen aus sechzehn einzelnen Granitplatten gefügten Block wie über ein Rednerpult. Dieses Lenindenkmal ist nicht nur das schwerste der gesamten Sowjetunion, sondern vor allem auch eines der schlichtesten in Ausdruck und Gestik.

In Petrosawodsk sehe ich auch das erste (oder sogar einzige?) Denkmal, das Marx und Engels vereint zeigt, entspannt auf einer Bank sitzend, in vertraulicher Unterhaltung: zwei gute Freunde, in der Arbeit und im Privatleben aufs engste verbunden.

Petrosawodsk hat 225 000 Einwohner, ist Verwaltungs-, Industrie- ´, Wissenschafts- und Kulturzentrum der Karelischen Autonomen Republik. Es gibt hier mehr als fünfzig Betriebe für Maschinenbau und Metallverarbeitung, Sägewerke und Holzverarbeitungsindustrie; die Erzeugnisse von Petrosawodsk werden in vierundvierzig Länder der Welt exportiert.

Sechzigtausend Menschen lernen und studieren jährlich an neun Fakultäten der Staatlichen Kuusinen-Universität, an der Pädagogischen Hochschule, an der Filiale des Leningrader Konservatoriums, an den dreizehn Ingenieurschulen, an zehn Fachschulen und an siebenundvierzig Mittelschulen. Umgerechnet auf die Bevölkerung, hat Karelien mehr Studenten als die Bundesrepublik Deutschland und Schweden zusammen.

Zwischen den vielstöckigen Wohnblocks des neuen Petrosawodsk – geplant ist ein Hotel mit dreizehn und eines mit zwanzig Etagen – sieht man an mehreren Stellen des Zentrums noch die schmucken nordischen Holzhäuser, wie sie ähnlich auch in skandinavischen Kleinstädten anzutreffen sein sollen. In Petrosawodsk stehen sie unter Denkmalschutz.

Für die Neubauwohnungen, so hatte die Hamburger Zeitung `Die Welt´ geschrieben, seien in Petrosawodsk `kräftige Mieten´ zu zahlen. Wir fragen die erstbesten Fußgänger, ob sie eine Neubauwohnung haben. Es klappt schon beim zweiten Versuch. Ein Ehepaar nickt. Nachdem wir uns als Journalisten aus der DDR ausgewiesen haben, sagt er:

`Ich bin der Nationalität nach Belorusse, meine Frau Finnin. Wir haben zwei Kinder, die Tochter ist fünf Jahre alt, der Sohn zehn.´

Als wir fragen, was sie denn nach Karelien verschlagen habe, ein Blick von ihm zu ihr, von ihr zu ihm, dann er:

`Wir wohnen nicht weit von hier, kommen Sie mit, wir erzählen Ihnen dort im Warmen, was Sie wissen wollen.´

Wir zögern.

Er: `Es gibt Moosbeerenlikör.´

Nun denn…

Zu Hause – ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, ein Kinderzimmer, Küche, Bad und Korridor – legt sie eine mit finnischen Ornamenten bestickte Leinendecke auf den Tisch und bindet sich eine gleichermaßen bestickte Schürze um – um auf den Tisch nicht nur Moosbeerenlikör zu stellen. Sie sagt, als sie unsere betretenen Gesichter sieht: `Woran wir reich sind, davon bieten wir gern an.´ Und lächelnd fügt die Finnin hinzu: `Das ist ein karelisches Sprichwort.´ Er weist auf die geschmackvollen Möbel ringsum. `Fast alle selbst gebaut. An Holz mangelt es ja bei uns nicht.´

Dieweil die Hausfrau in der Küche hantiert, Töchterchen Soja vertrauensselig auf meinen Schoß gekrochen ist, Sohn Serjosha sich von Heinz Krüger alle Details des Fotoapparates erklären lässt, findet der Hausherr in Johann Warkentin und mir aufmerksame Zuhörer.

`Die Belorussen´, sagt er, `haben sich außerhalb der Grenzen ihrer Republik in geschlossenen Gruppen in der Karelischen ASSR, im Gebiet Kaliningrad sowie in einigen Gegenden Sibiriens angesiedelt. Ich bin in der Nähe von Minsk in einem kleinen Dorf aufgewachsen. Sie wissen ja sicherlich, wie übel der Krieg gerade den Belorussen mitgespielt hat. Zusammen mit dreizehn anderen Jungen aus unserer Gegend beschloss ich einige Jahre nach Kriegsende, ins Onega-Traktorenwerk nach Petrosawodsk zu gehen. Uns reizte wohl auch der `Nordzuschlag´ von fünfzehn Prozent. Ich habe zehn Jahre in diesem Werk als Fräser gearbeitet, wurde dann zum Abendstudium delegiert. Danach arbeitete ich als Lehrer an einer Berufsschule, seit fünf Jahren bin ich dort Stellvertretender Direktor. Meine Frau lernte ich hier in unserm Klubhaus kennen. Zum Neujahrsball. Ich war dort als freiwilliger Milizhelfer. Tanzen musste sie deshalb jene Nacht mit anderen Verehrern, aber ich führte sie für immer nach Hause.´

Inzwischen hat sich die Hausfrau zu uns gesetzt. `Meine Familie wohnt – wie viele Finnen – in Leningrad´, erzählt sie. `Kurz vor der Blockade wurden wir nach Sibirien evakuiert. 1949 siedelten wir nach Petrosawodsk um, weil wir hier Verwandte ausfindig gemacht hatten. Alle Angehörigen, die während der Blockade in Leningrad geblieben waren, sind umgekommen. Vater ist in Sibirien gestorben. Ich bin Verkäuferin. Als Deputierte des Stadtsowjets bin ich verantwortlich für die Bewilligung oder Ablehnung von Krippen und Kindergartenplätzen.´

Wie viel verdienen Sie?

Sie: 163,90 Rubel.

Er: 280 Rubel – ohne Prämien.

Wie viel Miete zahlen Sie?

Sie: 14 Rubel.

Haben Sie ein Auto?

Er: Nein. Damit hat man zuviel Sorgen.

Haben Sie eine Datsche?

Er: Wozu? Vom Kinderzimmer aus schauen wir direkt auf den Onegasee.

Sie: Ich wünsche mir trotzdem eine.

Was haben Sie im Urlaub vor?

Er: Wir fahren nach Belorussland.

Welche Sprache sprechen Sie zu Hause?

Er: Russisch.

Welche Nationalität sollen Ihre Kinder einmal annehmen?

Er: Das sollen sie – wie es das Gesetz bestimmt – mit sechzehn Jahren selbst entscheiden.

Welche Nationalität wünschen Sie sich für Ihre Kinder?

Er: Die belorussische.

Und was sagen Sie dazu?

Sie: Wenn die Kinder es selbst wünschen – ich wäre einverstanden.

Heinz Krüger solle nur nicht glauben, dass nur er fotografieren könne, scherzt der Hausherr, und schon liegen bergeweise Fotoalben vor uns. Eine Stunde lang tummeln sich ihre und seine Geschwister, ihre und seine Eltern, ihre und seine Großeltern, Freunde, Bekannten, Kollegen, Mitschüler… auf der Tischdecke. Zu sagen ist, dass die Ahnen unserer Gastgeber nicht gerade vom Glück begünstigt waren. Unsere Straßenbekannten jedoch gehören zu denen, die nicht umsonst auf der Suche nach Glück waren. Sie fanden es zwar nicht wie der legendäre Sänger Sadko aus Nowgorod in ihrem ursprünglichen Heimatort, wohl aber auf einem anderen reizvollen Fleckchen der Sowjetunion.“

 

Die Städtepartnerschaft zwischen Petrosawodsk und Neubrandenburg besteht seit 1983 intensiv bis auf den heutigen Tag. 1996 zum Beispiel spielte der „Philharmonische Chor Neubrandenburg e.V.“, Mitglied im Verband Deutscher Konzertchöre, die Aufnahme von J. W. Hertels "Die Geburt Jesu Christi“ ein. Seitdem ist das gemeinsame Musizieren mit Chören auch aus Petrosawodsk ein musikalischer Höhepunkt. - 1987 beschloss die Universitätsstadt Tübingen eine Partnerschaft mit einer ehemaligen Stadt der Sowjetunion. Die Sowjetische Botschaft in Bonn vermittelte den Kontakt zu der Universitätsstadt Petrosawodsk in Karelien; 1989 wurde der Partnerschaftsvertrag unterschrieben.

 

Junge Alte in Kindassowo (LESEPROBE aus: "Zwischen Weißem Meer und Baikalsee")

An der Wand, neben dem heutigen Kalenderblatt, dem Transistorenradiogerät und dem Fernseher – die Ikone. Sie hängt dem Eingang genau gegenüber, ist erster Blickfang.

Bildschmuck oder Heiligtum? `Beides´, behauptet Viola Malmi. `Zumindest hier im Dorf. Zumindest bei den Alten.´

Vom Essen ist zu sagen, dass es sich unserer Meinung nach ohne Kalitka durchaus leben ließe. Kalekukko aber ist etwas ganz Feines. Der eingebackene Fisch heißt russisch Nalim und ist ein Seefisch. Nalim an Ort und stelle ins Deutsche zu übertragen gelingt uns nicht. Zu Hause entnehme ich meinem Wörterbuch, dass im Deutschen Nalim einem zusammengesetzten Substantiv mit einem appetitanregenden und einen appetitabstoßenden Teil en

„Obgleich es in Karelien zwölf Städte gibt und vierzig Siedlungen städtischen Typs, passieren wir auf unserer fast einhundert Kilometer langen Fahrt nach Kindassowo nur kleine Dörfer. Holzhäuser, meist grob aus Balken gefügt, von Staketenzäunen umgeben. Augenfällig die kunstvoll geschichteten Holzberge, die vielen Vogelhäuschen, die finnischen Dampfbadehäuser und die unzähligen eingescheiten Ruderboote – winterliche Hinweise auf die über 60 000 karelischen Seen.

Ein altkarelisches Rätsel fragt: Was ist das? Sechs haben wir, sechs habt ihr, sechs hat jeder im Dorf. Die Antwort: Fenster. Für die früheren karelischen Hütten waren sechs Fenster typisch – je zwei an drei Wänden, an der vierten Wand befand sich die Tür. Heute ist die Vielzahl der nördlichen kleinen Fenster rings ums Haus noch immer üblich. An einem kleinen Giebelhäuschen zähle ich insgesamt fünfzehn, keines breiter als vierzig, keines höher als fünfzig Zentimeter.

Kindassowo unterscheidet sich von den Dörfern, die wir unterwegs beguckten, dadurch, dass es die winzigste Ansiedlung ist. Wie ausgestorben liegt das Dörfchen da, kein einziges Lebewesen zeigt sich.

Wir halten vor einem etwas größeren Blockhaus. Viola Malmi, eine Ethnographin aus Petrosawodsk, verbürgt sich dafür, dass es aus dem 18. Jahrhundert stammt. Wir erwarten deshalb in eine Art Museum geführt zu werden. In einem großen Vorraum voller Gerätschaften – Schippen, Spaten, Sägen, Leitern, Fässer… - bittet man uns, die Mäntel abzulegen. Eine Tür öffnet sich. Nur noch an weiß, grau und an ein wenig unverschneites Grün gewöhnt, blinzeln wir ob der Farbenpracht, die sich da unsren Augen bietet: ein Halbkreis buntgeblümter Frauen mit Brot und Salz und einer altkarelischen Begrüßungsweise.

Man schließt uns stürmisch in die Arme und dirigiert uns an eine lange Tafel. Wir Gäste werden fein säuberlich unter die Gastgeber verteilt. Die Gastgeber: vierzehn Personen weiblichen Geschlechts, Durchschnittsalter siebzig Jahre. Es ist der Tanzchor von Kindassowo, berühmt im ganzen Land und darüber hinaus. Kürzlich belegte er in Leningrad bei einem Folkloreausscheid den ersten Platz. `Sang, stampfte, hüpfte, schwebte´, so Viola Malmi, `dass meinen jungen Leuten Sehen und Hören verging.´ (Worüber wir nicht schlecht staunen, denn wir hatten tags zuvor im Finnischen Theater von Petrosawodsk Gelegenheit, Viola Malmis Jugendtanzgruppe zu bewundern. In farbenprächtigen Kostümen zeigten die jungen Leute zwei Stunden lang schwierigste Schrittkombinationen: Tänze aus Nordkarelien.)

Was der Tanzchor aus Kindassowo vermag, würden uns die Tänzerinnen schon noch beweisen, aber erst einmal müssten wir trinken und essen. (Man beachte die Reihenfolge der Verben!) Alles auf dem Tisch sei karelisch, sagt man uns, man lasse sich da von keiner Mode ablenken. Alles – das ist: Kalitka, eine Art Kartoffelkuchen, Mitokalakeito, Fisch in Milch gedünstet, Kalekukko, Fischkuchen, weiter Gerstengrütze, selbstgebackenes Weizen- und Roggenbrot, Moosbeerensaft, Moosbeerenlikör. Auf die Flaschen russischen Wodkas weisend, behauptet die dreiundsiebzigjährige Solotänzerin kühn, dass er seit Jahrhunderten `einkarelisiert´ sei.

Vor dem ersten Bissen müssen wir uns einhundert Gramm Wodka einverleiben. Die betagten Damen tun unbekümmert desgleichen. Dann werden wir aufgefordert, uns das Essen munden zu lassen – mit den Fingern, versteht sich.

Während des Festmahls lasse ich meine Augen durch den Raum wandern. Holzbänke an allen vier Seitenwänden, ringsherum kleine Fenster, ein großer eiserner Kochherd in der Mitte des etwa vierzig Quadratmeter großen Zimmers. Viola Malmi flüstert mir zu, dass wir hier in einem typisch karelischen Haus seien, dessen wichtigster Raum eben eine solche `gute Stube´ sei, in der sich alle Familienmitglieder zu den Mahlzeiten versammeln und zum geselligen Beisammensein. Das Mobilar – Tische, Stühle, Schränke, Kommoden – sei neuzeitlich. Aber ob Deckchen oder Tischläufer, ob Gardinen oder Vorhänge, ob Handtücher oder Untersetzer, alles ist traditionell rot auf weißen Grund bestickt.

An der Wand, neben dem heutigen Kalenderblatt, dem Transistorradiogerät und dem Fernseher - die Ikone. Sie hängt dem Eingang genau gegenüber, ist erster Blickfang.

Bildschmuck oder Heiligtum? `Beides´, behauptet Viola Malmi. `Zumindest hier im Dorf. Zumindest bei den Alten´

Vom Essen ist zu sagen, dass es sich unserer Meinung nach ohne Kalitka durchaus lieben ließe. Kalekukko aber ist etwas ganz Feines. Der eingebackene Fisch heißt russisch Nalim und ist ein Seefisch. Nalim an Ort und Stelle ins Deutsche zu übertragen gelingt uns nicht. Zu hause entnehme ich meinem Wörterbuch, dass im Deutschen Nalim einem zusammengesetzten Substantiv mit einem appetitanregenden und einem appetitabstoßenden teil entspricht: Aalraupe oder Aalquappe. Mein Lexikon bescheinigt mir zusätzlich mittelalterlichen guten Geschmack; denn zu jenen fernen Zeiten wurde die Lota vulgaris ihres weißen, zarten Fleisches wegen sogar der Forelle vorgezogen.

Als unsere Gastgeberinnen merken, wie uns ihr Kalekukko mundet, gestehen sie, dass sie bereits heute Morgen um fünf Uhr den Teig angerührt haben. Kalekukko sei nämlich ein Nationalgericht, für das man etwa sechs Stunden Herstellungszeit benötige. Und falls wir das Rezept haben wollten, hier sei es, berechnet für vier Personen:

 

200 g Roggen-, 200 g Weizenmehl, 60 g Butter, 800 g Seefischfilet, 200 g Speck, 2 Zwiebeln, Salz, Pfeffer, 2 Esslöffel Sahne, 1 Eigelb, Schmalz. / Aus Mehl, Butter, Salz und einer Tasse Wasser einen Teig bereiten, ausrollen, zusammenlegen und für eine Stunde kalt stellen. Den Speck würfeln, die grob gehackten Zwiebeln darin anbraten und mit dem gewaschenen Filet durch den Wolf drehen. Die Masse mit Sahne verrühren und mit Salz und Pfeffer würzen. Den Teil nicht zu dünn in ein Rechteck ausrollen, die Fischmasse auf die eine Hälfte schichten, die andere darüber schlagen. Die Ränder fest andrücken und mit Eigelb bestreichen. Die Pirogge etwa drei Stunden bei schwacher Hitze backen. Hin und wieder mit Schmalz bestreichen. Den fertigen Kalekukko in ein Tuch wickeln, damit die Kruste nicht hart wird. Bevor der Fischkuchen aufgetragen wird, in Scheiben schneiden, mit brauner Butter übergießen.

 

Als sich die Solotänzerin erhebt, beziehen auch die übrigen Tänzerinnen Stellung. Zuerst tanzen sie eine Quadrille aus dem Hofleben Peters I. Dann folgt Tanz auf Tanz, zu denen sich die Tänzerinnen – typisch karelisch – mit Gesang selbst begleiten. Auf mich wirken viele Lieder wie Sprechgesänge, geradezu liturgisch muten die häufigen Wortwiederholungen an. Bei den Tanzliedern und Tanzspielen wechselt Beschauliches mit so Flottem, dass einem schon vom Zusehen der Schweiß auf die Stirn tritt. Es wird gejuchzt, mit den Händen geklatscht, mit den Röcken geraschelt, es werden die Köpfe gewiegt, die Augen gerollte die Zähne gezeigt. Apropos Zähne…, die sind rar bei den Tänzerinnen über siebzig.

Viola Malmi, die nicht nur Ethnographin ist (durch Fernstudium), sondern auch Choreographin (durch Abendstudium) am Finnischen Theater in Petrosawodsk, erzählt uns, dass sie hier siebzig verschollen geglaubte karelische Tanzlieder aufzeichnen konnte. Einige davon sind nur in diesem Dorf erhalten geblieben, werden nur vom Tanzchor in Kindassowo in ursprünglicher Aufstellung mit den originalgetreuen Figuren getanzt.

Nach meiner Frage, was denn die Ehemänner zu ihrem lustigen Treiben sagen, herrscht urplötzlich Stille. Natürlich, so denke ich betroffen, die statistische Lebenserwartung von Mann und Frau… Aber es stellt sich heraus, dass nur ein Ehemann eines natürlichen Todes gestorben ist, die anderen fielen zu den verschiedensten Zeiten an den verschiedensten Fronten. Eine der Frauen, die ihrem Mann und fünf Söhne (!) im Großen Vaterländischen Krieg verloren hat, lässt keine Wehmut aufkommen. `Kommt, Weiber´, sagt sie, `wir wollen unserem Ruf Ehre machen. Trinkt noch einen und zeigt noch was.´ Und so sehen und hören wir eine weitere Stunde lang Tanzlied auf Tanzlied, einige Tänze mehr als zweihundert Jahre alt.

 Dörfliche Karelier mit dem finnokarelischen Musikinstrument „Kantele“.

Foto aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

`So alt wie mein Webstuhl´, kommentiert Alexandra Muchowina. Webt er noch? Und wie er webt! Wir überzeugen uns davon drei Häuser weiter. Hier in Kindassowo, so Alexandra Muchowina, besitzt fast jede Frau einen solchen alten Webstuhl, auf dem aus verschiedenfarbigen Stoffresten Läufer gewebt werden. In der Vergangenheit erfreuten sich diese karelischen Vorleger großer Nachfrage sogar in St. Petersburg. Heute wirken die rar gewordenen Läufer in den modern eingerichteten Neubauwohnungen besonders dekorativ.

