Belletristik REZENSIONEN

Zehn von mehr als dreihundert...

Litauerin
Von diesen Träumen ganz verschiedene
Zehn litauische Gegenwartsautoren und ihre literarische Prosa
ATHENA-Verlag, Oberhausen 2002, 139 S.

Diese Anthologie ist im ATHENA-Verlag der 7. Band innerhalb der Reihe "Bücher aus Litauen". Viele Bücher wurden in der DDR aus dem Litauischen übersetzt, wenige in den alten Bundesländern. Da überhaupt litauische Literatur außerhalb Litauens noch ziemlich unbekannt ist, haben der litauische Schriftsteller Antanas Galius sowie die Verleger Lilita Varanavičenė und Saulius Žukas 1998 die Gründung der "Bücher aus Litauen" angeregt, einer Institution, die sich die Förderung der Litauischen Literatur im Ausland zum Ziel gesetzt hat. Dazu bietet sie Information, Vermittlung und Beratung an und finanziert literarische Übersetzungen aus dem Litauischen in andere Sprachen; ausländische Verlage können sich um Fördermittel bewerben. Im ATHENA-Verlag erschienen bereits an die zehn "Bücher aus Litauen". Und vier Jahre nach Umsetzung dieser Idee ist Litauen schon Länderschwerpunkt der Frankfurter Buchmesse 2002.

In der Anthologie Von diesen Träumen ganz verschiedene werden zehn zeitgenössische litauische Schriftsteller in kurzen Essays und mit Textauszügen aus ihren Werken vorgestellt. Zehn Schriftsteller von heutzutage mehr als dreihundert in Litauen registrierten Autoren! Da ist klar, dass diese Anthologie nur einen kleinen Ausschnitt aus der eigentümlichen, reichen und vielgestaltigen litauischen Literaturszene zeigen kann.

Als die Großen Drei gelten in Litauen Ričardas Gavelis (geboren 1950), Jurga Ivanauskaitė (geboren 1961) und Jurgis Kunčinas (geboren 1947).Von Ričardas Gavelis ist sein Erzählband "Friedenstaube" 2001 in deutscher Übersetzung erschienen. Sein ehrgeiziger und vielschichtiger Roman "Vilniaus pokeris" (Vilniusser Poker) erschien 1989, bisher nur auf litauisch - von der Kritik als "literarische Bombe" gefeiert. In der Anthologie ist ein Textauszug des Romans in deutscher Übersetzung von Klaus Berthel abgedruckt. Anlässlich des Berliner Internationalen Literaturfestivals im September 2002 sollte Gavelis aus seiner "Friedenstaube" lesen; ich hatte schon meine Pressekarte. Aber: Er verstarb am 18. August 2002 im Alter von zweiundfünfzig Jahren. Klaus Berthel schrieb kurz vor seinem Tod: "Er gilt als der entschiedenste Verfechter des Denkens und Fühlens einer postmodernen Epoche in der litauischen Prosa, der es sich zum Ziel gesetzt hat, das tradierte Erzählen grundsätzlich zu erneuern, die provinzielle Abgeschiedenheit der litauischen Literatur zu überwinden, sich in den Kontext der Weltkultur zu integrieren." - Jurga Ivanauskaitė wurde bekannt durch ihr Buch "Die Regenhexe". Sie gilt mit diesem Roman als Schöpferin einer neuen feministisch orientierten Literatur. In der Anthologie Von diesen Träumen ganz verschiedene finden wir allerdings einen Auszug aus ihrem Reisebericht "Eine Reise nach Shambala" (1997). Hier sind Reiseeindrücke beschrieben, verbunden mit historischem Material, das die wichtigsten buddhistischen religiösen Doktrinen darlegt und Berührungspunkte sucht zwischen der alten tibetischen Kultur und den Werten der westlichen  Welt; Jurga Ivanauskaitė ist zum buddhistischen Glauben übergetreten. - Der Dritte im Bunde der Großen Drei  ist Jurgis Kunčinas, der erst Anfang der achtziger Jahre begann, Romane zu schreiben; zuvor debütierte er als Lyriker. Seine Prosa ist eher durchsetzt von Humor und Ironie als die von Gavelis und Ivanauskaitė und trägt oftmals ausgeprägte autobiographische Züge, die zumeist aus seinen Erfahrungen während der Sowjetzeit herrühren. In seinem Roman "Mobile Röntgenstationen" (Einen Textauszug bringt diese Anthologie.) treffen die alten Zeiten auf einen oft rüden Kapitalismus und die Paradoxien der Weltzivilisation. Sehr humorvoll geschrieben, habe ich mich vielmals amüsiert, da ich als DDR-Bürgerin doch vieles ähnlich erlebte. Jurgis Kunčinas hat mir zur Frankfurter Buchmesse viel über sein kompliziertes Leben während der Zeit der Sowjetmacht erzählt. Am 13. Dezember 2002 ist er ganz plötzlich gestorben, von den Großen Drei ist Jurga Ivanauskaitė übrig geblieben.

