Belletristik REZENSIONEN

Es darf nicht sein, dass einen
niemand lieb hat...

Russin
Das Flüstern der Engel
Aus dem Russischen von Hannelore Umbreit
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1999, 197 S.

Ljolka (Ljolja, Ljoljetschka, Ljoljenka) lebt bei ihrer Großtante Gruscha und ihrem Großonkel Kirscha in einem Vorort von St. Petersburg. "Du bist mein Trost", sagt Tante Gruscha, "Und du meiner", antwortet Ljolka. Das ist der Code der großen gegenseitigen Liebe zwischen der alten Tante Gruscha und der kleinen Ljolka. Der Grund für des Mädchens Anlehnungsbedürfnis ist klar: Ihre Mutter - das sind die ständig trippelnden grünen Hausschuhchen, die nicht zur Ruhe kommen - hat ihr Kind der eigenen Selbstverwirklichung wegen "weitergereicht". Warum aber Tante Gruscha diese Liebesbestätigung, diesen Trost, immer wieder braucht, erfährt die kleine Ljolka - und der Leser - erst fast am Ende des Buches. Allerdings ist dieses Geheimnis zwischen Tante Gruscha und Onkel Kirscha so banal (dargestellt), dass es des Romans nicht bedurft hätte...

Die Handlung der sonst sehr lesenswerten Geschichte wird von der Hauptheldin Ljolka getragen, ist aus ihrer Sicht in der Ich-Form geschrieben. Ljolka ist klug, kindlich-raffiniert, ihrem Alter weit voraus. Sie ist neugierig, beobachtet alles haargenau, hat eine sehr reiche Phantasie. Es macht Spaß, die von ihr innig geliebten Zieheltern und die ganze Umwelt aus ihrer Sicht zu betrachten. Doch die vierjährige Ljolka ist nicht nur intelligent, sondern oft geradezu eine kleine Intelligenzbestie. Sagt, denkt eine Vierjährige: "Ich hatte in seinen Falten das hoffnungslose Gittergeflecht des Alters erblickt." Oder: "In diesem Zimmer gibt es drei Gründe für Tränen." Oder: "Auf dem Umschlag ist eine Multiplikationstabelle abgebildet." Es erweist sich als gar nicht so einfach, ein ganzes Buch überzeugend aus der Sicht eines Vorschulkindes zu schreiben...

Geschrieben hat die vierundzwanzigjährige Jekaterina Sadur - die am Moskauer Gorki-Literatur-Institut studierte - ihre Geschichte von November 1996 bis Januar 1997. Aber wann spielt sie? Einerseits stellt die Autorin eine rasante Veränderung in der russischen Gesellschaft (nach dem Zerfall der Sowjetunion?) dar, andererseits bezahlt Ljolka für ihren Englischunterricht drei Rubel... Drei Rubel - dafür konnte man schon 1991 nicht mal mehr eine Schachtel Streichhölzer kaufen... Unvorstellbar auch, dass zu alten Sowjetzeiten eine so brutale Gang von Jugendlichen ungestraft davon gekommen wäre. Nur im heutigen chaotischen Russland ist es denkbar, dass ihr brutaler Mord - die verwahrlosten Jugendlichen machen Onkel Kirscha betrunken und lassen ihn barfuss auf Glasscherben tanzen - ungesühnt bleibt.

Das Flüstern der Engel - ein abwegiger Titel für dieses Buch - hat Jekaterina Sadur ihrer Urgroßmutter gewidmet. Augenfällig ist die innige Beziehung der jungen Autorin zum Alter. Auch in ihrer Erzählung "Das Fest der alten Frauen am Meer" war mir die liebevolle Hinwendung zu alten Menschen schon aufgefallen.

Jekaterina Sadurs Mutter ist die in Russland hochgeschätzte Schriftstellerin Nina Sadur, von einem Vater ist nirgendwo die Rede. Eine Schlüsselszene des Buches scheint mir diese: Ljolka beobachtete, wie Tante Gruscha dem Dieb Pascha ein Mohnbrötchen zusteckte und ihm über den Kopf strich. "Iss nur, Kleiner", sagte sie. Ljolka ist empört und stellt die Tante zur Rede. Die Tante verteidigt sich, dass den kleinen Rowdy doch sonst niemand lieb haben würde, und das ginge doch nicht. Ljolka staunt: Es durfte also nicht sein, dass einen niemand lieb hat...?

Der in russischer Literatur ungeübte Leser - mit den Verkleinerungs- und Zärtlichkeitsformen der russischen Vornamen nicht vertraut - wird es schwer haben, z. B. zu erkennen, dass Natalja Andrejewna, Natka, Natalie, Natotschka... ein und dieselbe Person ist. Ganz am Schluss des Buches erst hat sich der Verlag zu einem aufklärenden Namensverzeichnis entschlossen, leider ohne schon im vorderen Teil des Buches darauf hinzuweisen.

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

Am 18.01.2002 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 24.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

Ist Korn da, findet sich auch ein Maß.
Sprichwort der Russen

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