Inzwischen ist Leben ins sonntägliche Dorf eingezogen. Alle, die unsere Ankunft hinter geschlossenen Gardinen beiwohnten, sind zum Abschied vors Haus getreten: die achtundzwanzig Kolchosbauern, vierundzwanzig Rentner und acht Kinder des Dorfes Kindassowo.“

 

Die Kantele ist eine griffbrettlose Kastenzither, die in Finnland, Estland und Karelien gespielt wird. Das Zupfinstrument besteht in der älteren Form aus einem flügelförmigen Resonanzkörper aus Holz, der aus einem ausgebrannten und mit dem Beil ausgehöhlten Birkenstamm besteht. Auf diesem sind fünf Rosshaarsaiten angebracht. Die ursprünglichen fünf Saiten wurden im Lauf der Zeit auf bis zu dreiundzwanzig Saiten erweitert. Moderne Kantelen haben bis zu sechsunddreißigDrahtsaiten, die während des Spiels mit Hilfe eines Hebelsystems um einen Halbton höher oder tiefer gestimmt werden können. Das Instrument wird – ähnlich wie die alpenländische Zither – auf dem Schoß oder auf einem kleinen Tisch liegend mit den Fingern gespielt. Inzwischen ist auch eine elektrische Kantele in Finnland entwickelt worden.

 

Weiße Orchidee des Nordens (LESEPROBE aus: "Zwischen Weißem Meer und Baikalsee")

 

„Morgen für Morgen weckt mich das Pochen eines Eispickels und das Scheppern einer Schneeschaufel. Beim ersten Mal schaute ich auf die Uhr, es war halb fünf. Auch an den beiden nächsten Tagen erklang das `Gerätekonzert´ auf die Minute zur gleichen frühen Stunde. Eines dunklen Morgens schließlich fällt mir ein, dies sei eine günstige Tageszeit `meinen´ beiden Männern zu entkommen. Sie hatten mir diesmal eingeschärft, keinen Schritt allein vors Haus zu gehen. Nicht weil sie um mein Seelenheil bangten, i bewahre! Sie fürchteten einzig und allein um meine Gliedmaßen; denn Petrosawodsk blitzt nicht nur vor Sauberkeit, sondern winters auch vor Glätte.

Gedacht, getan. Früh um sechs verlasse ich das Haus. Der `Konzertmeister´ guckt auf, brubbelt was, könnte heißen, `verrückt, so früh aufzustehen, wenn man nicht muss´, tätschelt seinen Riesenhund, steckt sich eine Papirossa an und – will in weithin hallendem Bass von mir wissen, woher ich stamme. Ich nenne ihm mein Heimatland in Zimmerlautstärke. (Schließlich haben die Meinigen auch Vorderaussicht.)

Mein früher Gesprächspartner strahlt, fuchtelt wild mit den Armen und setzt zu der ausführlichen Erläuterung an, warum er Neubrandenburg eben so gut kenne wie ich. Als ich ihm sage, dass ich in Neubrandenburg bisher nur einen einzigen Tag verbrachte, ist er bass vor Staunen. Berlin, schön und gut, aber was ist Berlin gegen Neubrandenburg, die Partnerstadt von Petrosawodsk… Sein Interesse für mich ist erloschen wie seine Papirossa. Der Riesenhund kriegt einen ärgerlichen Klaps, sein Herrchen verleibt sich aus der Taschenflasche einen wärmenden Schluck ein, und ich mache mich davon.

Vorbei am Ewigen Feuer und dem Grabmal des unbekannten Soldaten, fallen mir im Stadtbild immer wieder die schlichten schönen Denkmäler auf. Vor dem Kirowdenkmal verweilend, entsinne ich mich eines Dekrets von Lenin, in dem er forderte, die Denkmäler des Zaren und deren Lakaien, `Die weder vom historischen noch vom künstlerischen Standpunkt aus von Interesse sind, zu entfernen und dafür Denkmäler für Revolutionäre, für große Persönlichkeiten der Wissenschaft und Kunst aus allen Länder zu errichten. Im September 1918 schrieb Lenin `aufs äußerste empört´ nach Petrograd an den Volkskommissar Lunatscharski, weil monatelang nichts geschehen war; die Verantwortlichen nannte er aufgebracht `Saboteure und Tagediebe´. Am meisten empörte ihn, dass noch keine Marxbüste aufgestellt war. Das Verschwinden der Büste Radistschews empfand er geradezu als eine Komödie. Alexander Nikolajewitsch Radistschews – von dem man annimmt, dass er Goethe persönlich kannte – war von Katharina II. 1790 für sein anklagendes Buch `Reise von Petersburg nach Moskau´ als Staatsfeind `schlimmer als Pugatschow´ in das tiefste Verlies der Peter-Pauls-Festung geworfen worden.

Vom Kirowplatz aus – die Straßenbeleuchtung ist inzwischen verloschen, Petrosawodsk erwacht – überquere ich die Uliza Kalinina. Der sowjetische Politiker Michail Iwanowitsch Kalinin (1875 bis 1946) war einer der ungezählten nach Karelien Verbannen. Da das unwirtliche Karelien in der Nähe von Petersburg lag, verschickte man dorthin weit mehr Menschen als nach dem unwirtlichen Sibirien. Von Karelien sprach man deshalb auch als von dem `nahen Sibirien´.

Von den Olonezer Gouverneuren sind verzweifelte Briefe an die Zaren erhalten geblieben, in denen sie baten, man möge die Verbannten aus Karelien `verbannen´; besonders heftig wird die Ausweisung Michail Kalinins gefordert. In einem der Briefe ist zu lesen:

`Die Verbannung Politischer hierher ist im höchsten Maße unerwünscht. Nach und nach erfasst die politische Propaganda das ganze Volk. Durch die Verbannten wird das hier ansässige Volk intelligenter. Die Anzeichen dieses unseligen Einflusses sind nicht mehr zu übersehen.´

Als die Nachricht von den revolutionären Petersburger Ereignissen in Karelien eintraf, hob Michail Kalinin seine Verbannung selbst auf und kehrte illegal in das Putilow-Werk nach Petersburg zurück.

Die Bauern, damals machten sie fast zweiundneunzig Prozent der karelischen Bevölkerung aus, stellten sich größtenteils - `unseliger´ Einfluss der Verbannten – auf die Seite der revolutionären Arbeiter. 1917 jagten sie gemeinsam ihre Herren davon und gründeten 1920 die Karelische Werktätigenkommune, die in die Russische Föderation aufgenommen wurde. Das entsprechende Dekret unterzeichnete der ehemalige Verbannte Kalinin.

Schlenderst du durch die Straßen oder durch die Kaufhallen von Petrosawodsk, fällt dir sofort auf, dass fast alle Bezeichnungen zweisprachig sind. Was ich anfangs für Russisch und Karelisch gehalten hatte, erweist sich später als Russisch und Finnisch. So steht über dem großen Warenhaus sowohl russisch Унивемаг als auch finnisch Tovaratalo. Ich bin darüber sprachlos, hatte ich mir doch aus der Großen Sowjet-Enzyklopädie notiert, dass die Sprache der Karelier zur baltisch-finnischen Untergruppe der finno-ugrischen Sprachen gehöre, dass Karelische in drei Dialekte zerfalle, die in der UdSSR von etwa einhunderttausend Menschen gesprochen werden.

Nun, wir werden noch Licht in das karelische Sprachdunkel bringen!

Auf dem Rückweg fällt mir wieder das Engagement meines `Konzertmeisters´ für Neubrandenburg ein. Und so frage ich denn zwölf zur Arbeit eilende Passanten: Kennen Sie Neubrandenburg? Und hier die Antworten:

`Klar, unsere Partnerstadt.´

`War zweimal dort.´

`Mein Sohn war dort in den Ferien.´

`Ist doch unsere Partnerstadt.´

`Neubrandenburg? Na, ganz genau.´

`Neubrandenburg? Ein Bezirk in der DDR,´

`Bin dort gewesen.´

`Kollegen von dort waren bei uns im Betrieb.´

`In  unserem Museum für Bildende Künste hängt ein Bild. Es stellt einen Arbeiter aus Neubrandenburg dar.´

`Wir haben in Petrosawodsk eine Neubrandenburger Straße.´

`Ich wohne in der Neubrandenburger Straße, ist ein neuer Mikrorayon.´

`Ich fahre im Sommer hin.´

Achtzehn Städte der DDR haben Partnerschaftsbeziehungen zu Städten oder Gebieten der Sowjetunion. So enge Beziehungen, dass von zwölf Passanten bei dem Begriff Neubrandenburg keiner stutzt – das hätte ich mir nicht im Traume einfallen lassen.

`Wie siehst Du denn aus?´ höre ich – schon im Hoteleingang angelangt, nur noch wenige Schritte von meinem rettenden Zimmer entfernt – Heinz Krügers erstaunte Stimme. `Wie einer aussieht´, antworte ich betont gelassen, ´der sich siebenmal in den Straßenschnee gesetzt hat.´ Darauf Johann Warkentin prompt: `Hast du dir was gebrochen?´

Hinter verschlossener Tür zähle ich meine blauen Flecke. Es sind siebenundzwanzig. Und das hat mit seiner ungestreuten Glätte Petrosawodsk, die weiße Orchidee des Nordens´, getan…“

 

 

Die Solowezki-Inseln im Nordosten Kareliens, etwa 290 Kilometer nordwestlich von Archangelsk, an der Öffnung der Onega-Bucht zum Weißen Meer gelegen - mit ihren Geschichts- und Kulturdenkmälern – von uns, aus Zeitgründen leider auch nicht aufgesucht – ist der nördlichste Vorposten des orthodoxen Glaubens. 1923 hatte Stalin die Gebäude der Klosternlagen in ein Straflager, das erste der berüchtigten GULAGs, umwandeln lassen. Das ausgeklügelte Kanalsystem diente nun  als Transportweg für Zwangsarbeiter, die in Kloster und Kirchengebäuden eingesperrt wurden. Bis 1939 diente dieser Prototyp des Todes als Verbannungsort für Zehntausende tatsächlicher oder vermeintlicher Regimegegner. Die Geschichte dieses Lagers wurde durch den weltbekannten Roman Archipel Gulag“ des berühmten russischen Schriftstellers, Dissidenten und Historikers Alexander Solschenizyn bekannt. Seit 1990 gibt es auf der Hauptinsel wieder eine kleine Gemeinde von Mönchen, und viele der Bauten wurden inzwischen restauriert. Seit 1992 sind die Solowezki-Inseln Weltkulturerbe und hier befindet sich das erste GULAG-Museum Russlands. 

 

 

Seefisch per Schlitten (LESEPROBE aus: "Zwischen Weißem Meer und Baikalsee")

 

„Kareliens landwirtschaftliche Nutzfläche beträgt ganze drei Prozent, man baut frostbeständige Sorten Kartoffeln an, Kohl und Rüben; Getreide gedeiht bei karelischem Klima schlecht. Von alters her sind deshalb hier der Fischfang und die Jagd zu Hause, die Pelztierzucht ist ein neuzeitlicher Broterwerb.

Der Fischfang – zu achtzig Prozent mechanisiert – ist wichtiger Erwerbszweig der Karelier. Von fünfundsechzig Fischarten werden dreißig industriell genutzt; Karelier fischen auch im Weißen Meer und im Atlantik. Aus vielen namenlosen und namhaften Seen holen Kareliens Fischer auch im Winter ihre Beute: aus dem Sjamsee, dem Ursee, dem Sundsee, dem Permsee, dem Wygsee…

Wir wollen zum Sjamsee, einem recht kleinen Gewässer, dessen Mineralgehalt es aber durchaus mit dem des Onegasees aufnehmen kann; gerade der Sjamsee ist Anziehungspunkt für Touristen und Angler. Gennadi, der dort den Leiter einer Fischfangbrigade kennt, schwärmt von der malerischen Lage des Sees und von Michail Lebedjew, dem Brigadier:

`Er ist Dorfältester, ausgezeichnet mit dem Orden des Arbeitsruhms, scheut weder Wind noch Wetter. Er scheint die Sprache der Fische zu verstehen, denn ohne Fang kehrt er niemals heim. Schon sein Vater war Fischer und dessen Vater und wieder dessen Vater.´

Die achtzig Kilometer, die uns von Michail Lebedjew trennen, liegen schon bald hinter uns. An seinem aus hölzernen Schiefer gedeckten Wohnhaus angelangt, werden wir diesmal von Kopf bis Fuß in Seehundsfell gehüllt und zusätzlich weich und warm in Heu gebettet. Mit zwei Pferdeschlitten geht´s vom Fischerdorf aus querfeldein direkt auf die hoffentlich tragfähige Eisdecke des Sees, zu erahnen nur an den finnischen Badehäuschen direkt am Ufer. Laut Statistik schüttelt in Karelien nur an siebenundvierzig Tagen im Jahr `Der Sonnenball seinen Bart´. Die nördliche Sonne am reiseprospektblauen Himmel zeigt uns heute das erste Mal, wie strahlend schön ein karelischer Wintertag sein kann.

Michail Petrowitch Lebedjew ist mittelgroß und schlank, ja geradezu hager. Die schmalen hellblauen Augen stehen dicht beieinander. Man sagt: Das Blau der Seen färbt die Augen, das Gelb der Dünen die Haare der Karelier. Michail Lebedjew ist Mitte Vierzig, sieht älter aus. Ich habe Mühe, meine Standardvorstellung von einem Seebären wegzuschieben. Warum muss ein mutiger, rechtschaffener Mann unbedingt ein Athlet sein?

Als ich mein Notizbuch hervorkrame, sagt er: `Genießen Sie diese Stunde. Arbeiten Sie später. Bitte.´ Dabei schaut er mich so ruhig, so besonnen an, dass ich mein Notizbuch tatsächlich wieder einstecke.

Danke, Michail Petrowitsch, Sie ermahnten mich zur rechten Zeit, Auge und Ohr für die Natur zu haben. Für eine Natur, die einen Ihrer Vornamensvettern zum Schriftsteller werden ließ: Michail Prischwin. Im Leben dieses russisch-sowjetischen Schriftstellers gab es zwei Abschnitte. Die ersten Jahre verliefen in gewohnten Bahnen: das Elternhaus – eine Kaufmannsfamilie von strenger Lebensart – Gymnasium – Dienst als Agronom (er absolvierte 1902 die Leipziger Universität) – erste wissenschaftliche Veröffentlichung über `Die Kartoffeln in Feld- und Gartenkultur´.

Dann aber quittierte der dreiunddreißigjährige Prischwin unerwartet seinen Dienst, brach mit der Familie, trennte sich von seiner Braut und ging zu Fuß nach dem Norden, nach Karelien. Nichts außer einem Felleisen, einem Jagdgewehr und einem Notizbuch trug er bei sich. Michail Prischwin, bisher abhängig von einem reichen Onkel, verliebt in ein Mädchen aus adliger Familie, fürchtete, Zugeständnisse an die ihm verhassten Gesellschaftskreise machen zu müssen. Als einziger Ausweg aus dem zermürbendem Zustand, der einer seelischen Krankheit nahekam, erschien ihm dieser schonungslose Bruch mit allem Althergebrachten.

Hunderte Kilometer wanderte Michail Prischwin durch Karelien, sammelte Märchen, Sagen und Volkslieder, glücklich, unter einfachen Menschen zu sein. Nach seinem Aufenthalt in Karelien erschien sein ersten Buch `Im ungestörten Reich der Vögel´. In seinen Tagebüchern und der Autobiographie nennt Michail Prischwin das Land der Seen und der Wälder `Das Land seiner zweiten Geburt´. `Durch das Erlebnis Karelien´, schreibt er später, `wagte ich es, Schriftsteller zu werden.´

Hätten wir doch im Sommer herkommen sollen?

Nach einer Stunde raschen Dahingleitens halten die Schlitten. An markierter Stelle wird ein Loch ins Eis geschlagen und ein sechzig Meter langes Netz – im November ausgelegt – präsentiert seinen glitzernden Ertrag: Zander, Schnäpel, Renke, Hecht…

`Der Sjamsee ist ein Süßwassersee´, kommentiert Michail Lebedjew. `Er ist absolut sauber, sein Wasser ist reines Trinkwasser. In unserem See fühlen sich auch jene Fische wohl, die früher als `Zarenfische´ bekannt waren: Forelle, Lachs, Schuiski-Renke, Äsche… Auch die in Karelien am meisten verbreitete Fischart, die Zwergmaräne. Sie wird inzwischen in kleinen und großen Seen Kareliens gezüchtet. Auch im Ladogasee, Europas größtem Süßwasserreservoir.´

Die zwanzig Netze der Brigade Michail Lebedjew erbringen alle vier Wintertage eine Ausbeute von etwa sechshundert Kilogramm. Während des ganzen Jahres gehen bis zu 16 Tonnen der Wasser bewohnenden Wirbeltiere ins Netz. `Bei uns in Karelien hat man schon einige Erfahrung mit der Fischaufzucht im industriellen Maßstab gesammelt´, berichtet Michail Lebedjew weiter. `In den letzten Jahren setzten karelische Fischer 390 000 Stück Lachs und Renke aus. 1980 wollen wir bereits 1 500 Zentner dieses Edelfisches fangen.

Auf der Rückfahrt erzählt uns Michail Lebedjew, dass seine Frau Lehrerin im Dorf sei, seine Tochter am Biologischen Institut der Petrosawodsker Kuusinen-Universität studiere und sein Sohn in die achte Klasse gehe. Für die Tochter stünde fest, dass sie sich nach ihrem Studium im heimatlichen Dorf der Fischzucht widmen wolle. Der Sohn wisse noch nicht, ob er in die Fußstapfen des Vaters treten werde.

Mit Schellengeläut und reichem Fang kehren wir zurück ins Fischerdorf – um karelischen Zander in karelischer Butter auf karelischem Herd zu braten. Es wird ein sehr langer Tag. Warum? Weil ein Fischer vom Sjamsee und ein Bildreporter aus Falkensee beim Ansehen der Erinnerungsfotos aus dem Bezirk Neubrandenburg – Michail Petrowitsch Lebedjew war dort bei Fischern zum Erfahrungsaustausch – gewahr werden, dass sie ein und denselben Mann ihren Freund nennen.“

 

 Als ich am 1. April 1981 in der Zeitung las, dass in Karelien mit ohrenbetäubendemGetöse der Sjamsee verschwunden ist, dachte ich erst einmal an einen Aprilscherz. Denn genau auf diesem See waren wir drei Jahre zuvor mit zwei Pferdeschlitten zum Fischen gefahren. Später stellten Wissenschaftler fest, dass das fünfhundert Hektar große Gewässer einen doppelten Boden  gehabt hatte. Das Wasser des Sees war in eine trichterförmige Karsthöhle gelaufen – Gott sei Dank ohne uns.

 

Kostspieliges Liebesleben (LESEPROBE aus: "Zwischen Weißem Meer und Baikalsee")

 

„Die Pelztierzucht – zwanzig spezialisierte Sowchosen – ist neuzeitlicher Erwerbszweig der Karelier. Als wir im karelischen Sowchos `Louchski´ eintreffen, schärft man uns ein, kein Wort zu sprechen, Abstand zu den Käfigen zu halten, die Tiere in keiner Weise abzulenken.

Unentwegt zupft uns jemand ein Stückchen weiter von den Käfigen weg, verbietet uns, in die eisklammen Hände zu klatschen, untersagt uns, die kalten Füße durch Trampeln zu erwärmen. Bereits geneigt, das Personal garstig zu finden, hören wir, es sei der Nerze und Polarfüchse Paarungszeit, und die Anwesenheit Fremder bei dieser intimen Angelegenheit gefährde den Staatsplan. Nur auf Anordnung des Parteikomitees gestatte man unseren Besuch während des kostspieligen Liebeslebens.

Rauchwaren aus Russland sind in der Mode seit mehr als tausend Jahren sehr geschätzt. Man braucht nicht erst lange zu suchen, um in alten Lexika zu finden: `Als Pelzwerk erster Klasse wäre zu bezeichnen: russischer Zobel, Seeotter (Kamtschatkabiber)…`

Den Wert des `weichen Goldes´ hatten zuerst byzantinische Kaufleute erkannt. Neuere Schriftstücke berichten, dass im Jahre 1246 sogar ein Italiener, Piano Carpini, nach Sibirien, in das `Land der Pelze und Fröste´, reiste, um dort zu jagen.

Man wird wohl kaum ein anderes großes Land nennen können, in dem die Jagd auch für die Geschichte von solcher Bedeutung gewesen wäre, wie für das alte Russland. Russische Jäger und Kosaken waren es, die auf der Suche nach immer neuen Jagdgründen die Grenzen des Zarenreiches weiter und weiter nach Osten verschoben.