Ferner wurden von den Herausgebern für ihre Anthologie ausgewählt: Juozas Aputis (geboren 1936), dessen Erzählungen, Novellen und Romane vorrangig das Leben auf dem Lande schildern, hier vertreten mit einem Textauszug aus seinem Roman "Auf sandigem Grund kann man nicht stehen"; der Prosaschriftsteller und Dramaturg Romualdas Granauskas (geboren 1939) mit einem Auszug aus seiner Erzählung "Mit einem Schmetterling auf den Lippen"; der Poet, Prosaautor und Maler Leonardas Gutauskas (geboren 1938) mit einem Auszug aus seinem Roman "Briefe aus Viešvilė" in dem auch ein erschütterndes Licht auf die unmenschlichen Zustände in der damaligen sowjetischen Psychiatrie fällt; der junge Prosaschriftsteller und Dramaturg Marius Ivaškevičius (geboren 1973) mit einem Auszug aus seinem experimentellen Roman "Geschichte aus der Wolke", der sich mir allerdings trotz bestem Willen nicht erschließt. Da tröstet, wenn Elena Bukelienė über das "in jeder Hinsicht originelle und ambitionierte Werk" sagt, dass dessen "symbolischer und metaphorischer Gehalt nicht leicht zu entziffern ist, für Ausländer, die nicht mit der litauischen Historie vertraut sind, ohnehin nicht"; die sozial engagierte Vanda Juknaitė (geboren 1949), die als Sozialpädagogin vorrangig mit obdachlosen und verwahrlosten Straßenkindern arbeitet. Ihre Erzählung "Land aus Glas" handelt vom "schmerzhaften Schicksal einer Frau, ihrem stoischen Durchhaltewillen, ihrem Schmerz und Tod besiegenden Lebensmut", schreibt Herausgeber Berthel, im ausgewählten Textauszug findet sich von alledem nichts...; Herkus Kunčius (geboren 1965), der mit seiner grotesken, nihilistischen Prosa in der litauischen Literatur eine Sonderstellung einnimmt, mit einem Auszug aus seinem Roman "Asche am Huf des Esels" über einen erfolgreichen Scharfrichter mit grausamen Folterszenen; mit Renata Serelytė (geboren 1970) mit einem Auszug aus ihrem Roman "Sterne der Eiszeit", deren Helden auf dem Lande geboren wurden und dann zum Studium nach Vilnius gehen.

Natürlich ist die Auswahl für diese Anthologie subjektiv - wie kann es anders sein. Aber die Bandbreite der litauischen Literatur aufzuzeigen, dieses Ziel ist erreicht. Und so reicht das Spektrum von der Dorfprosa des Aputis und der sozial engagierten Prosa Juknaitės´ über die provozierenden und grotesken Texte von Gavelis und Kunčius bis zu Ivaškevičius und Serelytė, zwei Vertretern der jungen Generation.

Natürlich hat die Literatur nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1990 nicht bei Null angefangen. Leonhard Kossuth, in der DDR dreißig Jahre lang der verantwortliche Lektor für die multinationale Literatur der Sowjetunion beim Berliner Verlag Volk und Welt, schreibt,  dass von 1954 bis 1987 in fünfzehn DDR-Verlagen neunundsechzig Einzelausgaben litauischer Autoren erschienen sind. Er nennt in seinem Buch Volk & Welt, Autobiographisches Zeugnis von einem legendären Verlag, Icchokas Meras, Justinas Marcinkevičius, Mykolas Sluckis, Eduardas Mieželaitis, Jonas Avyžius, Grigori Kanowitsch, Alfonsas Bieliauskas. Alle Autoren stehen (gelesen) in meiner Völkerschaftsbibliothek. Was ist aus ihnen, die schon in den sechziger/siebziger/achtziger Jahren debütierten, geworden? Außer von Icchokas Meras, dessen "Remis für Sekunden" vom Berliner Aufbau Taschenbuch Verlag 2001 mit der bewährten Übersetzung von Irene Brewing neu aufgelegt wurde. Haben die anderen Autoren die Kommerzialisierung des Buchmarktes, den Einbruch der Massen- und Unterhaltungsliteratur, den Statusverlust des Schriftstellers in einer gewandelten Mediengesellschaft nicht verkraftet? Hatten sie nichts mehr zu sagen? Andererseits waren sieben der in der Anthologie vorgestellten Autoren bereits in der Sowjetzeit literarisch tätig. Die aber waren in der DDR nicht erschienen! Auf das ebenfalls vom ATHENA-Verlag herausgegebene Buch "Literatur in Freiheit und Unfreiheit" von Vytantas Kubilius darf man also gespannt sein...

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de

Die in dieser Rezension gebrauchten, für das Deutsche ungewöhnlichen Buchstaben des litauischen Alphabets und ihre Aussprache:

          Č č = tsch wie bei Tschaikowski
          Ė ė = langes offenes e wie in lesen
          Š š = Sch wie in Schule
          Ū ū = langes u wie in Schuh
          Ž ž  =  j (sh) wie in Garage, Manege (bei Fremdwörtern aus dem Französischen)

 

Weitere Rezensionen  zu "Litauische Erzählungen, Geschichten, Kurzprosa":

  • Teodoras Četrauskas, Irgendwas, irgendwie, irgendwo. Ironische Stadtgeschichten.
  • Ričardas Gavelis, Friedenstaube. Sieben Wilnaer Geschichten.

Am 31.03.2004 ins Netz gestellt. Letzte Bearbeitung am 20.11.2019.

Das unterschiedliche Schreiben von Eigennamen ist den unterschiedlichen Schreibweisen der Verlage geschuldet.

  
Litauische Masken -
aus dem

Teufelsmuseum
in Kaunas.


 

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