Der Kosakenataman Jermak stieß um 1580 mit seinem Gefolge im Auftrag der einflussreichen Kaufmannsfamilie Stroganow über den Ural hinweg in das weite westsibirische Tiefland vor. Bald schon wurde sein Unternehmen von Iwan IV. mit Truppen unterstützt. Einer von Timofejewitsch Jermaks Aufträgen war, `weiches Gold´ zu beschaffen. Insbesondere Zobelfelle genossen bei fast allen Gesandtschaften der russischen Zaren als Geschenke für ausländische Herrscher und Würdenträger höchste Wertschätzung.

Die Ortsansässigen ahnten nicht einmal, welchen Reichtum sie skrupellosen Händlern mit vollen Händen gaben. So boten die im Lenagebiet lebenden Jakuten für einen Kupferkessel so viele Zobelfelle, wie das Gefäß fasste und die Itelmenen auf Kamtschatka tauschten ein gewöhnliches Messer gegen mehrere Zobelfelle ein und glaubten auch noch, die `dummen Kosaken´ übers Ohr gehauen zu haben.

Schon bald nach Eingliederung Sibiriens in den Herrschaftsbereich der russischen Zaren wurde um die Mitte des 17. Jahrhunderts in der Stadt Irbit eine Pelzmesse eröffnet, auf der dann alljährlich die `rauche Ware´ (auch: `raue Ware´) aus ganz Nordasien feilgeboten wurde. Vor allem die Stadt Leipzig war es, die als Absatzmarkt der sibirischen Rohfelle überragende Bedeutung erlangte. In veredelter Form verkaufte man die Pelze von hier aus in alle Welt weiter. Ab 1930 löste die ebenfalls alljährlich stattfindende Pelzwarenauktion in Leningrad die Messe von Irbit ab. Bereits nach dem Bau der Transsibirischen Eisenbahn hatte Irbit seine alte Stellung weitgehend eingebüßt.

Die zu Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende stärkere Besiedlung weiter Teile Sibiriens – allein im Jahre 1908 zogen mehr als siebenhundertfünfzigtausend Menschen, vorwiegend Bauern, aus dem europäischen Russland über den Ural – hatte eine rasche Abnahme der Pelzausbeute zur Folge. Sibiriens Pelztierzeit war vorüber! 1912 erhielt die Staatskasse des Russischen Reiches lediglich viertausend Zobelfelle, während es früher immer etwas zweihunderttausend Felle je Jahr gewesen waren. Auf dem Leipziger Brühl ging das Angebot zur gleichen Zeit auf wenige hundert Exemplare zurück.

Am 20. Juni 1920 veröffentlichte die Sowjetregierung das von Lenin unterschriebene `Dekret über die Jagd´. Mit der Ausrottung der wertvollen Pelztiere, nicht nur der Zobel, war nun Schluss.

Heute kommt jedes zweite Persianerfell, jeder dritte Nerz, jeder zweite Blaufuchs und nahezu jeder Zobel wieder aus der Sowjetunion. Doch der Anteil der Jäger ist daran weitaus geringer als der Anteil der Züchter.

Im Jahre 1928 war nicht weit von Moskau, in der Stadt Puschkino, der allererste sowjetische Sowchos für die Zucht von Pelztieren gegründet worden. Erste Bewohner waren sieben Zobelweibchen gewesen: sandfarbenes Fell, Kehlflecke, abgenutzte Zähne. Nur diese alten und kranken Tiere waren ins Fangeisen geraten. Ein gesunder Zobel – geschwind wie der Blitz, vorsichtig wie der Hase – wurde nicht gefangen.

Die Wissenschaftler hatten verzweifelt vor den heruntergekommenen Exemplaren gestanden. Wie sollte man die Tiere unterbringen, womit sie füttern? Wann würde ihre Paarungszeit eintreten? Die Biologie des Zobels war noch völlig unerforscht gewesen, in der wissenschaftlichen Literatur kein einziger Fall beschrieben worden, dass sich Zobel in Gefangenschaft vermehrt hätten. Doch schon 1931 erfuhr die Welt von einer Sensation: In Puschkino waren die ersten Zobel in der Gefangenschaft zur Welt gekommen. Der russische Wissenschaftler Professor Pjotr Manteufel hatte das Geheimnis der Paarungszeit der Zobel gelüftet. Heute bringt es ein Zuchtzobel, dessen Vorfahren unbedingt aus dem burjatischen Naturschutzgebiet Bargusin stammen müssen, bei Auktionen in Leningrad auf eintausend Dollar.

Ein Jahr nach Gründung des ersten Pelztiersowchos in Puschkino wurden in Karelien die ersten Sowchosen gegründet. Die Spezialisierung erfolgte auf zwei der etwa einhundertdreißig sowjetischen Pelztierarten, auf Nerz und Polarfuchs.

Der Standardnerz ist braun. Sowjetischen Zoologen gelang es inzwischen, vierunddreißig Farben und Schattierungen herauszuzüchten: weiß, silbrig-schwarz, königspastell, perlmuttfarben, silberblau, stahlblau, saphierblau, blaubraun, rosafarben, schwarz… Seit Anfang der sechziger Jahre wird in der Sowjetunion die Nerzzucht industriell betrieben. Der Sowchos `Louchski´, 1959 gegründet, züchtet zwölf verschiedenfarbige Mutationsnerze.

Mit Stolz verweisen die karelischen Züchter darauf, dass derzeit karelische Pelze den sibirischen den Rang ablaufen. Gerade entfielen in London von neunundzwanzig Medaillen neun allein auf karelische Pelze.

Der Standardnerz bringt pro Wurf zwei bis sechs Junge zur Welt. Die Planauflage des karelischen Mutationsnerzes sind acht Junge je Wurf. Im Sowchos `Louchski´ gibt es immer mehr `Heldenmütter´. Viele Nerzweibchen werfen bereits neun Junge. Ein Nerzkind wiegt etwa zahn Gramm, wird nackt, taub und blind geboren. Erst am dreißigsten Tag erblickt es tatsächlich das Licht der Welt.

Der Eis- und Polarfuchs wird mit seinem reinweißen Winterfell als Weißfuchs und in der blaugrauen Variante als Blaufuchs bezeichnet. In den karelischen Sowchosen züchtet man den Polarfuchs norwegischen Typs wegen seines stärker entwickelten Oberhaares.

Im Sowchos `Louchski´ hat das Biologische Institut der Karelischen Filiale der Akademie der Wissenschaften der UdSSR eine Zweigstelle. Wissenschaftler fanden hier zum Beispiel heraus, dass eine Fischart aus den nördlichen Seen – zur rechten Zeit gefüttert – die Fruchtbarkeit der Nerzweibchen erhöht; dass Pferdefleisch besonders bekömmlich ist; dass bei Verkürzung der Tageslichtdosis das Fell dichter wird… Alle Neuerungen werden erst im Sowchos `Louchski´ sorgfältig geprüft, ehe man sie in den anderen neunzehn karelischen Pelztierzuchtsowchosen einführt.

Dreihundert Menschen hegen und pflegen hier zweiundsechzigtausend Pelztiere, damit ihr Fell eines schönen Wintertages als Kragen um den Hals gelegt werden kann.“

 

Vor 1940 kamen etwa dreißigtausend bis vierzigtausend Europäische Nerz-Felle in den weltweiten Handel. Ab 1940 erhöhte sich die Anlieferung auf den russischen Auktionen bis auf fünfundsiebzigtausend. Stück. Davon stammten 15 Prozent aus Karelien.

 

Braunbär gibt Pfötchen (LESEPROBE aus: "Zwischen Weißem Meer und Baikalsee")

 

„Bei seinem zweiten Karelienaufenthalt Anfang der dreißiger Jahre fand Michail Prischwin das ehemals ungestörte Reich der Vögel vielerorts völlig verwandelt vor. Prischwin war hergekommen, um an seinem Buch `Der Zarenweg´ zu arbeiten. Aber auch den gab es nicht mehr – er war versunken, überspült von Meereswasser; der Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals war hier in vollem Gange.

 

 

"Im Zug `Roter Pfeil´ wurden für den 17. August 1933 vier Waggons für eine außerplanmäßige Brigade reserviert. (...)  Das Ziel ist der Gulag. Auf Gorkis Fürsprache hin wird der Delegation das neue Strafvollzugssystem vorgeführt. Aus diesem Grund soll die Delegation die Straflager entlang des fast vollendeten Belomor-Kanals besuchen, der Leningrad und das Weiße Meer (Belomor) miteinander verbindet. Der Belomor-Kanal wird von Zwangsarbeitern, den sogenannten Kanalsoldaten, mit der Hand ausgehoben und gilt als das Glanzstück des ersten Fünfjahrplanes.(...) Das Schriftstellerkollektiv soll den Bau des Belomor-Kanals für die sozialistische Geschichtsschreibung festhalten. Im Sommer des Jahres 1933 hat Gorki eine Liste von 120 Schriftstellern für die Gulag-Expedition zusammengestellt. Das Schriftstellerduo Ilf und Petrow gehört ebenso zur Delegation wie die charmante Vera Inber mit ihrem Barett, von sie sich nie zu trennen scheint, und Marietta Schaginjan, die Armenierin (...) Weitere Mitglieder sind Alexej Tolstoi (...) und der modisch gekleidete Boris Pilnjak, der nicht einsieht, dass Sozialisten keine Fliegen tragen. (...) Der `Rote Pfeil´ bringt sie nach Leningrad, wo der Satiriker Michail Soschtschenko sich der Gesellschaft anschließt. (...) In einem furiosen Tempo, in nur 20 Monaten, war die 227 Kilometer lange Wasserstraße von 126 000 Strafgefangenen per Hand ausgehoben worden. (...) Auf der Baustelle verfügen die Gefangenen über 70 000 Schubkarren und 15 000 Pferde. Mangels Zugtieren schieben die Gefangenen 12-Stunden Schichten, die als die `vorübergehende Durchführung der Aufgaben eines Pferdes´ umschrieben werden. Nachts leuchtet die Baustelle wie die Gorkistraße in Moskau. Rauchschwaden treiben durch den dunklen Himmel. Lokomotiven pfeifen.Auf der Erde dagegen, an den Uferböschungen und in den Wäldern wimmelt es nur so von Arbeitern. Und nun muss man sich noch vorstellen, dass diese Arbeiter eigentlich alles Verbrecher sind. In ein und demselben Kollektiv schuften kaukasische Viehdiebe, jüdische Börsenspekulanten und sibirische Diamantenschmuggler Seite an Seite. Das Gros der Gulag-Häftlinge bilden jedoch die Kulaken, die in großer Zahl die Kollektivierung der Landwirtschaft behinderten, indem sie Getreide oder Vieh zurückbehalten haben. (...)

Aber Gorki pries den Sieg `Tausender unterschiedlicher Persönlichkeiten über die Natur und über sich selbst´."

Frank Westermann in: Ingenieure der Seele, 2007

 

 

Wieder in Moskau, erzählte Prischwin, dass viele der Bauarbeiter Leser seines Buches seien. Da es von der Vergangenheit ebenjenes Landstrichs handelte, bestaunten sie den Autor wie einen aus grauer Vorzeit Auferstandenen.

In jener Gegend gab es aber auch noch immer Althergebrachtes, zum Beispiel das sagenumwobene Land Wygorezien. Es verdankte seine Existenz einer religiösen Sekte: den Altgläubigen. Als der russische Patriarch Nikon seine Kirchenreform durchführte, boten die schwer zugänglichen Wälder des Nordens besonders gute Verstecke. So kam es, dass sich auch in Karelien nach und nach eine Kolonie der Altgläubigen bildete, ein `Staat im Staate´. Nach dem See Wyg nannte sie sich Wygorezien. Alte Sagen und Legenden berichten von der Entstehung und dem Leben dieses Staatsgebildes. Einige der Überlieferungen schildert Prischwin in seinem Roman `Der Zarenweg´ (In der DDR unter dem Titel `Der versunkene Weg´ erschienen). Im Laufe der Zeit schliffen sich die strengen Sitten mehr und mehr ab, und unter dem Zaren Alexander III. (1845 bis 1894) wurde Wygoreziens Unabhängigkeit der Todesstoß versetzt. Doch sogar noch in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts traf Michail Prischwin in Karelien Menschen an, die sich als Verfechter des alten Glaubens fühlten und in asketischer Selbstverleugnung den Weltuntergang erwarteten.

Es ist nicht verwunderlich, dass sich die Altgläubigen dem neuen, das mit dem Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals in ihr Leben trat, hartnäckig widersetzten. Gerade diese Gegensätze boten dem Dichter eine Fülle neuen Stoffes für die Gestaltung seines Buches. Der Titel `Der Zarenweg´ weist bereits auf die Symbolik des Romans hin. Dort, wo einst Zar Peter I. seine Flotte durch Wald-, Sumpf- und Seengebiet schleppen ließ, um gegen die Schweden zu ziehen, waren bis in unsere Tage die Spuren dieses eigenartigen Weges sichtbar.

(…)

1934 bereiste ein anderer weltberühmten Schriftsteller Karelien, der Autor von `Ditte Menschenkind´, Martin Andersen Nexö. Er, der 1922 das erste Mal in Karelien geweilt hatte, war tief beeindruckt von den Veränderungen, die hier in nur einem Jahrzehnt vor sich gegangen waren.

Petrosawodsk

`… Man geht nicht mehr auf Bürgersteigen aus losen Brettern, deren Enden einem jeden Augenblick in den Nacken schlagen können … Schulen und Verwaltungsgebäude sind erstanden und ganz neue Wohnviertel…´

Die Landschaft

`In den elf Jahren, die vergangen sind, hat Karelien den Sprung getan von den Landwirtschaftsmethoden des Alten Testaments zu den neusten wissenschaftlichen Verfahren, von Weihwasser und Beschwörungen durch die Popen zum Spritzen von Karbolineum und Nikotinlösungen und Kupfervirtriol…´

Die Pelztierzucht

`Während unseres Aufenthaltes dort erhält die Farm Besuch von einem Deutschen, der Leiter einer großen Silberfuchsfarm in Bayern ist. Er ist so weit hier her gereist, bloß um diese Farm zu sehen, die erst einige Jahre auf dem Rücken hat, aber schon mehrere Weltrekorde aufweisen kann. Er ist scharf darauf aus, eine Füchsin zu kaufen, die im vergangenen Jahr sechsundsiebzig Welpen geworfen hat, während bis dahin die Höchstzahl achtundsechzig gewesen war.´

(…)

Im weiten, dünnbesiedelten Karelien gibt es aber noch viele Gegenden, die wie ein ungestörtes Reich der Vögel anmuten. Für viele Tiere ist Karelien das Grenzgebiet ihrer Verbreitung. Hier verläuft die nördliche Grenze des Verbreitungsgebiets der Großohr- und der Bartfledermaus, des Iltis, des Dachses, der Wachtel, der Löffelente, des Grauspechts, der Schwarzdrossel, der grauen Mönchgrasmücke… Für einige aus dem hohen Norden stammende Tiere bildet Karelien die Südgrenze. Dazu gehören das Rentier, die rote Fledermaus, der Polarfuchs, der Hakengimpel, die graue Sumpfmeise.

Ungestörtes Tierparadies ist der karelische Naturschutzpark `Kiwatsch´. Er ist einschließlich der Schutzzone mehr als 16 000 Hektar groß. Über den gleichnamigen Wasserfall erzählt eine Legende:

Eine Quelle hatte zwei Töchter – die Flüsse Suna und Schuja. Als die Töchter herangewachsen waren, beschlossen sie, sich würdige Bräutigame zu suchen. Lange flossen sie suchend nebeneinander her. Eines Morgens erwachte Suna und sah, dass die listige Schuja fort war. Zornig sprang sie auf, doch riesige Felsen versperrten ihr den Weg. Da raffte sie ihre letzten Kräfte zusammen und stürzte sich von den hohen zerklüfteten Felsen, ohne Schuja zu finden. An der Stelle aber, wo sich die schöne Suna von dem steinernen Vorsprung gestürzt hatte, bildete sich der malerisch schöne Wasserfall Kiwatsch. Uns zeigt er sich als schneebedeckter Eisberg.

Wir erinnern uns an Burjatiens `Bargusin´, an Adygiens `Guseripl´. 1980 verfügte die Sowjetunion über einhundertvierzig Naturschutzgebiete. Seit 1917 wurden dreihundertachtzigtausend Tiere in fünfundvierzig Arten neu angesiedelt, so zum Beispiel: Flussbiber, Braunbären, Sibirische Tiger (seit 1947 unter Naturschutz), Leoparden, Karakale, Geparde, Gazellen, Kulane, Rene, Murmeltiere, verschiedene Robbenarten, Zobel, Eisbären (seit 1972 unter Naturschutz), Wisente… Viele bewahrte man auf diese Weise vor dem Aussterben. Ab 1977 wurde durch die Einrichtung von Krokodilfarmen eine Rettungsaktion für die Zeitgenossen des Dinosauriers eingeleitet, 1978 errichtete man bei Wladiwostok (Ferner Osten) das erste Meeresschutzgebiet.

Mehr als eintausend Tiere sind auf der Welt vom Aussterben bedroht. In der Sowjetunion sind es dreiundsechzig Arten und Unterarten von Säugetieren, fünfundsechzig Vogelarten, acht Amphibienarten, einundzwanzig Reptilarten – aufgeführt im `Roten Buch der Natur der UdSSR´ -, darüber hinaus sind vierhundertvierundvierzig Pflanzenarten genannt.

Viele dieser Pflanzen sind Sumpfpflanzen. Deshalb bildeten 1978 achtzehn Länder die `Telma´ (griechisch, etwa: Sumpf), die Internationale Gesellschaft zum Schutz der Sümpfe.

Noch vor einem Jahrzehnt herrschte weltweit die Meinung, dass alle Sümpfe trockengelegt werden sollten. Inzwischen sind auch tatsächlich etwa ein Drittel aller Sümpfe vom Erdboden verschwunden. Doch nicht überall gereichte es der Natur zum Vorteil. Bisweilen versiegten in den einstigen Sumpfgebieten Flüsse, kam es zu Bodenerosionen und zu weitaus geringeren Ernteerträgen, als man sich erhofft hatte.

Jetzt haben Wissenschaftler der Universität Tartu (Estnische SSR) erforscht, wie viel Hektar Sumpf erforderlich sind, um die Speisung der jeweils vorhandenen Bäche und Flüsse zu sichern und die Fauna zu erhalten. Oft sind Sümpfe auch die einzige Nahrungsquelle und Zufluchtsstätte für seltene Tiere; einigen Vögeln bieten sie unersetzliche Nistplätze.

Deshalb wurde beschlossen, in der Sowjetunion etwa dreihundert Sümpfe unter Naturschutz zu stellen. Ein einzigartiger Sumpfgarten soll in Karelien, das fast zu einem Viertel mit Sumpf bedeckt ist, entstehen.

Kareliens Landschaft lockt nicht nur seltene Tiere, sondern auch Regisseure und Kameraleute.

Der endlose rostbraune Sumpf, die Findlinge, groß wie Bauernhäuser, die Espen- und Fichtenwälder, so dicht, dass man selbst mit einem Feldstecher nicht hineinsehen kann, die kalten kristallklaren Waldflüsse und Waldseen – das alles bildet die sommerliche Kulisse für den sowjetischen Film `Im Morgengrauen ist es noch still´. Im Film `Kit & Co.´, der ersten Jack-London-Verfilmung der DEFA, waren die schnee- und eisbedeckten Weiten Kareliens landschaftlicher Hintergrund: Alaskas Klondike am Überraschungssee ist Kareliens Kossalma am Ukschsee!

Ist im Naturschutzgebiet `Kiwatsch´ jegliche wirtschaftliche und jagdliche Betätigung verboten, so ist das übrige Karelien ein Dorado für Jäger. Natürlich ist jeder Jäger besonders stolz, wenn er nach allen Regeln der Jagdkunst einen Elch oder Bären erlegt.

Von den rund eintausendsechshundert Bären Kareliens lernen wir einen persönlich kennen: Mischka. Die Jägerfamilie Abakumow hatte Mischka als Neugeborenes im Wald gefunden und mit der Flasche aufgezogen. Inzwischen ist er ein Jahr alt und schon ziemlich angriffslustig.  

Die Buchautorin Gisela Reller mit Mischka und dem Jäger Abakumow.

Foto: Heinz Krüger

 

Gerade als Nikolai Alexandrowitsch Abakumow erzählt, dass man Mischka bald weggeben müsse, weil er zu gefährlich geworden sei, glaube ich meinen Augen nicht zu trauen. Hinter Heinz Krüger, der eben einen neuen Film einlegt, lugt Mischka hervor, erhebt sich auf die Hinterpfoten und legt seine Tatzen auf Heinz Krügers Schultern. Nach beängstigenden Augenblicken entscheidet Mischka sich jedoch für Süßes und trollt sich zum Würfelzucker.“

 

Die Ladoga-Ringelrobbe und die Saimaa-Ringelrobbe sind Unterarten der Ringelrobbe, die nur im Süßwasser vorkommen.Mit einem Bestand von nur etwa 260 Tieren gehört die Saimaa-Ringelrobbe zu den bedrohtesten Robben weltweit. Die Saimaa-Ringelrobbe ist die dunkelste aller Ringelrobben. Es wird geschätzt, dass es bereits 1893 weniger als tausend Saimaa-Ringelrobben gab, wobei genaue Zahlen nicht bekannt sind. Ein großer Schwund war vor allem während der 1950er Jahre zu beobachten, als die Robbe als Schädling gejagt wurde, weshalb man sie 1955 unter Schutz stellte. Dennoch sanken die Bestandszahlen durch moderne Fischfangmethoden und Umweltgifte wie Quecksilber weiterhin, weshalb weitere Regulationen zum Schutz des Tiers erlassen wurden. - Die Ladoga-Ringelrobben sind vor allem gefährdet durch Gifteinleitungen und Fischernetze, in denen sie sich immer wieder verfangen.  Seit den 1980er Jahren stehen auch sie unter uneingeschränktem Schutz, doch da die ansässigen Binnenfischer die Robben als Konkurrenten beim Fischfang ansehen, gibt es eine Dunkelziffer illegaler Tötungen. Trotzdem leben 2014 inzwischen wieder fünftausend Ringelrobben im Ladogasee.

  „Erleuchtete“ Leuchtbuchstaben (LESEPROBE aus: "Zwischen Weißem Meer und Baikalsee")

„Die Burjaten haben ihr Nationalepos `Gässer´, die Adygen ihr `Nartenepos´, die Karelier ihr `Kalevala´. Die Namen der Helden führt jeder Burjate, Adyge, Karelier im Munde, als würden sie munter und lebendig unter ihnen weilen. Es berührt mich immer wieder aufs Neue, wie sehr gerade diese kleinen Völker ihre Volksepen und Märchen, Legenden, Sagen und Spruchweisheiten lieben.

Hand aufs Herz: Wer von uns kann Verszeilen dies `Nibelungenliedes´- bedeutendstes Heldenepos der deutschsprachigen Literatur – auswendig hersagen?

Am Vorabend unserer Karelienreise wusste ich über das `Kalevala´-Epsos nur, dass es sich um karelo-finnische Volkslieder, Sagen und Zaubersprüche handelt, von dem Finnen Lönnrot Mitte des 19. Jahrhunderts gesammelt. So nehme ich denn die 22 795 Verszeilen kurzerhand mit auf die Reise: deutsch erschienen im VEB Hinstorff Verlag Rostock – ein zusätzliches Kilogramm Reisegepäck.

Sei es, dass wir auf irgendeinen Direktor in irgendeinem Vorzimmer warten oder aber in unserem Hotelrestaurant des Kellners harren (der als Stichwort für sein Erscheinen nur den letzten Seufzer eines vor Hunger in Ohnmacht Gefallenen anerkennt) – stets sieht mich Gennadi mit Bleistift und dem Zweipfundbuch bewaffnet. Eines Tages fragt er mich: `Wollen Sie einen echten Kalevala-Karelier kennenlernen?´ - Was für eine Frage!

Im Petrosawodsker Historisch-Landeskundlichen Museum hatte ich gefragt, ob es typische äußere Merkmal gäbe, an denen man einen Karelier erkennen könne. Die russische Museumsführerin hatte spontan `Ja!´ gesagt und selbstbewusst hinzugefügt: `Ich habe mich da noch nie geirrt. ´Befragt, was denn solche äußeren Kennzeichen seien, war sie jedoch in arge Verlegenheit geraten; denn `mittelblond und blauäugig´ war schließlich auch ihre augenblickliche Gesprächspartnerin. Als Zugabe nannte sie dann noch zögernd: `Schroffes nördliches Aussehen und massiver Unterkiefer.´ Ich glaube, zusätzlich entdeckt zu haben: ausgeprägte gerade Nase und ein Quentchen Asiatisches in der Augenpartie.

Als wir bei dem echten `Kalevala´-Karelier ankommen, ist es sechs Uhr abends, als wir davonkommen, fast zwei Uhr morgens.

Wir sind vollgestopft mit eingelegten sauren Pilzen und bitteren Geschichtsfakten und wissen endlich, warum die Sprache der Finnen auch die der Karelier ist.

Jaakko Rugojew – eben der Rugojew, der uns aus der Ferne poetische verführte, das winterliche Karelien in Augenschein zu nehmen – ist über sechzig Jahre alt, mittelgroß. Alle äußeren Kennzeichen treffen durchaus auf ihn zu, nur die `nördliche Schroffheit´ ist von den vielen Fältchen und Runzeln verdeckt, eingekerbt von den Jahren und harten Schicksalsschlägen.

Rugojew wurde 1918 geboren. `In einem Dörfchen´, so erinnert er sich, `das sich im Dickicht der endlosen Wälder versteckte, gelegen am schattigen Ufer eines kleinen Sees, unweit der finnischen Grenze.´

Jaakko Rugojew musste schon als Junge hart arbeiten, half Bäume fällen, die drei Mann nicht umschlingen konnten, mähte Heu wie die Alten, fischte in aller Herrgottsfrühe, um zusätzliche Nahrung für die Familie auf den Tisch zu bringen. `Es ging bei uns ärmlich zu. Aber für mich war unsere Hütte ein Schloss.´

Vierundzwanzig Jahre alt, zündete er an einem frostklirrenden Februartag dieses `Schloss´, sein Geburtshaus, eigenhändig an. Nur ein paar Photographien nahm er an sich. Seine Partisanen hatten sich schweren Herzens entschlossen, ihr Dorf niederzubrennen, damit die heranrückenden Feinde weder Obdach noch Essen vorfänden. Das war 1942. Die Feinde waren deutscher und finnischer Nationalität!

Die Hauptstadt des Grenzbezirks, in dem Jaako Rugajew als Bauernsohn geboren wurde, hieß Uchta, heute in Kalevala umbenannt.

Aus dem poetischen Kalevala-Bezirk stammen vier anerkannte karelische Schriftsteller. Jakko Rugojew ist einer von ihnen. Er ist Lyriker (etwa fünfzig seiner Gedichte wurden vertont), Dramatiker, Romancier (insgesamt dreißig Buchveröffentlichungen), Journalist (war Berichterstatter des Nürnberger Prozesses), ist der Vorsitzende des Karelischen Schriftstellerverbandes…

Extra für uns hat er eine Wand füllende Landkarte aufgehängt und Bücherberge gestapelt. `Ich will Ihnen´, so sagt er, `eine Privatvorlesung halten.´ Respektlos gekürzt, hört sie sich so an:

Vom 9. bis 12. Jahrhundert gehörte der größte Teil des heutigen karelischen Territoriums zum altrussischen Staat. Nach dem Zerfall dieses Staates war karelischer Boden drei Jahrhunderte lang ein Teil des Großfürstentums Nowgorod. Während dieser Jahrhunderte bildete sich die karelische Völkerschaft heraus. 1478 wurde karelisches Territorium an den russischen Zentralstaat, das damalige Großfürstentum Moskau, angegliedert. Im 17. Jahrhundert eroberte Schweden einen Teil Kareliens. Die Schweden aber hatten sich schon Mitte des 12. Jahrhunderts finnisches Territorium einverleibt. Finnische Erde wurde somit vom 14. Jahrhundert an zum Kampfplatz zwischen Schweden und Russen. Auch zahlreiche Finnen mussten dazumal unter schwedischer Fahne ihre Haut zu Markte tragen.

Als Zar Peter I. den Schwedenkönig Karl XII. 1709 besiegt hatte, schien endlich das Ende der Schwedenzeit gekommen. Doch der russische Zar gab ganz Finnland an Schweden zurück. Im letzten Schwedisch-Russischen Krieg 1808/09 besiegte Zar Alexander I. endgültig die Schweden. Ganz Finnland fiel an das russische Zarenreich, erhielt aber autonome Grundrechte. Jetzt besannen sich die Finnen erneut auf ihre Nationalität. Vor allem ging es um die finnische Sprache, die unter der Schwedenherrschaft verboten gewesen war.

Zu jener Zeit war Elias Lönnrot ganze sechs Jahre alt. Der Schwedisch-Russische Krieg hatte die finnische Familie mit ihren vier Kindern endgültig an den Bettelstab gebracht. Selbst Brot, gebacken aus Mehl, das mit Flechten und Fichtenrinde gemischt war, kam nicht mehr auf den Tisch. Elias und seine Geschwister gingen betteln. Als Siebzehnjähriger zog Elias Lönnrot, wie einst Martin Luther, Psalmen singend von Haus zu Haus. Nachts aber vertiefte er sich in die (noch schwedischsprachigen) Schulbücher. Mit zwanzig Jahren schaffte es der Lernbesessene: Er wurde als Medizinstudent immatrikuliert.

Sechs Jahre später brach der Magister Lönnrot zu seiner ersten Expedition auf, um mündliche Überlieferungen zu sammeln und aufzuschreiben. Zu Fuß, mit einem Betrag von einhundert Papierrubeln, als Bauer gekleidet, einen derben Stock in der Hand, die Tabakspfeife im Mundwinkel, den Ranzen auf dem Rücken, die Flinte über der Schulter, im Knopfloch ein Band, daran eine Flöte. Er gab sich für einen Bauernsohn aus, der in Karelien seine Verwandten besuchen will. Sein Spiel lockte die Bauern an und immer auch die Laulajat, die Runensänger.

 

Die letzte Runensängerin Kareliens ist Helena Reikina, 2006 achtzig Jahre alt. Sie lernte einst die karelischen Lieder von ihrer Mutter,die sie dann selbst zu Hochzeiten und Geburtstagen vortrug. Kürzlich nahm sie an einem Runensängerwettbewerb in Finnland teil - und gewann.

 

Und so ist das `Kalevala´-Epos Volksschöpfung und das Werk eines einzelnen zugleich; denn Elias Lönnrot machte aus den vielen Einzelgesängen – die er von den verschiedenen Sängern in unterschiedlichen Varianten hörte – ein einheitliches Ganzes.

Die zentralen Gestalten des “Kalevala“ sind im Unterschied zu anderen Heldenepen der Weltliteratur nicht im Milieu von Königen, Fürsten und Rittern angesiedelt, sondern begegnen uns als Fischer, Jäger, Bauern, Schmiede; Hauptheld ist der weise Sänger und Zauberer Väinämöinen. Eine der Handlungslinien besingt den Kampf um die Mühle Sampo:

Auf dem Boden seiner Esse: / Sah den Sampo schon entstehen, / Sah den bunten Deckel wachsen. / Schmiedet mit behänden Schlägen, / Klopfet mit gar kräft´gem Hammer, / Schmiedet kunstgerecht den Sampo, / Dass er Mehl auf einer Seite, / auf der andern Salz er mahlet, / auf der dritten Geld in Fülle, / Mahlet nun der neue Sampo, / Schaukelt schon der bunte Deckel, / Mahlt ein Maß bei Tagesanbruch, / Mahlt ein Maß, dass man es esse, / Mahlt ein zweites zum Verkaufen, / Mahlt ein drittes zum Verwahren. //

Die Runen zeigen den Kampf des Volkes gegen Louhi, die böse Herrin des Nordlandes. Der wunderbare Sänger Väinämöinen, der kunstreiche Schmied Ilmarinen und der lustige Lemminkäinen besiegen Louhi und schenken dem leidgeprüften Volk Licht und Güte, Freiheit und Überfluss. Es stimmt mit der Lebensweisheit dieser einfachen Menschen überein, dass Kriegszüge und Kampfgetöse keine sehr große Rolle spielen. Nur den verwegenen Lemminkäinen gelüstet es nach kriegerischen Abenteuern. Im Epos ist dies ganz und gar keine positive Eigenschaft. Seine Braut sagt zu ihm:

So beschwör mit ew´gem Eide, / Dass du nimmer ziehst zum Kriege, / Wenn nach Golde dich gelüstet.//

In über zwanzig Jahren sammelte Lönnrot seine Verse. Es war wahrlich keine unbeschwerte Zeit für ihn. So half er, der Arzt Lönnrot, während jener Jahre in Helsingfors den Kranken einer Choleraepidemie und infizierte sich dabei selbst. Später bekämpfte Dr. Lönnrot einen Winter lang eine Hungerseuche, der er ebenfalls selbst verfiel. Trotzdem arbeitete er, der Folklorebegeisterte, unermüdlich an seinem Lebenswerk. Und so wurde die finnische Literatursprache von dem Sohn eines finnischen Dorfschneiders begründet.

Dennoch entspricht es nicht der Tatsache, wenn man das `Kalevala´-Epos als das Nationalepos der Finnen bezeichnet – wie es in besonders dicken Lettern in meinem `Kalevala´-Buch steht. Ich frage Jaakko Rugojew nach seiner Meinung. Er antwortet ruhig, nur ein Aufblitzen in seinen Augen sagt mir, wie sehr in diese Frage bewegt:

`Das Epos ist in Karelien aufgezeichnet worden. Fast alle Sänger stammten aus dem heutigen Kalevala-Bezirk: Archip Perttunen, Andrej Malinen, Wassili Kijelewainen… Wie oft saß ich sinnend unter ebenjener Birke, unter der sich Lönnrot auf karelischem Boden von dem damals achtzigjährigen Perttunen vorsingen ließ. Die Welt muss sich schon bequemen, das `Kalevala´-Epos als das Karelo-finnische Nationalepos anzusehen.

Die Karelier hatten vor der Revolution keine Schriftsprache. Wen wundert es da, dass sie die Schriftsprache der Finnen übernahmen, eine Schriftsprache, die Lönnrot mit wenigen finnischen und vielen karelischen Gesängen begründet hatte. `Die Nordkarelier´, fügt Rugojew hinzu, `haben sich ohnehin mit ihrem Dialekt von jeher besser mit den Finnen verständigen können als mit den Südkareliern.´

Wir wissen: Seit 1809 gehörte Finnland zum zaristischen Russland. Doch kaum hatte die russische Revolution gesiegt, da unterzeichnete Wladimir Iljitsch Lenin auch schon – am 31. Dezember 1917 – den Beschluss des Rates der Volkskommissare der RSFSR über die Anerkennung der staatlichen Unabhängigkeit Finnlands.

`Für diese edle Tat, so ist auf einer Gedenktafel in Lenins Arbeitszimmer im Smoly zu lesen, `ist ihm das ganze finnische Volk dankbar.´ Diese Gedenktafel brachte 1959 kein geringerer als der finnische Staatspräsident Dr. Urhu Kaleva Kekkonen an. Die Geburt Finnlands als souveräner Staat machte einer siebenhundertjährigen Geschichte der Unterdrückung ein Ende. Sechshundert Jahre lang waren die Finnen Untertanen Schwedens gewesen und hundert Jahre lang Gefangene im zaristischen Völkergefängnis.

Viele finnische Genossen hatten die Oktoberrevolution aktiv unterstützt – auch indem sie deren Führer fast zwanzigmal auf finnischem Boden vor den Spitzeln der zaristischen Geheimpolizei, später vor denen der Provisorischen Regierung verborgen gehalten hatten. Einer der Mitkämpfer Lenins war der Finne Otto Wilhelm Kuusinen, der dann später – von 1940 bis 1956 – Präsident der Karelofinnischen SSR war. Die Staatliche Universität in Petrosawodsk trägt seinen Namen, und ein übermannsgroßes graugranitenes Denkmal am Onega-Boulevard zeigt den großen Staatsmann als gewöhnlichen, sympathischen Spaziergänger.

Die auch in Finnland im November 1917 entstandene revolutionäre Situation führte jedoch nicht zur Errichtung der Arbeiter- und Bauernmacht, denn die revolutionären Kräfte Finnlands wurden alsbald von der finnischen Konterrevolution und den deutschen imperialistischen Interventionstruppen, die im März 1918 in Finnland eingedrungen waren, grausam unterdrückt. Die deutschen Truppen übrigens standen unter dem Befehl des Generals von Goltz, der ein Jahr darauf die deutschen Interventionstruppen im Baltikum befehligte. Karelien wurde erst im März 1920 von der Roten Armee befreit. Im selben Jahr noch wurde die Karelische Werktätigenkommune gegründet, die 1923 in eine Autonome Sozialistische Sowjetrepublik umgewandelt wurde. Aber den Kareliern wurde der Aufbau ihrer Volkswirtschaft immer wieder erschwert. 1922, gerade als Lenin dem Beschluss Gesetzeskraft verliehen hatte, dass der Bau einer Papierfabrik, eines Zellstoffwerkes, eines Holzverarbeitungswerkes und eines zentralen Kraftwerkes in Kondopoga an der Suna als vordringlich anzusehen sei, drangen die berüchtigten finnischen Jäger nach einer Reihe von Grenzprovokationen wieder in Karelien ein.

Im zweiten Weltkrieg dann rannte Finnland zusammen mit den Hitlertruppen gegen die Sowjetunion ins Verderben. Erst Ende Juli 1944 wurde die Karelofinnische Sozialistische Sowjetrepublik von der Roten Armee abermals befreit. Sechsundzwanzig Söhne und Töchter Kareliens wurden als Held der Sowjetunion geehrt, darunter acht Einwohner von Petrosawodsk.

(…)

Auf dem Heimweg von Jaakko Rugojew nicken wir sowohl der russischen als auch der finnischen Leuchtreklame von Petrosawodsk freundlich zu, wir wundern uns nun nicht mehr über die karelofinnische Zweisprachigkeit.“

 

 

Das Kalevala-Epos, von Elias Lönnrot (1802 bis 1884) mit dem Untertitel versehen „Alte karelische Lieder aus den Frühzeiten des finnischen Volkes“, erschien das erste Mal 1835. Der 150. Jahrestag des Erscheinens wurde 1985 mit rund eintausend Veranstaltungen in Finnland und Karelien begangen. Über einhundertdreißig wissenschaftliche Publikationen waren dem Wirken Elias Lönnrot gewidmet und: Ein Seminar beschäftigte sich – mit Wissenschaftlern aus Finnland und der DDR – mit dem Einfluss der Gebrüder Grimm auf die Kalevala-Dichtung.

 

Sandsack und Maisbirne (LESEPROBE aus: "Zwischen Weißem Meer und Baikalsee")

„Fast hundert Jahre schrieb man über das Boxen. `…eine Art Faustkampf, der zu den nationalen Eigentümlichkeiten Englands gehört…` Oder: `Diese Wettkämpfe zerfallen in zwei Klassen. Bei der einen, an der sich Leute aus den besten Ständen beteiligen, handelt es sich nur darum, wer dem Gegner während einer bestimmten Zeit die meisten Stöße beibringt; bei der anderen hört der Kampf erst auf, wenn der Gegner während einer bestimmten Zeit unfähig ist, sich zu bewegen. Letztere Art ist ihrer Natur nach roh…´

Ich kann mich heute noch nicht an den Faustschlägen erfreuen, die die eine Hand austeilt, die andere deckt. Trotzdem haben Journalisten natürlich nicht das Recht, sich das bestausgerüstete Boxhaus der gesamten Sowjetunion entgehen zu lassen.

Das Boxen - `nationale Eigentümlichkeit´ ausgerechnet der Karelier? Die Antwort ist eine Gegenfrage: Warum sind bei Ihnen in der DDR ausgerechnet die Leichtathletik und der Kanusport zu Hause?

Kareliens Boxhaus steht seit 1974, ab 1982 erhofft man sich stabile Erfolgsziffern. Dreihundert Jungen werden gegenwärtig trainiert.

Ich unterhalte mich mit einer Gruppe Zwölfjähriger. Mir scheint: Keiner von ihnen hat Flausen im Kopf, obwohl, na ja, siegen möchte man natürlich. Erst mal in Karelien, dann irgendwo anders in der Sowjetunion und dann im Ausland, das wäre schön. Aber die Neuankömmlinge wissen doch ganz genau, dass vor dem Sieg hartes Training steht. Erst mit etwa achtzehn Jahren werden sie `boxreif´ sein.

In der Pause weist der Trainer auf zwei freundschaftlich umschlungene Jungen.

`Da sehen sie, was ein Seil umschlungener Boxring vermag. Oft kommen Väter und Mütter zu uns. Sie bitten, ihre Jungen aufzunehmen, weil sie allzu schüchtern sind, sich dem Kollektiv nicht anzuschließen vermögen, Außenseitermanieren zeigen. Natürlich wollen wir einmal Siege sehen. Acht im Jahr haben wir insgeheim eingeplant. Aber wir verstehen uns auch als eine `Charakterschule´. Kein Junge wird bei uns abgewiesen. Auch derjenige nicht, bei dem wir von vornherein wissen, dass er keine Olympiahoffnung ist.´

Mit den schweren Boxhandschuhen gewinnen die Jungen gleichzeitig ein bisschen mehr Selbstbewusstsein. Und wer an Sandsack und Maisbirne ausreichend Ausdauer trainiert hat, wundert sich eines Tages selbst darüber, dass gleichzeitig mehr Ausdauer für die schulischen Hausaufgaben dabei herausgesprungen ist. Nicht aus jedem Jungen wird ein guter Boxer. Aber jeder Junge kann nach einer gewissen Trainingszeit seine Körperreaktionen besser koordinieren, hat eine größere Portion Willensstärke hinzugewonnen und weiß Kollektivgeist zu schätzen, weil er Mannschaftsgeist kennengelernt hat.

So gesehen, gewinne sogar ich dem Boxsport Gefallen ab. Die Karelier `aller Stände´ wissen vorschriftsmäßige Treffer jedenfalls durchaus zu würdigen; denn die siebenhundert Zuschauerplätze sollen bei fast allen Veranstaltungen bis auf den letzten Platz gefüllt sein.

Wenn eine pfeilschnell vorschießende Linke voll die ungedeckte Kinnlade des Gegners treffe, so sei das eine Klasseleistung, wenn aber ein Schütze seine Kugel auf ein Pappmaché-Reh abziele, so sei das ein grausames Geschehen – meint das Publikum.

Jedenfalls sagt das Valeri Postojanow, zehnfacher Welt- und Europameister in der Einzel- und Mannschaftswertung der Disziplin `Laufende Scheibe´. Bei dieser Sportart nämlich musste man den beliebten Hirsch gegen den unbeliebten Wildeber austauschen, um die Gunst des Publikums zu erringen.

Valeri Postojanow – Stellvertretender Vorsitzender des Komitees für Körperkultur und Sport beim Sportministerium der Karelischen AAR, Meister des Sports der UdSSR, Meister des Sports der internationalen Klasse, Verdienter Mitarbeiter der Kultur der Karelischen ASSR, Mitglied der Internationalen Schützenunion – schießt meisterhaft nicht nur auf feststehende oder sich mit verschiedener Geschwindigkeit fortbewegende Pappkeiler, sonder auch auf lebendige Bären und Elche.

Hat er etwa auch den riesigen Bären erlegt, auf dessen Fell augenblicklich unsere Füße ruhen? Er hat! Auch den Elch, dessen Fleisch – mit Speck gespickt – uns augenblicklich auf der Zunge zergeht? Er hat!

Gäbe es eine Disziplin `Jägerlatein´, Postojanow wäre auch da ein Meister seines Fachs – wenn er von hoch aufgerichteten Bären, die aus Blut unterlaufenden Augen mordlustig auf die Jäger blicken, erzählt; von `Blindschüssen´, die sich in karelischer Waldeinsamkeit wie Donnerschläge anhören, von dem Angst einflößenden Gebrüll sich angegriffen fühlender Raubtiere, von durchwachten und durchfrorenen Nächten auf grusliger Lauer…

Um die beiden stärksten Tiere, die in Karelien beheimatet sind, zu charakterisieren, schließt er seine unterhaltsamen Jägergeschichten mit dem karelischen Sprichwort `Gehst du auf Bärenjagd, nimm ein Bett mit, gehst du auf Elchjagd, so nimm einen Sarg.´

Nur auf einer so breiten Heldenbrust, wie sie Postojanow sein eigen nennt, haben alle die Medaillen und Auszeichnungen Platz, die er bis jetzt in seiner sportlichen Laufbahn errungen hat.

Als Postojanow Medaillen geschmückt für den Fotografen posiert, sagt seine Frau, die Sportärztin Valentina Wassiljewna: `Es gab auch schwere Zeiten für uns. Besonders die sechziger Jahre hatten es in sich. Valeri trainierte und studierte. Weil sein Stipendium nicht hin und nicht her reichte – unser Sohn war erst ein Jahr alt und ich deswegen nicht berufstätig - arbeitete Valentin außerdem noch als Laborant. Und da er wusste, dass zu einem guten Sportler erfolgreiche Schüler gehören, studierte er auch noch eine Studentenmannschaft.´ Und zu mir gewandt: `Und ich wünschte mir so sehr ein zweites Kind. Ehrlich: Was sind blanke Medaillen gegen blanke Kinderaugen?´

Da springt Valeri auf. In Sekundenschnelle ist er mit einem Baby zur Stelle. `Wassili Postojanow´, stellt er vor, `gerade ein Jahr alt.´

Das nenne ich aber eine feine Familienplanung! Valeri selbst wird aus dem aktiven Sport bald aussteigen, dafür ist Sohn Vitali – sechzehn Jahre alt – schon erfolgreich eingestiegen; und Valentina und Valeri holen, nachdem die blanken Medaillen im Kasten sind, die Freuden an einem zweiten Paar blanker Kinderaugen nach.

Na, darauf aus der Linken ein kräftiges Stück Bärenspecke und aus der Rechten einen kräftigen Schluck!

Ist der Boxer bemüht, nicht auf die Bretter zu gehen, so ist gerade dies das Begehren des Skisportlers. Und mit dem Skisport sind wir nun endlich bei einem spezifischen Sport der Nordländer. Norwegen ist die ursprüngliche Heimat des Skisports; 1843 fand dort das erste Skirennen statt. Olympische Sportart ist der Skisport seit 1924, zwei Jahrzehnte nach dem Boxen und zweiundfünfzig Jahre vor dem `Schießen auf laufende Keiler´.

In Karelien ist besonders der Skilanglauf zu Hause – als Kampf- und Freizeitsport. Wir kommen gerade dazu, als Langläufer aus Großbetrieben und Berufsschulen starten.

`Die Mädchen und Jungen hier´, sagt Gennadi, `kommen von nah und fern.´ Bei `nah´ denke ich unwillkürlich an Petrosawodsk, bei `fern´ etwa an Perm. Fünfzehn Jungen und sechzehn Mädchen sind am Start. Und von wie fern kommen sie tatsächlich? Sie sind aus Nowosibirsk angereist, aus Leningrad, Wladimir, Moskau, Murmansk, Swerdlow, Kirow, Gorki; mehr als die Hälfte kommt aus kleinen Orten der Baschkirischen ASSR, der Ukrainischen SSR, der Kasachischen SSR, der Tatarischen ASSR, der Belorussischen SSR, der Udmurtischen ASSR, der ASSR der Komi, ja, sogar von der Halbinsel Kamtschatka. In der Jungenstaffel starten zwei Langläufer karelischer Nationalität. Sie sind aber bereits auf der Zehnkilometertour. Bleibt uns nur die Nummer 9 der Mädchenstaffel, die vierte wird. Doch darüber ist Marika so enttäuscht, dass Tränen fließen und sie uns davon rennt.

Einer der Trainer gesellt sich zu uns und sagt kopfschüttelnd:

´Ach, diese ehrgeizigen Mädchen. Sie können nicht mit Würde verlieren.´

Vielleicht sollte sich auch der Skilanglauf als `Charakterschule´ verstehen…“

 

 

Im Internet entdeckte ich unter Söhne und Töchter“ der Stadt Petrosawodsk einen Komponisten, einen Mathematiker, eine Turnerin, drei Biathleten und einen Eishockeyspieler – keinen einzigen Boxer.

 

Steinzeitkino auf der „Teufelsnase“ (LESEPROBE aus: "Zwischen Weißem Meer und Baikalsee")

„Das Historisch-Landeskundliche Museum von Petrosawodsk ist wahrhaftig ein interessant und liebevoll eingerichteter Musentempel. Trotzdem überfällt mich Museumsmuffel auch hier bei Paläolithikum, Mesolithikum, Neolithikum… ein nicht zu unterdrückendes Gähnen. Ehe es in den von mir so gefürchteten Gähnkrampf ausarten kann, wird meine Aufmerksamkeit durch den Begriff Onega-Petroglyphen gefesselt.

Petroglyphen ist ein Wort griechischer Herkunft, etwa mit Schnitzwerk in Stein zu übersetzen. Mehr als zweitausend solcher Felszeichnungen hat man bis jetzt in Karelien entdeckt. Die urzeitliche Galerie wurde weltbekannt, nachdem eines der `Bilder´- ein Granitblock mit achtundfünfzig Zeichnungen – nach Leningrad in die Eremitage gebracht worden war. Diese vorgeschichtlichen Bilderschriften auf Stein gehören zu den bemerkenswertesten Sehenswürdigkeiten Kareliens. Man fand sie dreihundertfünfundzwanzig Kilometer voneinander entfernt in den Niederungen des Flusses Wyg, am Ostufer des Onegasees, im Gebiet des Kaps Wyg, am Ostufer des Onegasees sowie im Gebiet Kap Besow Nos (Teufelsnase). Vorrangig sind Waldtiere dargestellt, vor allem Hirsche und Elche. Zu den seltenen Sujets gehören originelle Sterne, Abbildungen von Füßen, Pfeilen, Harpunen. Diese ersten karelischen Zeugnisse künstlerischer Arbeit sind vier- bis sechstausend Jahre alt. Die Forscher wissen das enge Verhältnis der karelischen Steinzeitmenschen zum Tier und zur Arbeit zu rühmen. Und seit kurzem behauptet ein Wissenschaftler, Dr. phil. Lauschkin, etwas schier Unglaubliches: Die sechshundert Abbildungen auf der Landzunge `Teufelsnase´ seien ein Steinzeitkino gewesen!

Bisher hatten sich die Wissenschaftler oft genug gefragt, warum die Urzeitjäger für ihre neolithischen `Bilderrätsel´ eine so ungeeignete Stelle wählten. Gerade die Umstände, die Experten bisher nur als ein ärgerliches Hindernis für ihre Forschungsarbeiten angesehen hatten, geben nach Meinung Dr. Lauschkins die Antwort auf diese Frage. Bei leichtem Wellengang nämlich bewegen sich die Zeichnungen. Und kommt eine ganz bestimmte Beleuchtung hinzu, so ersticht der Jäger, der auf der Zeichnung eben mit der Lanze ausholt, tatsächlich den Wolf; ein Steinbeil, das von einem anderen Jäger geworfen wird, erreicht tatsächlich sein Ziel; eine Schlange beginnt, sich zu winden, als ob sie lebe. Auch ein Jäger begibt sich „zu Schwan“ auf die Reise, Kähne schwimmen, Kraniche fliegen, Eidechsen kriechen, Hunde laufen, Rehe und Elche fliehen…

Dr. Lauschkin erklärt dieses vorsintflutliche Geschehen so:

`Das alles geschieht durch die lichtbrechende Wirkung des Wassers; außerdem spielt bewegtes Wasser die Rolle eines Reflektors. Auf den Felsen vermischen sich so zwei Lichtströme: Der eine kommt unmittelbar von der untergehenden Sonne, der andere wird vom Wasserspiegel des Sees zurückgeworfen. Ein märchenhaftes Spiel von Licht und Schatten erfasst die `Bilder´. Und all das zusammen erzeugt die Illusion der Bewegung.´

Sollte sich die Theorie Dr. Lauschkins bestätigen, so bedeutet dies, dass das Prinzip der ´bewegten Bilder´, auf dem unser Kino beruht, den Menschen schon etwa fünftausend Jahre bekannt ist!

In der Museumsabteilung `Nachrevolutionäres Karelien´ ist es wieder ein Künstler, der mich aufhorchen lässt: Heinrich Vogeler. Ich erinnere mich, Zeichnungen vom ihm gesehen zu haben, in denen sich zarte Prinzessinnen und zerbrechliche Elfen in lyrisch-sentimentalen Gärten ein Stelldichein geben. Und hier nun blicke ich in die lebenstüchtigen Augen karelischer Flößer, Waldarbeiter, Bauherren…

`Wir sind im Besitz von über neunzig Originalzeichnungen Heinrich Vogelers´, sagt die Museumsführerin stolz. `Hätten wir nicht die Zeichnungen und die detaillierten Beschreibungen dieses Deutschen, so wären uns viele Episoden des schweren karelischen Anfangs weniger vertraut.´

Wie kam der Deutsche Heinrich Vogeler nach Karelien?

Vogeler hat seine fast siebzig Lebensjahre außerordentlich ereignisreich gelebt. Geboren wurde er 1872 als Sohn eines vermögenden Eisengroßhändlers in Bremen. Nach wohlbehüteter Kindheit erkämpfte er sich die Einwilligung seiner Eltern, an der Düsseldorfer Malerakademie zu studieren. Studienreisen führten ihn nach Holland, Brüssel, Italien Paris… 1894 ging er nach Worpswede an die dort von Fritz Mackenson, Otto Modersohn, Fritz Overbeck, Hans am Ende – alles lexikonträchtige Namen! – begründete Künstlerakademie. Die Worpsweder Landschaft – Wiesen, Moor, Heide – begeisterte ihn so sehr, dass er dort einen kleinen Bauernhof erwarb. Er nannte ihn `Barkenhoff´. (Birken heißen auf plattdeutsch Barken.) Vogeler arbeitete als Zeichner und Buchillustrator, als Kunsthandwerker und Architekt für Innen und Außenausstattungen; er dichtete (seine Gedichte erschienen 1922 unter Titel `Dir´) und entwarf Möbel, die auf der Brüssler Weltausstellung höchste Anerkennung fanden; er entwarf aber auch zarte Muster für Meißener Porzellan und ging als tüchtiger Landwirt hinter dem Pflug her:

`Zwanzig Jahre hatte ich wohl an einer Heimat gebaut. Und sie bekam Gestalt als innigste Umwelt einer Frau und ihrer Kinder´, schreibt er in seinen `Erinnerungen´. Die geliebte Frau jedoch trennte sich eines anderen Mannes wegen von ihm; mit ihr verlor er auch seine drei Töchter.

Zu einer Zeit, als bürgerliche Journalisten noch dem `Märchenprinzen´ Vogeler huldigten, peinigten ihn schon Zweifel an seinem romantischen Schaffen. In jenen Jahren, um 1907, wurde er mit Büchern Maxim Gorkis bekannt. In seinen `Erinnerungen´ ist zu lesen:  `Erst mit den Werken Gorkis lernte ich die Welt der ausgebeuteten niedergehalten Masse kennen, jene Gefühlswelt, aus deren Spannungen die Kräfte wachsen, die auf eine grundsätzliche Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse drängen… Der Boden der bürgerlichen Ideologie war aufgeackert, umgeworfen, erwartete Saat und Keimung.´

Zur Stunde der Wahrheit wurde für Heinrich Vogeler der erste Weltkrieg. 1914 ging er als `politischer Analphabet´ freiwillig zu den Oldenburger Dragonern. 1918 schrieb er - `kriegsmüde und voll bitterer Wut gegen den Krieg´- an Kaiser Wilhelm II. und an die Oberste Heeresleitung, an Ludendorff.

Was folgte, war seine Einweisung in ein Irrenhaus. Auch das Gefängnis sollte der Bürgersohn Heinrich Vogeler nun von innen kennenlernen.

Wieder in Worpswede, brach Vogeler kompromisslos mit seiner Klasse. Während der Novemberrevolution wurde er, der Künstler, in den Arbeiter- und Soldatenrat gewählt. Seinen `Barkenhoff´ verwandelte er zu jener Zeit in eine (utopische) kommunistische Arbeitskolonie. Als fast Fünfzigjähriger schenkte der den `Barkenhoff´ und all seine Habe – wahre Schätze kunsthandwerklicher Arbeiten, Wand- und Decken füllende Fresken, an denen er jahrelang gemalt hatte – der Internationalen Roten Hilfe; der `Barkenhoff´ wurde nun ein Heim für Kinder politisch verfolgter Eltern.

1923 heiratete Heinrich Vogeler ein zweites Mal: Zofia Marchlewska, die Tochter Julian Marchlewskis, des revolutionären Funktionärs, der polnischen, deutschen und russischen Arbeiterbewegung. Julian Marchlewski war Mitbegründer und bis zu seinem Tode (1925) Vorsitzender der Internationalen Roten Hilfe.

Mit seiner Frau Zofia reiste Heinrich Vogeler das erste Mal 1923 in die Sowjetunion. Der Maler Heinz Dodenhoff aus Worpswede berichtete darüber:

`Meine letzte Erinnerung and den Russlandfahrer ist an den kleinen Bahnhof in Worpswede geknüpft… Da kam der Träumer von einst, nun gehärtet, wie aus Stahl geschmiedet, im einfachen Leinenanzug mit … gepacktem Rucksack auf dem Rücken, auf mich zugeschritten. In seinem Antlitz stand eherne Entschlossenheit, ein unbeugsamer Wille. Seine Gedanken schienen schon jenseits der deutschen Grenze zu weilen, in jenem Lande, das ihm seinen Weg vorausgegangen war… Der große Maler Vogeler zog aus, um ein noch größerer Maler zu werden… Ärmer als der Ärmste… ging er dem größten Reichtum seines Lebens entgegen, der Urheimat seiner Ideen.´

Nach Deutschland zurückgekehrt, sprach und schrieb Vogeler begeistert von der `Geburt des neuen Menschen´. Ein Jahr später reiste er in die nördlichen Gebiete der Sowjetunion, unter anderem nach Karelien. Zofia Marchlewska schreibt über das Jahr 1924 in ihrem Buch `Eine Welle im Meer´:

`Mining (wie sie ihren Mann nennt) hatte zuvor Karelien bereist und war voller Anregungen und Arbeitslust zurückgekehrt. Ich konnte ihn damals nicht begleiten, weil unser Sohn Jan eben zur Welt gekommen war…´

1926 begleitete Zofia Marchlewska ihren Mann in die mittelasiatischen Republiken der Sowjetunion. Vogeler hielt danach in Deutschland Lichtbildervorträge, schrieb Broschüren, malte die `neuen Menschen´.

Je mehr sein politisches Engagement zunahm, desto größer wurden die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Familie. Freudig nahm er 1931 deshalb auch die Einladung an, dem Moskauer Komitee für Standardisierung seine Erfahrungen auf dem Gebiet des ländlichen Bauwesens zur Verfügung zu stellen. Er schuf in Moskau Entwürfe für verschiedenartige landwirtschaftliche Gebäude, für mechanisierte Viehställe, entwarf Kolchos- und Jugendschulen und unterbreitete Vorschläge für Siloanlagen. Nach Auflösung des Komitees für Standardisierung wurde Vogeler 1932 in Taschkent agrarwissenschaftlicher Berater auf einer Experimentalstation für Baumwollkulturen. 1934 bis 1936 bereiste er Karelien im Auftrag des Ethnographischen Museums von Petrosawodsk. Ingrid Pankowitz schreibt in dem Band `Exil in der UdSSR´ über sein Bild eines karelischen Flößers:

`In zahlreichen Studien hat Vogeler immer den arbeitenden Menschen im Land des Sozialismus dargestellt. Eine der markantesten und schönsten zugleich ist die Flößerstudie aus dem Jahre 1936. Beeindruckend ist an ihr die klare verständliche Form in diesem strengen wie gemeißelt erscheinenden Kopf. Schwere des Kampfes und der Lebensumstände sprechen aus den ernst blickenden Augen und dem verschlossenen Mund, um den auch Bitterkeit ist. Aber der Mann bleibt aufrecht und trotzt allen Schwierigkeiten.´

Vogeler erzählt in seinen `Erinnerungen´ in warmherzigen Worten über die Menschen Kareliens, beschreibt ihre Bauernhäuser, ihre Kleidung, ihre Fabriken, ihre unwegsame Landschaft. In einem Brief an seinen Sohn Jan schreib er 1936 auch über die Schwierigkeiten, die mit seiner Arbeit verbunden waren:

`Das Arbeiten auf der Insel ist nicht bequem, da ich keinen eigenen festen Raum habe und lange Strecken meine großen Sachen – Staffelei, großes Bild und Malkasten – schleppen und am Ort alles mit Stricken gegen den Wind verankern muss.´

1937 fertigt Heinrich Vogeler in Odessa Handpuppen für das Theater. Einer Berufung des Moskauer Museums der Völker der UdSSR folgend, reiste er 1939 nach Aserbaidschan und 1940/41 in die Kabardinisch-Balkarische ASSR in den Kaukasus.

1942, zur Zeit der Bedrohung Moskaus durch die Hitlerarmee, wurde er, wie viele andere Emigranten, die damals in Moskau lebten, evakuiert. Fast siebzigjährig starb er im Juni 1942 in Kasachstan, im Haus eines Kolchosbauern. Bis zum letzten Tag schrieb er an seinen `Erinnerungen´, die zu seinem 80 Geburtstag von Erich Weinert in der DDR herausgegeben wurden.

 

 

 

„Der Minnetraum“ - des romantischen Heinrich Vogeler.

 

 

 

„Die Hauptanlage der Papierfabrik in Kondopoga“ – des realistischen Heinrich Vogeler.

Reproduktionen der Zeichnungen aus:  Rellers Völkerschafts-Archiv

 

Die Entwicklung des Malers Heinrich Vogeler vom Bremer Bürgersohn zum proletarisch-revolutionären Künstler, vom enttäuschten Romantiker zum Revolutionär, vom Utopisten zum Marxisten, vom individualistischen Weltverbesserer zum bewussten Mitstreiter der revolutionären Arbeiter – diese Entwicklung wollen bürgerliche Journalisten noch heute nicht wahrhaben. Und so kann man denn in der `Deutschen Zeitung´ (Erscheinungsort: Düsseldorf) vom 23 März 1979 lesen, dass Heinrich Vogeler die Zeit von 1930 (!) bis gegen Ende des Krieges (!) in Russland verbrachte, `wo er freilich bald in Ungnade fiel und schließlich verkam und verhungerte´. Und ein Worpsweder Reiseführer (Druckhaus Schmalfeld, Bremen) weiß zu berichten, dass er `1941 auf dem Marsch in die Verbannung´ starb.“

 

Wer kennt ihn nicht, den Leibnitz-Butterkeks von Bahlsen mit den 52 Zähnen ringsum? Aber wer weiß,dass die Idee zu diesen „Zähnen“ von Heinrich Vogeler stammt? (Bahlsen nannte 1892 seine Kekse nach dem langjährigen hannoverschen Hofbibliothekar und Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz.) Ein besonderes Element der Werbung der Firma Bahlsen bildeten die künstlerischen Reklamemarken, die von Bahlsen in den Jahren 1912 bis 1914 herausgegeben wurden. Es gab insgesamt acht Serien von Künstlermarken, die von verschiedenen Künstlern, u. a. vonHeinrich Vogeler, gestaltet wurden.

 

 

 Als mein Völkerschafts-Beitrag KARELIEN innerhalb der Völkerschaftsserie der FREIEN WELT auf 18 Zeitungsseiten in der Nummer 24/1978 erschien, erhielten wir wie immer viele Leserbriefe. Karoline Dobberke aus Görlitz war eine von 157 Lesern, die mehr wissen wollten über den Maler Heinrich Vogeler. Ich stellte für diese Leser einen Lebenslauf des Jugendstilmalers, der in der Künstlerkolonie Worpswede lebte und 1931 in die Sowjetunion ging, zusammen:

 

 

Auf einen Blick:

 

„Ein seltsamer und außergewöhnlicher Lebensweg…“ Erich Weinert

 

1872 am 12. Dezember in Bremen geboren.

1890-1893 Studium an der Düsseldorfer Kunstakademie.

1894 Übersiedlung nach Worpswede.

1898 Reise nach Florenz. Freundschaft mit Rainer Maria Rilke.

1901-1907 Reisen nach Amsterdam, Paris, Italien, Ceylon, Łódž. Bevorzugt Gorki-Lektüre.

1909 Reise nach England zum Studium moderner Arbeitersiedlungen.

1914 Kriegsfreiwilliger bei den Dragonern.

1915-1917 Militärische Aufträge als Zeichner in Polen, Rumänien und Russland.

1918 Im Januar Brief an den Kaiser, spricht sich gegen den Krieg aus. Mehrwöchige Internierung. Entlassung aus dem Heer. Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrats. Sein Worpsweder Barkenhoff wird Schulungsstätte für Revolutionäre.

1918-1923 Zahlreiche Agitationsschriften und Vorträge.

1919 Mitbegründer der „Gemeinschaft für sozialen Frieden“ und der „Allgemeinen Arbeiter-Union Deutschlands“. Gründung der Arbeitskommune und -schule Barkenhoff. Vorübergehend in Haft.

1920 Beginn der Freskenmalerei auf dem Barkenhoff.

1923 Scheitern der Kommune Barkenhoff. Übergabe des Hofs an die „Rote Hilfe Deutschlands“, deren Vorstand Heinrich Vogeler angehört, als Erholungsheim für Kinder politisch Verfolgter. Mitglied der KPD. Im Juni mit seiner (zweiten) Frau Sonja (Zofia) Marchleswka, der Tochter des polnischen Sozialisten- und Arbeiterführers Julian Marchlewski, Reise in die Sowjetunion.

1925 Vortragsreisen über die Sowjetunion in Deutschland.

1926-1927 Zweite Sowjetunionreise im Auftrag der „Roten Hilfe“. Rückkehr nach Deutschland wegen der Angriffe gegen seine Barkenhoff-Fresken.

1928 Mitbegründer der „Assoziation revolutionärer Bildender Künstler Deutschlands“ (ASSO).

1929-1931 Zeichner in einem Berliner Architekturbüro.

1931 Übersiedlung in die Sowjetunion. Mitarbeit an einem sowjetischen Standardisierungsprogramm der ländlichen Bauwirtschaft. Arbeiten für die „Internationale Rote Hilfe“ und für das Ethnographische Museum in Petrosawodsk, der Hauptstadt der KARELISCHEN ASSR.

1934-1941 Zahlreiche Studienreisen durch die Sowjetunion, nach KARELIEN, Mittelasien, Aserbaidschan. In KARELIEN schuf er u. a. eine große Kollektion von Aquarellen und Zeichnungen aus dem Leben der Holzfäller.

1935 Erste Einzelausstellung in Moskau.

1937-1938 Puppen für Marionettenspiele des Staatlichen Kolchostheaters in Odessa.

1941 Zweite Einzelausstellung in Moskau, von Wilhelm Pieck eröffnet. Im Herbst Evakuierung in die Kaschachische SSR.

1942 Am 14. Juni in Kasachstan gestorben.

 

Nachdem ich viele Bücher von und über Heinrich Vogeler (u. a. Heinrich Vogeler, Erinnerungen, herausgegeben von Erich Weinert; Heinrich Vogeler, Die Geburt des neuen Menschen und einem Nachwort des Sohnes Jan Vogeler, von Vogelers Frau Zofia Marchlewska, Eine Welle im Meer, Erinnerungen an Heinrich Vogeler und Zeitgenossen) gelesen hatte, war ich so fasziniert von seinem Lebensweg vom „Märchenprinzen zum Revolutionär“, dass auch ich beschloss, ein Buch über ihn zu schreiben. 1988 arbeitete ich vier Wochen als Austauschredakteur bei der deutschsprachigen Zeitung „Freundschaft“ in Alma-Ata und nutzte die Gelegenheit, mehr über Heinrich Vogelers Tod zu erfahren. Meine zweiteilige Beitragsfolge erschien am  16. und 17. November 1988 in der Zeitung „Freundschaft“. (Ich veröffentliche sie nun erneut bei dem Volk der Kasachen, wo Vogeler starb.) Ich wies in meiner umfänglichen Reportage nach, dass Heinrich Vogeler in Kasachstan verhungert war! Als ich nach meinem Arbeitsaufenthalt nach Berlin und in meine Redaktion zurückkam, erwartete mich wegen dieses Beitrages eine Menge Ärger, denn Perestroika und Glasnost waren in Berlin noch nicht angekommen… 1989 hatte sich meine russische Freundin Raissa Netschajewa (die im Moskauer Büro der FREIEN WELT arbeitete) darum bemüht, ein Treffen mit dem in Moskau lebenden Sohn Heinrich Vogelers, Jan Vogeler, für mich zu arrangieren. Es kam auch zu einem Telefonat, aber an einem Treffen mit einer DDR-Journalistin war Jan Vogeler nicht interessiert! 1988 konnte ich den Berliner Verlag „Neues Leben“ von meinem Buch-Vorhaben überzeugen und nach einigen Vorstößen endlich gelang es dem Verlag 1989, für mich eine Reise ins westliche Worpswede genehmigt zu bekommen. Ich kam gerade rechtzeitig zurück, um am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz an der Großen Demonstration teilzunehmen.

Doch mein Buchprojekt starb 1991 - wieder einmal wendegeschuldet.

 

… und es ward Licht (LESEPROBE aus: "Zwischen Weißem Meer und Baikalsee")

 

„Im Herbst 1920 kam der englische Schriftsteller Herbert George Wells (1866 bis 1946) nach Moskau. Er unternahm eine Reise ins Land und sah überall Hunger, Armut, zerstörte Häuser, stillgelegte Fabriken und mit Unkraut überwucherte Eisenbahnschwellen. Russland erschien ihm wie `ein sinkendes Schiff´. Wells glaubte, dass sich vor seinen Augen nicht nur der Untergang eines großen europäischen Staates abspielte, sondern der Untergang der gesamten menschlichen Zivilisation. Aufgewühlt und verzweifelt saß er im Kreml Lenin gegenüber. Da traute er seinen Ohren nicht. Er hörte von Elektrifizierungsplänen solchen Ausmaßes, dass seine Phantasie nicht ausreichte, an die Verwirklichung dieser Pläne zu glauben, er hielt sie  für eine „Utopie der Elektriker“. Obwohl er doch gerade seine Phantasie schon in zahlreichen utopischen Romanen unter Beweis gestellt hatte. Über sein Gespräch mit Lenin schrieb er später, dass man sich die Elektrifizierung Russlands, wie sie sich Lenin denke, `nur mit Hilfe von Hyperphantasie´ vorstellen könne. `In welchen Zauberspiegel ich auch blickte, ich konnte dieses Russland der Zukunft nicht erblicken.´

Lenin war ihm sympathisch und er fand ihn liebenswert, er bewunderte seine Glut, seinen revolutionären Optimismus. Doch er glaubte ihm nicht. Den `Träumer im Kreml´ nannte er ihn in seinem Buch `Nacht über Russland´, in dem er gegen die Oktoberrevolution Stellung nahm.

Die Elektrifizierungspläne, die Lenin da vor Wells enthüllte, wurden noch im selben Jahr zum Gesetz erhoben – zum GOELRO-Plan. (Diese Abkürzung ergibt sich aus `Gossudarswennaja Kommissija po elektrifikazii Rossii´, das heißt Staatliche Kommission zur Elektrifizierung Russlands). Der auf Initiative und unter Leitung Lenins ausgearbeitete Plan zur Elektrifizierung Russlands stellte die grandiose Aufgabe, das feste ökonomische Fundament der sozialistischen Gesellschaft zu schaffen und Russland aus einem Agrarland in ein Industrieland umzuwandeln. Der GOELRO-Plan bestand aus zwei Teilen. Der erste sah die rationelle Ausnutzung, Ausweitung und Rekonstruktion der vorhandenen  fünfundfünfzig Elektrizitätswerke vor,  der  zweite Teil den Bau von dreißig neuen mit einer Gesamtkapazität von 1 750 000 Kilowatt Elektroenergie. Die Erfüllung dieses Elektrifizierungsplanes – der Licht in jedes Haus bringen und eine Schwerindustrie ermöglichen sollte – war auf zehn bis fünfzehn Jahre berechnet.

Zur Realisierung des kühnen Projekts war das ganze Land in acht Wirtschaftsgebiete aufgeteilt worden: Norden, zentrales Industriegebiet, Wolgagebiet, Ural, Westsibirien, Ostsibirien, Kaukasus, Turkestan. Besondere Aufmerksamkeit wurde der Elektrifizierung der Grenzgebiete des ehemaligen Zarenreichs gewidmet, um die nationale Ungleichheit in allen Zweigen der Wirtschaft und des kulturellen Lebens zu beseitigen.

Die geplanten dreißig großen Elektrifizierungswerke – das waren zwanzig Wärme- und zehn Wasserkraftwerke. Ein Wasserkraftwerk des GOELRO-Planes war in Kondopoga an der Suna vorgesehen. Wenn Karelier Kondopoga meinten, dann sprachen sie stets nur vom abgelegenen `Bärenwinkel´.

Im Sommer 1923 kam Lärm in die Abgeschiedenheit: Die Sprengungen an der Kanaltrasse dröhnten durchs Land. Einige Wochen später machte an der Anlegestelle ein Motorboot fest, an dessen Bordwand die Aufschrift `Kondostroi´ zu lesen war. Dieses Wort wurde für viele Jahre Symbol der sozialistischen Umgestaltung Kareliens. Von überall her reisten Fachleute an, die Gouvernements Tscherepowez, Kaluga und Twer schickten Maurer, aus Wladimir kamen Maler; die Bauern Kareliens griffen zu den Spaten.

Sechs schwere Jahre später war es geschafft. Am 13. Januar 1929 trugen Demonstranten ein rotes Transparent durch Kondopoga. Die Aufschrift lautete:

`Lieber Wladimir Iljitsch! Die Bauleute von Kondopoga haben dein Vermächtnis erfüllt – das Wasserkraftwerk ist erbaut!´

Bis zum Jahre 1935 (von der Elektrifizierungskommission als Jahr der Vollendung des GOELRO-Plans vorgesehen) war das ursprüngliche Ziel bedeutend übererfüllt. Nicht dreißig neue Elektrizitätswerke lieferten Strom, sondern vierzig!

Herbert George Wells schrieb ein Jahr vor seinem Tode (1946) sein letztes Buch. Es trägt den resignierenden Titel: `Der Geist am Ende seiner Möglichkeiten´…

Doch zurück zum Jahre 1923. Fünf Monate nach der Fertigstellung des Wasserkraftwerkes in Karelien lief die erste Papiermaschine. Auch den Aufbau dieses Zellstoff- und Zellulosewerkes verewigte Heinrich Vogeler mit dem Zeichenstift. Wir erinnern uns der detailgetreuen Kohlezeichnungen, als wir das ausgedehnte Werksgelände betreten. Viktor Cholopow, der Direktor des Kondopoger Papierkombinats, wird durch die Erwähnung des Namens Vogeler an die Vergangenheit erinnert. Der große, schlohweiße Siebzigjährige erzählt:

`Nichts von dem blieb, was die hungernden, frierenden Menschen wenige Jahre nach der Revolution mit so übermenschlicher Anstrengung geschaffen hatten. Kondopoga ging im Krieg buchstäblich in Flammen auf… Nach dem Krieg wurde Kondopoga Schwerpunktbaustelle des Komsomol. Die Jugend des ganzes Sowjetlandes baute die erste Industriestadt Kareliens wieder auf.´

Die Papierfabrik in Kondopoga ist heute eine der größten der Sowjetunion, für Zeitungspapier die größte überhaupt. Dreiunddreißig Prozent des gesamten sowjetischen Zeitungspapiers kommen aus dem ehemaligen `Bärenwinkel´.

Nicht nur dreihundert sowjetische Zeitungen werden auf Papier aus Kondopoga gedruckt, sondern darüber hinaus auch Zeitungen in Kuba, Brasilien, Frankreich, Kolumbien, Vietnam, Afrika, Indien, Afghanistan, Jemen, Spanien, England… Lasen Sie heute schon das `Neue Deutschland´? Wenn ja, dann hatten auch Sie Papier aus Kondopoga in Händen.

Die Maschinenausrüstung für das Papier- und Zellulosewerk kommt aus Petrosawodsk. In der ganzen Sowjetunion gibt es kein Zellulosewerk, das nicht Ausrüstungen aus jenem Werk (9 000 Belegschaftsangehörige) bezieht.

`Petrosawodskmasch´ ist ein relativ junger Maschinenbaubetrieb, nicht nur was seine Gründung (1960) anbelangt, sondern auch seine Belegschaft betreffend: Das Durchschnittsalter seiner neuntausend Betriebsangehörigen beträgt dreißig Jahre. `Bei uns´, sagt der Brigadier Nestjerow, `ist immer etwas los. Unser Werk verfügt nämlich über eine Komsomolorganisation – mit mehr als dreitausend Mitgliedern. Wir haben eine betriebseigene Berufsschule, vier Pionierlager, ein Sportstadion, ein Kulturhaus (für tausend Personen), ein Ski-Erholungslager; und unsere Komsomolzen sind wirklich überall vorbildlich. Nicht nur beim Wandern und Tanzbeinschwingen – auch in der Neuererbewegung.´

In Petrosawodsk gibt es gegenwärtig siebenundvierzig Industriebetriebe, in ganz Karelien etwa zweihundert. Was vor der Revolution im Laufe eines ganzen Jahres produziert wurde, stellt man heute in weniger als einer Woche her.

Auf der Rückfahrt von Kondopogo sind wir auf freier Strecke mit Professor Wladimir Jermakow, dem Direktor des Forstwirtschaftsinstituts der Karelischen Filiale der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, verabredet. Wir sollen die Karelische Birke mit eigenen Augen sehen, mit eigenen Händen berühren dürfen.

In alten Zeiten suchte man sie wie Halbedelsteine; man nannte sie `Zarenbirke´, `Lilienbaum´, `Flammenbaum´. Ausländische Kaufleute priesen sie als `Holzmarmor´, in Lappland dienten kleine Stückchen dieses Holzes als Geldmünzen. Heute erhält man auf dem Weltmarkt für ein Kilogramm ihres schön gemaserten Holzes etwa fünfundzwanzig Goldrubel.

Leider sind nur neun Prozent des Waldbestandes Karelische Birken. Heerscharen von Wissenschaftlern bemühen sich deshalb um ihre künstliche Fortpflanzung. Doch jahrzehntelange Forschungsarbeit blieb bis heute nahezu erfolglos. Zu Forschungszecken säte Nikolai Sokolow 1934 Samen von Karelischen Birken aus. Professor Jermakow lädt uns mit so großartiger Geste in jenes umzäunte Birkenreich, als würden wir ins Paradies eingelassen. Ehrfurchtsvoll spaziert er mit uns durch das winzige Wäldchen. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, als habe er insgeheim für jede Weißstämmige einen Kosenamen.

`Leider´, bedauert Professor Jermakow, `weist nur die Hälft der Birken die Merkmale der Karelischen auf. Die Karelische Birke hat ihr Geheimnis noch immer nicht preisgegeben. Die einen Wissenschaftler meinen, ihre Abartigkeiten seien auf eine Viruskrankheit zurückzuführen, die anderen glauben, hier zeige sich eine Adaption an die rauen Verhältnisse des Nordens. Nun schauen Sie sich diese hier an. Erst im sechzehnten Lebensjahr entschloss sie sich, etwas Besonderes zu werden. Erst da nämlich bildeten sich an ihrem Baumstamm die charakteristischen schwarzen Rillen und Auswüchse.´

Die braun-gelbe Maserung der Karelischen Birke, die bei Möbeln und Souvenirs so beliebt ist, versteckt sich in eben diesen Wülsten.

Nachdem wir nahezu jede wulstig Verunstaltete vom Wipfel bis zur Wurzel in Augenschein genommen haben, habe ich nur noch Auge und Ohr für Professor Jermakow. Er ist Ende Vierzig, von wuchtiger Statur, redegewaltig, begeisterungsfähig, von ungeheurer Ausstrahlungskraft. Von der Hege und Pflege der Birken, Kiefern und Zirbelkiefern spricht er so voller Hingabe und Wärme – da möchte man fast selbst ein Baum sein.

Zu seinem Forstwirtschaftsinstitut gehört auch eine Biostation. Mitten im dichten Wald kontrollieren Wissenschaftler von März bis Oktober mit elektronischen Datengebern alle Lebensprozesse von Birken und Kiefern. Dieses sturmgepeitschte Laboratorium ist einmalig in der Welt. Im Innenraum, wo die Auswertung der Daten erfolgt, sieht es wie in einem Raumschiff aus. Lew Konstantin Keibijainen, Aspirant der Akademie, weist auf die vielen Knöpfe und sagt:

`Das Wissen um die Lebensprozesse der Bäume ermöglicht es, optimale Bedingungen für die jeweilige Baumart zu ermitteln. Die unablässigen Forschungen lassen uns die Geheimnisse des Entwicklungsrhythmus eindringen. Nur sie erlauben uns eine sinnvolle Einmischung in den Wachstumsprozess.´

Noch heute gelangt man in die dichten karelischen Wälder nur mit Hubschraubern. `Und doch´, so Professor Jermakow, `haben wir beschlossen, den Holzeinschlag zu reduzieren. Allerdings ohne eine Reduzierung der Produktion. Wie das möglich ist? Nun, noch vor wenigen Jahren wurden nur etwa sechzig Prozent des Baumes genutzt. Heute nahezu fünfundneunzig Prozent. Hobelspäne zum Beispiel verwenden wir – zu Ballen gepresst – in der Pelztierzucht; das Sägemehl geht in die chemische Industrie; aus den Stubben wird Harz gewonnen; minderwertige, dünnstämmige und abgestorbene Hölzer ergeben durch neue Technologien relativ hochwertiges Papier; auf den Holzeinschlägen gib es Einrichtungen für die Produktion von Nadelvitamingrün zur Verwendung als Futter bei der Viehzucht. Auch für die restlichen fünf Prozent des Baumes wird uns eines Tages noch ein Verwendungszweck einfallen. Je höher die Kultur eines Landes ist, desto sorgfältiger hüten seine Menschen die Naturschätze. Bei der Aufforstung steht Karelien an erster Stelle in der Sowjetunion.´

Apropos Holz: Nach alter nördlicher Sitte vergeht kein Karelienaufenthalt ohne Schwitzbad in holzgetäfelter finnischer Sauna. Begrüßt man dich mit `S ljochim parom´, so antworte genauso. Dieser Schwitzbadgruß wünscht dir angenehme Dämpfe.

 

Wer hatte sich das zu Sowjetzeiten vorstellen können? Am 30. August 2006 lieferten sich in Kondopoga Tschetschenen mit Gästen des Restaurants „Tschaika“ („Möwe“) eine heftige Schlägerei, in deren Verlauf zwei Einheimische ums Leben kamen. Der Tod der beiden karelischen Bürger löste in Kondopoga Massenunruhen aus, die sich in Pogrome gegen Geschäfte und Kioske von Kaukasiern auswuchsen. Die etwa sechzig Personen zählende tschetschenische Gemeinde verließ fluchtartig die Stadt.

 

Nach-Karelisches (LESEPROBE aus: "Zwischen Weißem Meer und Baikalsee")

 

„Karelien hat eine jahrhundertealte Klagelied-Tradition. Kein Mädchen wurde verheiratet, kein Rekrut eingezogen, kein Verwandter oder Freund zu Grabe getragen, ohne dass tiefschwarz gekleidete Klageweiber in Aktion traten. Klageweib konnte nur sein, wer außergewöhnliches sprachliches und sängerisches Talent besaß. Die Klagelieder der Karelierin Irina Andrejewna Fedossowa begeisterten gleichermaßen Gorki, den Schriftsteller, wie Fjodor Schaljapin, den neben Caruso berühmtesten Sänger seiner Zeit. Der russische Dichter Nikolai Nekrassow verwandte ihre Gesänge sogar für sein Poem `Wer lebt glücklich in Russland?´

1976 erschien die erste Sammlung karelischer Klagelieder, eine weit über Kareliens Grenzen hinaus anerkannte wissenschaftliche Publikation der Karelischen Akademie der Wissenschaften der UdSSR.

Obwohl die Klagelieder allerorten unantastbar waren, fand ich das karelische Märchen Der Bär als Klageweib neuerlicher Beweis für die Verwegenheit des Volkswitzes:

 

*

Es waren einmal ein Mann und eine Frau. Eines Tages starb dem Alten die Frau. Denkt der Alte: Was nun zuerst – das Grab graben, den Popen holen oder ein Klageweib suchen. Geh ich erst einmal nach einem Klageweib! Und macht sich auf den Weg.

Wie er so geht, kommt ihm ein Hase entgegen. Fragt der Hase: `Wohin des Wegs?´ - `Ein Klageweib suchen.´ - Sagt der Hase: `Nimm mich!`- `Kannst du auch richtig klagen?´ fragt der Bauer. - `Ja, freilich.´ -`Na, versuch´s mal!´ - Und der Hase: `Lu-lu lu-lu-lu…´ - `Nein, das ist nichts, scher dich fort.´

Geht der Alte weiter, kommt ihm ein Fuchs entgegen. `Wohin des Wegs, Bäuerlein?´- `Ein Klageweib suchen.´- `Nimm mich!´ - `Kannst du denn klagen?´ - `Aber gewiss doch!´ - `Versuch´s mal!´- Hebt der Fuchs an zu klagen: `Ruj-raj, rij-raj, rij-raj…`- ´Das taugt nichts, geh deines Wegs!´

Geht der Alte weiter, kommt ihm ein Bär entgegen. `Wohin gehst du?´- `Ein Klageweib suchen.´- `Nimm mich!´- `Ja, kannst du´s denn?´- Da beginnt die Bärin zu klagen: `Ach du armer, armer Alter, deine Alte ist gestorben, wer wird dir jetzt Kuchen backen, wer wird ihn mit Butter schmieren, wer wird jetzt ein Hemd dir nähen?´- `Komm mit. Du kannst es wirklich!´ sagt der Alte.

Bringt er die Bärin ins Haus, die Alte zu beklagen, selbst aber fährt er nach dem Popen. Während er fort ist, verschling die hinterhältige Bärin die Alte.

Wie der Alte mit dem Popen kommt, ist keine Alte mehr da. Da nun endlich beschließt der Mann, seine Frau selbst zu beklagen.

 Aus dem Russischen übersetzt von Johann Warkentin

*

Die Märchen-Bärin allerdings kennt sich recht oberflächlich mit den Gesetzen der karelischen Klagelieder aus, sonst würde sie nicht so ungezwungen von der verstorbenen Alten sprechen. Ein Toter ist nämlich in den Klageliedern tabu. Das Tabu, ein – meist religiös begründetes – Verbot vieler Völker, das den Kontakt mit Lebewesen und Gegenständen, die Ausführung bestimmter Handlungen oder das Aufsuchen bestimmter Orte untersagt, bezieht sich bei einigen Völkern auch auf die Verwendung bestimmter Worte.

In den karelischen Klageliedern sind die Bezeichnungen der nächsten Angehörigen solche Tabuworte. Sie werden stets metaphorisch umschrieben. Für Mutter findet sich zum Beispiel `tuuvehilla ilmoila siätäjä tuuvittajaiseni´, das heißt etwa: `meine ans glorreiche Licht mich gebracht Habende´; die Tochter wird als Eisentchen, Schilfchen, Samenkörnchen, Sprösschen, Püppchen, Vögelchen, Flügelchen, Leberchen… bezeichnet. Nach dem ungeschriebenen, doch strengen Gesetz des Klagegesanges wagte es die Klagsängerin auch nicht, den Gatten, den Sohn, den Bruder, die Nichte, die Braut, den Bräutigam eben so zu benennen. Auch von sich selbst durfte sie nicht als von der Gattin, der Schwester, der Mutter sprechen. Dieses Verbot sollte die Mitglieder der Sippe und sie selbst vor den weiteren Einwirkungen jener Kräfte bewahren, die schon durch den Tod des zu Beklagenden ihre Macht gezeigt hatten.

Aber auch `Ich´, `Jungmädchenfreiheit´, `Hochzeitsmorgen´ und sogar `Tee´ sind in den karelischen Klageliedern Tabuworte.

Da wir in Karelien auf Schritt und Tritt zu hören kriegen: `Ach, wären Sie doch im Sommer gekommen´, werden wir geradezu allergisch gegen tiefgrüne Wälder, blaue Seen, rauschende Wasserfälle, rieselnde Flüsschen, Wiesenblumen und Vogelgezwitscher. Deshalb machen wir uns die altkarelische Überlieferung zunutze, indem wir ein neues Tabuwort kreieren: das Wort `Sommer´.

Auf dem Bahnhof von Petrosawodsk, als sich unser Zug Richtung Moskau gerade in Bewegung setzt, ruft denn also der Karelische Journalistenverband in Gestalt von Gennadi Wassiljewitsch Sorokin – unsere Tabuvereinbarung auch in letzter Minute noch respektierend: `Auf Wiedersehen am Dienstag!´

Wir kommen!!! – zum Beispiel um den Wasserfall „Kiwatsch“ in sommerlicher Aktion zu erleben.

 

Der Wasserfall Kiwatsch“ ist ein mächtiger zweistufiger Wasserfall. Er ist der zweithöchste Wasserfall Europas – nur der Rheinfall ist höher. Der größte russische

Dichter vor Alexander Puschkin, Gawriil Dershawin, schrieb, dass einem der „Kiwatsch“ „einen angenehmen Schrecken einflösst“. Der berühmteste Besucher des Wasserfalls war Alexander II. Vor seinem Besuch wurde für ihn ein befestigter Weg zum „Kiwatsch“ angelegt und eine Brücke über die Suna gebaut.

Elias Lönnrot, der finnische Schriftsteller, Philologe und  Arzt hat auch Rätsel gesammelt. Interessant für die Wissenschaft der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war der Gedanke Lönnrots über die Verwandtschaft der karelofinnischen und der russischen Rätsel. Die karelofinnischen Märchen, schreibt er, seien den russischen Rätseln näher als den schwedischen. Hier 25 karelische Rätsel, von denen nur einige in der FREIEN WELT veröffentlicht wurden.

(Bisher Unveröffentlicht)

 Lässt sich weder versenken, noch verbrennen, noch begraben. (der Name)

Zwei Schwestern und sehen einander nicht. (die Augen)

Eine Insel mit fünf Halbinseln… (die Hand)

Zehn Brüder schleppen die ganze Last… (die Zehen)

Was ist das Flinkste auf der Welt? (der Gedanke)

Kielober voll, kielunter leer… (der Hut)

Männlein in der Erde, Haare im Wind. (die Runkelrübe)

Rund, aber kein Mond, grün, aber keine Kiefer (die Rübe)

Hundert Tücher hat die Alte, wer sie anrührt der muss weinen. (die Zwiebel)

Siebzig Kleider ohne Knopf und Häkchen. (der Kohlkopf)

Füße in der Erde, Kopf in der Luft, Rumpf im Wasser (das Schilfrohr)

Isst nicht und ist rund, wäscht sich nicht und ist rein. (die Torfbeere)

Zwei Schwestern schauen einander an und können sich nicht treffen. (die Dielen und die Decke)

Geht hin und zurück, wird nie müde… (die Tür)

Geht hoch, hat weder Händ noch Füß… (der Sauerteig)

Er geht in den Wald und schaut nach Hause, er geht nach Hause und schaut in den Wald.

(Axt auf dem Rücken eines Mannes hinterm Gürtel)

Im Wasser steht´s, auf der Erde fällt´s. (das Fischernetz)

Das Haus wird fortgefahren, die Fenster bleiben da. (Fischfang unterm Eis)

Am Stock ein Draht, am Draht der Tod. (die Angel)

Zwei Geschwister, im Sommer schöner als im Winter. (die Sonne und der Mond)

Der Vater, kaum geboren, treibt sich der Sohn schon draußen herum.

(Das Feuer und der Rauch)

Ohne Nadel zugenäht, ohne Messer aufgetrennt. (das Eis)

Brummt wie ein Pfaff, glänzt wie ein Knopf, ist weder dies noch das. (ein Käfer)

Ein Zuber auf acht Beinen. (eine Kirche*)

 

 * Im Norden wurden die Kirchen achteckig gebaut.

 

Interlinearübersetzung aus dem Russischen von Johann Warkentin; in Rätselform gebracht

von Gisela Reller

 

 

"Gemeinhin werden die Karelier als fröhliche, gesellige Menschen beschrieben. Sie sind unbeschwert und optimistisch. Nachgesagt wird ihnen Toleranz und Leidenschaftlichkeit."

Ilkka Malmberg/Tapio Vanhatalo

 

 

Rezensionen und Literaturhinweise (Auswahl) zu den KARELIEN, zum ´Kalevala´-Epos und zu Heinrich Vogeler":

 

 

Rezension in meiner Webseite www.reller-rezensionen.de

 

* KATEGORIE REISELITERATUR/BILDBÄNDE: Edeltraud Maier-Lutz, Flußkreuzfahrten in Rußland, Unterweg auf Wolga, Don, Jenissej und Lena, Trescher-Reihe Reisen, herausgegeben von Sabine Fach und Bernd Schwenkros, mit zahlreichen Schwarz-Weiß-Aufnahmen, Trescher Verlag, 4. Auflage, Berlin 2002.

"Eine der im Buch beschriebenen Schiffsrouten führt von St. Petersburg durch das waldreiche Karelien nach Moskau, von dort über die Oka und Volga nach Jaroslavl´und Nishnij Novgorod bis nach Astrachan am Kaspischen Meer und Rostov am Don."

In: www.reller-rezensionen.de

 

Literaturhinweise (Auswahl)

 

 * Die Geschichte von Kullerwo, Sechs Lieder aus dem „Kalewala, Insel-Bücherei Nr. 695, übertragen und herausgegeben von Gisbert Jänicke, Insel-Verlag, Leipzig 1985.

Dieser Liederzyklus „Kalewala“ („Kalevala“) ist so alt wie die Edda. „Ihre Themen“, schreibt Gisbert Jänicke in seinem Nachwort, sind manchmal ähnlich, meist jedoch friedlicherer Natur.“ Der Held ist Väinämöinen, der Schöpfer des Gesangs und des Zupfinstruments Kantele, der oft und gerne mit Apoll, dem Musengott der Griechen, verglichen wird.

 

* Kalevala, Das Nationalepos der Finnen, Aus dem Finnischen, nach der deutschen Übertragung von Anton Schiefner und Martin Buber, neubearbeitet von Wolfgang Steinitz, Mit einem Nachwort von Richard Semrau, Verlag PhlippReclam jun., Leipzig 1984

Die Volksdichtung lebte vom sprachlichen Reichtum der Dialekte. Mit der Übertragung in die Schriftsprache wurde den Liedern gewiss einiges Wesensfremde hinzugefügt. Eine Übertragung dieser Dichtung in eine Fremdsprache kann einem als ein fragwürdiges Unternehmen erscheinen. Doch die Verse der Volksdichtung und so auch des „Kalevala“ enthalten so viel an poetischer Schönheit, dass auch eine Übersetzung und zumal eine gute Übersetzung durchaus eine Vorstellung davon vermitteln kann. „Von dieser Ansicht“, schreibt Richard Semrau in seinem Nachwort, „ließ sich W. Steinitz, der bekannte Finnougrist,  bei seiner Übertragung des ´Kalevala´ leiten“ und bezeichnet ihn als einen der profiliertesten Übersetzer des Kalevala-Epos.

 

* SAMPO und KULLERVO, aus dem Kalevala, mit einer Vorbemerkung von Peter Krüger, Illustrationen von Osmo Niemi, Hinstorff Verlag, Rostock 1985,

Lönnrot unternahm ab 1828, um die jahrhundertealten Runen schriftlich festzuhalten, ausgedehnte Sammlungs- und Studienreisen im eigenen Lande und über dessen Grenzen hinaus, insbesondere ins russische Karelien, das sich nach intensiver Forschung als das ergiebigste und ursprünglichste Verbreitungsgebiet der Volksdichtung erwies.

 

* Klaus Bednarz, „Das Kreuz des Nordens“, Reise durch Karelien, mit Bildern von Gabi Mühlenbrock, Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2007.

In seiner Reisereportage durch Karelien bereist Klaus Bednarz das Grenzland zwischen Finnland und Russland, das eine der faszinierendsten Regionen Europas ist. Bednarz präsentiert Karelien zu den verschiedenen Jahreszeiten. Neben der grandiosen Natur Kareliens, den einzigartigen Zeugnissen der Kultur und der Geschichte des Landes zeigt der langjährige WDR-Journalist vor allem die Schicksale der Menschen, die heute auch im Winter in dieser unwirtlichen Region zu überleben versuchen – bei den Unbilden des Klimas, der Kälte, des Schnees, der Dunkelheit…

 

* Nikolai, Plotnikow, Flucht in die Wildnis, Aus dem Russischen von Hans-Joachim Lambrecht, Verlag Volk und Welt, Berlin 1986.

In dieser Erzählung brechen zwei Männer zu einer abenteuerlichen Faltbootfahrt nach Karelien auf. Sie sehnen sich nach einer Natur, wo keine Menschenseele ist. Doch nicht jeder kommt mit der Einsamkeit zurecht…

 

* Michail Prischwin, Der versunkene Weg, Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin 1960.

Am Wygsee, inmitten der wald- und wildreichen karelischen Landschaft, lebt der Junge Sujok mit seinen Großeltern. Er lebt hier in einer Welt der Märchen und Legenden, denn seit Peter I. durch den dichten Wald den „Zarenweg“ schlagen ließ, hat sich in dem von Altgläubigen bewohnten Gebiet kaum etwas verändert. Doch eines Tages kommen neue Menschen…

"Eine `Wyg-Gegend´ gibt es in der Geographie nicht. Sie ist in der allgemeinen Bezeichnung `Pomorje´ inbegriffen. Jedoch ist sie in jeder Hinsicht eigentümlich und verdient es, gesondert bezeichnet zu werden. Sie nimmt den ganzen Raum ein, der durch die Ufer des Wygsees, den von Südwesten in diesen einfallenden Oberen (südlichen) Wyg  und den am Nordende des Sees austretenden Unteren (nördlichen) Wyg begrenzt wird."

* Nordwald-Legende, Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin 1961.

* Michail Prischwin, Im ungestörten Reich der Vögel, Skizzen aus der Wyg-Gegend,  Leipzig 1985.

 

*Michail Prischwin, Im Land der ungestörten Vögel, Skizzen aus der Wyg-Gegend, Übersetzt und herausgegeben von Rainer Schwarz, Mit 17 Aquarellen von Konstantin Sokolow, Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main/Olten/Wien 1985.

Michail Prischwin (1873 bis 1954) wurde auf seiner Karelienreise, als deren Ergebnis dieses Buch 1906 entstand, mit Jägern, Fischern, Holzflößern, Zauberer, Klageweibern, Altgläubigen, Runensängern bekannt. Prischwin malt das Bild eines urtümlichen Karelien in der Zeit, da das Land noch nicht durch den Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals und der Eisenbahnlinie nach Murmansk erschlossen war und seine Bewohner "ein Leben fast wie in der Urzeit" führten.

 

 

Konstantin Sokolow (geb. 1945) hat mehrfach an Exkursionen nach Karelien teilgenommen, die ihn auch in völlig abgelegene, schwer zugängliche Gegenden führten.

Reproduktion der Zeichnung aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

* Juri Alexandrowitsch Sawwatejew, Karelische Feldsbilder, Aus dem Russischen von Alexander Häusler, VEB Seemann Verlag, Leipzig 1984.

Dieses Buch führt durch die Felsbilderwelt Kareliens – ans Ostufer des Onega-Sees sowie an die Südwestküste des Weißen Meeres. 325 Kilometer Luftlinie sind diese beiden Fundstätten von einander entfernt, deren reiches Arsenal an Karelischen Petroglyphen wie keine andere Denkmälergruppe Aufschluss über die Vorstellungswelt der fernen Vorfahren gibt. – Der Begriff „Petroglyphen“ in der Bedeutung von Steinritzzeichnungen stammt aus dem Griechischen. Die Patroglyphen Kareliens sind allerdings nicht eingeritzt, sondern flach gesetzte punktförmige Schläge über die gesamte Fläche der Figuren, in selteneren Fällen nur entlang der Konturlinie, in den Fels „gepickt“.

 

* Boris Wassiljew, Im Morgengrauen ist es noch still, Verlag der Nation, Berlin 1977.

Diese Novelle spielt im Krieg 1942 an der karelischen Eisenbahnausweichstelle 171 (Kirow-Bahn) als sich fünf Flakartilleristinnen mit ihrem Stabsfeldwebel Waskow durch das Moor und dichten Wald kämpfen, um schwerbewaffnete faschistische Soldaten zu stellen.

 

* Alexander Wischnewski, Tagebuch eines Feldchirurgen, Ins Deutsche übertragen von Ilse und Dimitri Surmeli, Militärverlag, Berlin 1978.

Das Tagebuch ist das Erinnerungswerk eines bedeutenden sowjetischen Chirurgen, der als Arzt auch am Finnisch-Russischen Krieg teilgenommen hat.

 

* Heinrich Vogeler, Malerei, Zeichnungen, Druckgraphik, Buchgestaltung, Ausstellungskatalog, Kunstsammlungen zu Weimar 1976. 

 

* Worpswede – Moskau, Das Werk von Heinrich Vogeler, Katalog zur Ausstellung 1989 in Worpswede.

Ein sehr informativer Katalog in Text, Bild und Werk aus allen Stationen seines Lebens, auch mit zahlreichen Porträts namhafter Persönlichkeiten und unbekannter Personen, aber auch die seiner beiden Ehefrauen.

* Heinrich Vogelers Reiseskizzen-Album, Usbekistan, Kaukasus, Krelien, Aschrbaidshan – der Sammlung Bernhard Kaufmann, Stade, Verlag Atelier im Bauhaus, Fischerhude 1991. 

* Heinrich Vogeler, Werke seiner letzten Jahre (in der Sowjetunion bei verschiedenen Völkern), Sektion Bildende Kunst der Deutschen Akademie der Künste.

* Heinrich Vogeler, Reisebilder aus der Sowjetunion 1923 -1940, Herausgegeben von Peter Elze, Worpsweder Verlag 1988.

* Werner Hohmann, Heinrich Vogeler in der Sowjetunion 1931–1942, Daten, Fakten Dokumente, Galerie Verlag, Fischerhude 1987.

* Ilse Kleberger, Der eine und der andere Traum, Die Lebensgeschichte des Heinrich Vogeler, Beltz Verlag, Weinheim und Basel 1991.

* Zofia Marchlewska, Eine Welle im Meer, Erinnerungen an Heinrich Vogeler und Zeitgenossen, Buchverlag Der Morgen, Berlin 1968.

* Frank Westermann, Ingenieure der Seele, Ch. Links Verlag, Berlin 2003.

* Mariusz Wilk, Schwarzes Eis, Mein Rußland, Aus dem Polnischen von Martin Pollak, Paul Zsolnay Verlag, Wien, 2003.

Wilk lebt seit 1993 auf den Solowezki-Inseln in Nordkarelien. Das sind sechs kleine und Dutzende winzige Inseln, deren Klosteranlagen einst zu den prächtigsten Russlands zählten und die nach der sowjetischen Machtübernahme wie geschaffen waren für einen Verbannungsort. Hier wurde das SLON-Lagersystem entwickelt, ein Vorläufer des GUlag. Wilk erzählt in "Schwarzes Eis" von der russischen Geschichte und der postsowjetischen Gegenwart.

 

* Wostok Spezial Karelien 1/2006.

Dieses Sonderheft über die Republik Karelien berichtet über alle Lebensbereiche des karelischen Volkes in Vergangenheit und Gegenwart.

 

 

 

 

Bibliographie zu Gisela Reller

 

Bücher als Autorin:

 

Länderbücher:

 

* Zwischen Weißem Meer und Baikalsee, Bei den Burjaten, Adygen und Kareliern,  Verlag Neues Leben, Berlin 1981, mit Fotos von Heinz Krüger und Zeichnungen von Karl-Heinz Döhring.

 

* Diesseits und jenseits des Polarkreises, bei den Südosseten, Karakalpaken, Tschuktschen und asiatischen Eskimos, Verlag Neues Leben, Berlin 1985, mit Fotos von Heinz Krüger und Detlev Steinberg und Zeichnungen von Karl-Heinz Döhring.

 

* Von der Wolga bis zum Pazifik, bei Tuwinern, Kalmyken, Niwchen und Oroken, Verlag der Nation, Berlin 1990, 236 Seiten mit Fotos von Detlev Steinberg und Zeichnungen von Karl-Heinz Döhring.

 

Biographie:

 

* Pater Maksimylian Kolbe, Guardian von Niepokalanów und Auschwitzhäftling Nr. 16 670, Union Verlag, Berlin 1984, 2. Auflage.

 

 

... als Herausgeberin:

 

Sprichwörterbücher:

 

* Aus Tränen baut man keinen Turm, ein kaukasischer Spruchbeutel, Weisheiten der Adygen, Dagestaner und Osseten, Eulenspiegel Verlag Berlin in zwei Auflagen (1983 und 1985), von mir übersetzt und herausgegeben, illustriert von Wolfgang Würfel.

* Dein Freund ist dein Spiegel, ein Sprichwörter-Büchlein mit 111 Sprichwörtern der Adygen, Dagestaner Kalmyken, Karakalpaken, Karelier, Osseten, Tschuktschen und Tuwiner, von mir gesammelt und zusammengestellt, mit einer Vorbemerkung und ethnographischen Zwischentexten versehen, die Illustrationen stammen von Karl Fischer, die Gestaltung von Horst Wustrau, Herausgeber ist die Redaktion FREIE WELT, Berlin 1986.

 * Liebe auf Russisch, ein in Leder gebundenes Mini-Bändchen im Schuber mit Sprichwörtern zum Thema „Liebe“, Buchverlag Der Morgen, Berlin 1990, von mir (nach einer Interlinearübersetzung von Gertraud Ettrich) in Sprichwortform gebracht, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen, illustriert von Annette Fritzsch.

Aphorismenbuch:

* 666 und sex mal Liebe, Auserlesenes, 2. Auflage, Mitteldeutscher Verlag Halle/Leipzig, 200 Seiten mit Vignetten und Illustrationen von Egbert Herfurth.

 

... als Mitautorin:

 

Kinderbücher:

 

* Warum? Weshalb? Wieso?, Ein Frage-und-Antwort-Buch für Kinder, Band 1 bis 5, Herausgegeben von Carola Hendel, reich illustriert, Verlag Junge Welt, Berlin 1981 -1989.

 

Sachbuch:

 

* Die Stunde Null, Tatsachenberichte über tapfere Menschen in den letzten Tagen des zweiten Weltkrieges, Hrsg. Ursula Höntsch, Verlag der Nation 1966.

 

* Kuratorium zur kulturellen Unterstützung deutscher Minderheiten im Ausland e. V., Herausgegeben von Leonhard Kossuth unter Mitarbeit von Gotthard Neumann, Nora Verlag 2008.

 

 

... als Verantwortliche Redakteurin:

 

* Leben mit der Erinnerung, Jüdische Geschichte in Prenzlauer Berg, Edition  Hentrich, Berlin 1997, mit zahlreichen Illustrationen.

 

* HANDSCHLAG, Vierteljahreszeitung für deutsche Minderheiten im Ausland, Herausgegeben vom Kuratorium zur kulturellen Unterstützung deutscher Minderheiten im Ausland e. V., Berlin 1991 - 1993.

 

 

Die erste Ausgabe von HANDSCHLAG liegt vor. Von links: Dr. Gotthard Neumann, Leonhard Kossuth (Präsident), Horst Wustrau (Gestalter von HANDSCHLAG), Gisela Reller, Dr. Erika Voigt (Mitarbeiter des Kuratoriums zur kulturellen Unterstützung deutscher Minderheiten im Ausland e. V.).

Foto aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

 

 

 

Pressezitate (Auswahl)  zu Gisela Rellers Buchveröffentlichungen:

Dieter Wende in der „Wochenpost“ Nr. 15/1985:

„Es ist schon eigenartig, wenn man in der Wüste Kysyl-Kum von einem Kamelzüchter gefragt wird: `Kennen Sie Gisela Reller?´ Es ist schwer, dieser Autorin in entlegenen sowjetischen Regionen zuvorzukommen. Diesmal nun legt sie mit ihrem Buch Von der Wolga bis zum Pazifik Berichte aus Kalmykien, Tuwa und von der Insel Sachalin vor. Liebevolle und sehr detailgetreue Berichte auch vom Schicksal kleiner Völker. Die ethnografisch erfahrene Journalistin serviert Besonderes. Ihre Erzählungen vermitteln auch Hintergründe über die Verfehlungen bei der Lösung des Nationalitätenproblems.“

B(erliner) Z(eitung) am Abend vom 24. September 1981:

"Gisela Reller, Mitarbeiterin der Illustrierten FREIE WELT, hat autonome Republiken und Gebiete kleiner sowjetischer Nationalitäten bereist: die der Burjaten, Adygen und Karelier. Was sie dort ... erlebte und was Heinz Krüger fotografierte, ergíbt den informativen, soeben erschienenen Band Zwischen Weißem Meer und Baikalsee."

Sowjetliteratur (Moskau)Nr. 9/1982:

 "(...) Das ist eine lebendige, lockere Erzählung über das Gesehene und Erlebte, verflochten mit dem reichhaltigen, aber sehr geschickt und unaufdringlich dargebotenen Tatsachenmaterial. (...) Allerdings verstehe ich sehr gut, wie viel Gisela Reller vor jeder ihrer Reisen nachgelesen hat und wie viel Zeit nach der Rückkehr die Bearbeitung des gesammelten Materials erforderte. Zugleich ist es ihr aber gelungen, die Frische des ersten `Blickes´ zu bewahren und dem Leser packend das Gesehene und Erlebte mitzuteilen. (...) Es ist ziemlich lehrreich - ich verwende bewusst dieses Wort: Vieles, was wir im eigenen Lande als selbstverständlich aufnehmen, woran wir uns ja gewöhnt haben und was sich unserer Aufmerksamkeit oft entzieht, eröffnet sich für einen Ausländer, sei es auch als Reisender, der wiederholt in unserem Lande weilt, sozusagen in neuen Aspekten, in neuen Farben und besitzt einen besonderen Wert. (...) Mir gefällt ganz besonders, wie gekonnt sich die Autorin an literarischen Quellen, an die Folklore wendet, wie sie in den Text ihres Buches Gedichte russischer Klassiker und auch wenig bekannter nationaler Autoren, Zitate aus literarischen Werken, Märchen, Anekdoten, selbst Witze einfügt. Ein treffender während der Reise gehörter Witz oder Trinkspruch verleihen dem Text eine besondere Würze. (...) Doch das Wichtigste im Buch Zwischen Weißem Meer und Baikalsee sind die Menschen, mit denen Gisela Reller auf ihren Reisen zusammenkam. Unterschiedlich im Alter und Beruf, verschieden ihrem Charakter und Bildungsgrad nach sind diese Menschen, aber über sie alle vermag die Autorin kurz und treffend mit Interesse und Sympathie zu berichten. (...)"

Neue Zeit vom 18. April 1983:

„In ihrer biographischen Skizze über den polnischen Pater Maksymilian Kolbe schreibt Gisela Reller (2. Auflage 1983) mit Sachkenntnis und Engagement über das Leben und Sterben dieses außergewöhnlichen Paters, der für den Familienvater Franciszek Gajowniczek freiwillig in den Hungerbunker von Auschwitz ging.“

Der Morgen vom 7. Februar 1984:

„`Reize lieber einen Bären als einen Mann aus den Bergen´. Durch die Sprüche des Kaukasischen Spruchbeutels weht der raue Wind des Kaukasus. Der Spruchbeutel erzählt auch von Mentalitäten, Eigensinnigkeiten und Bräuchen der Adygen, Osseten und Dagestaner. Die Achtung vor den Alten, die schwere Stellung der Frau, das lebensnotwendige Verhältnis zu den Tieren. Gisela Reller hat klug ausgewählt.“

1985 auf dem Solidaritätsbasar auf dem Berliner Alexanderplatz: Gisela Reller (vorne links) verkauft ihren „Kaukasischen Spruchbeutel“ und 1986 das extra für den Solidaritätsbasar von ihr herausgegebene Sprichwörterbuch „Dein Freund ist Dein Spiegel“.

Foto: Alfred Paszkowiak

 Neues Deutschland vom 15./16. März 1986:

"Vor allem der an Geschichte, Bräuchen, Nationalliteratur und Volkskunst interessierte Leser wird manches bisher `Ungehörte´ finden. Er erfährt, warum im Kaukasus noch heute viele Frauen ein Leben lang Schwarz tragen und was es mit dem `Ossetenbräu´ auf sich hat, weshalb noch 1978 in Nukus ein Eisenbahnzug Aufsehen erregte und dass vor Jahrhunderten um den Aralsee fruchtbares Kulturland war, dass die Tschuktschen vier Begriff für `Freundschaft´, aber kein Wort für Krieg besitzen und was ein Parteisekretär in Anadyr als notwendigen Komfort, was als entbehrlichen Luxus ansieht. Großes Lob verdient der Verlag für die großzügige Ausstattung von Diesseits und jenseits des Polarkreises.“

 

 Gisela Reller während einer ihrer über achthundert Buchlesungen in der Zeit von 1981 bis 1991.

Foto aus: Rellers Völkerschafts-Archiv

 

Berliner Zeitung vom 2./3. Januar 1988:

„Gisela Reller hat klassisch-deutsche und DDR-Literatur auf Liebeserfahrungen durchforscht und ist in ihrem Buch 666 und sex mal Liebe 666 und sex mal fündig geworden. Sexisch illustriert, hat der Mitteldeutsche Verlag Halle alles zu einem hübschen Bändchen zusammengefügt.“

Neue Berliner Illustrierte (NBI) Nr. 7/88:

„Zu dem wohl jeden bewegenden Thema finden sich auf 198 Seiten 666 und sex mal Liebe mannigfache Gedanken von Literaten, die heute unter uns leben, sowie von Persönlichkeiten, die sich vor mehreren Jahrhunderten dazu äußerten.“

Das Magazin Nr. 5/88.

"`Man gewöhnt sich daran, die Frauen in solche zu unterscheiden, die schon bewusstlos sind, und solche, die erst dazu gemacht werden müssen. Jene stehen höher und gebieten dem Gedenken. Diese sind interessanter und dienen der Lust. Dort ist die Liebe Andacht und Opfer, hier Sieg und Beute.´ Den Aphorismus von Karl Kraus entnahmen wir dem Band 666 und sex mal Liebe, herausgegeben von Gisela Reller und illustriert von Egbert Herfurth."

 

Schutzumschlag zum „Buch 666 und sex mal Liebe“ .

Zeichnung: Egbert Herfurth

 

FÜR DICH, Nr. 34/89:

 

"Dem beliebten Büchlein 666 und sex mal Liebe entnahmen wir die philosophischen und frechen Sprüche für unser Poster, das Sie auf dem Berliner Solidaritätsbasar kaufen können. Gisela Reller hat die literarischen Äußerungen zum Thema Liebe gesammelt, Egbert Herfurth hat sie trefflich illustriert."

Messe-Börsenblatt, Frühjahr 1989:

"Die Autorin – langjährige erfolgreiche Reporterin der FREIEN WELT - ist bekannt geworden durch ihre Bücher Zwischen Weißem Meer und Baikalsee und Diesseits und jenseits des Polarkreises. Diesmal schreibt die intime Kennerin der Sowjetunion in ihrem Buch Von der Wolga bis zum Pazifik über die Kalmyken, Tuwiner und die Bewohner von Sachalin, also wieder über Nationalitäten und Völkerschaften. Ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird uns in fesselnden Erlebnisberichten nahegebracht."

Im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel schrieb ich in der Ausgabe 49 vom 7. Dezember 1982 unter der Überschrift „Was für ein Gefühl, wenn Zuhörer Schlange stehen“:

„Zu den diesjährigen Tagen des sowjetischen Buches habe ich mit dem Buch Zwischen Weißem Meer und Baikalsee mehr als zwanzig Lesungen bestritten. (…) Ich las vor einem Kreis von vier Personen (in Klosterfelde) und vor 75 Mitgliedern einer DSF-Gruppe in Finow; meine jüngsten Zuhörer waren Blumberger Schüler einer 4. Klasse, meine älteste Zuhörerin (im Schwedter Alten- und Pflegeheim) fast 80 Jahre alt. Ich las z.B. im Walzwerk Finow, im Halbleiterwerk Frankfurt/Oder, im Petrolchemischen Kombinat Schwedt; vor KIM-Eiersortierern in Mehrow, vor LPG-Bauern in Hermersdorf, Obersdorf und Bollersdorf; vor zukünftigen Offizieren in Zschopau; vor Forstlehrlingen in Waldfrieden; vor Lehrlingen für Getreidewirtschaft in Kamenz, vor Schülern einer 7., 8. und 10 Klasse in Bernau, Schönow und Berlin; vor Pädagogen in Berlin, Wandlitz, Eberswalde. - Ich weiß nicht, was mir mehr Spaß gemacht hat, für eine 10. Klasse eine Geographiestunde über die Sowjetunion einmal ganz anders zu gestalten oder Lehrern zu beweisen, dass nicht einmal sie alles über die Sowjetunion wissen – was bei meiner Thematik – `Die kleinen sowjetischen Völkerschaften!´ – gar nicht schwer zu machen ist. Wer schon kennt sich aus mit Awaren und Adsharen, Ewenken und Ewenen, Oroken und Orotschen, mit Alëuten, Tabassaranern, Korjaken, Itelmenen, Kareliern… Vielleicht habe ich es leichter, Zugang zu finden als mancher Autor, der `nur´ sein Buch oder Manuskript im Reisegepäck hat. Ich nämlich schleppe zum `Anfüttern´ stets ein vollgepacktes Köfferchen mit, darin von der Tschuktschenhalbinsel ein echter Walrosselfenbein-Stoßzahn, Karelische Birke, burjatischer Halbedelstein, jakutische Rentierfellbilder, eskimoische Kettenanhänger aus Robbenfell, einen adygeischen Dolch, eine karakalpakische Tjubetejka, der Zahn eines Grauwals, den wir als FREIE WELT-Reporter mit harpuniert haben… - Schön, wenn alles das ganz aufmerksam betrachtet und behutsam befühlt wird und dadurch aufschließt für die nächste Leseprobe. Schön auch, wenn man schichtmüde Männer nach der Veranstaltung sagen hört: `Mensch, die Sowjetunion ist ja interessanter, als ich gedacht habe.´ Oder: `Die haben ja in den fünfundsechzig Jahren mit den `wilden´ Tschuktschen ein richtiges Wunder vollbracht.´ Besonders schön, wenn es gelingt, das `Sowjetische Wunder´ auch denjenigen nahezubringen, die zunächst nur aus Kollektivgeist mit ihrer Brigade mitgegangen sind. Und: Was für ein Gefühl, nach der Lesung Menschen Schlange stehen zu sehen, um sich für das einzige Bibliotheksbuch vormerken zu lassen. (Schade, wenn man Kauflustigen sagen muss, dass das Buch bereits vergriffen ist.) – Dank sei allen gesagt, die sich um das zustande kommen von Buchlesungen mühen – den Gewerkschaftsbibliothekaren der Betriebe, den Stadt- und Kreisbibliothekaren, den Buchhändlern, die oft aufgeregter sind als der Autor, in Sorge, `dass auch ja alles klappt´. – Für mich hat es `geklappt´, wenn ich Informationen und Unterhaltung gegeben habe und Anregungen für mein nächstes Buch mitnehmen konnte.“

Die Rechtschreibung der Texte wurde behutsam der letzten Rechtschreibreform angepasst.

 

Die KARELIER wurden am 18.11.2013 ins Netz gestellt. Die letzte Bearbeitung erfolgte am 14.12.2015.

Die Weiterverwertung der hier veröffentlichten Texte, Übersetzungen, Nachdichtungen, Fotos, Zeichnungen, Illustrationen... ist nur mit Verweis auf die Internetadresse www.reller-rezensionen.de gestattet - und mit korrekter Namensangabe des jeweils genannten geistigen Urhebers.

Zeichnung: Karl-Heinz Döhring